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Neo-Biedermeier

Joachim Hirsch

Mit Biedermeier wird die Epoche zwischen dem Ende der napoleonischen Kriege und dem Revolutionsjahr 1848 bezeichnet. Nach dem Wiener Kongress im Jahre 1815 hatten die alten Mächte wieder die Oberhand in Europa gewonnen. Die Gründung der „Heiligen Allianz“ befestigte die feudale Ordnung und mit den Karlsbader Beschlüssen wurde die Restaurationszeit eingeleitet, gekennzeichnet durch eine massive Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten. Die Hoffnungen, die sich mit der französischen Revolution von 1789 verbunden hatten, waren enttäuscht und zerschlagen. In diesem Klima vollzog sich in der bürgerlichen Gesellschaft eine kulturelle Wende, die durch einen Rückzug ins Private, in die Familienidylle und häusliche Gemütlichkeit gekennzeichnet war. Das drückte sich in der Malerei, etwa bei Spitzweg, in der Wohnungseinrichtung und in der Kleidermode aus. Nach dem eher sachlichen Stil des Empire wurden wieder sehr unbequeme Korsetts und auslandende Reifröcke getragen. Männer trugen Bärte, Dandyfrisuren und Zylinder, das Reich der Frauen wurde auf Haus und Kinder beschränkt, patriarchale Familienverhältnisse und die Rolle der Frau als Mutter wurden zu einem allgemeinen Muster und beherrschten nicht mehr nur die bürgerliche Kultur, sondern breiteten sich auch im Proletariat aus. Die Spielzeugindustrie erlebte ihren ersten Aufschwung.

Natürlich wiederholt sich die Geschichte nicht, aber es gibt recht beeindruckende Parallelen zur heutigen Zeit. Ausgehend von der Studierendenbewegung gab es in den Jahren nach 1968 zwar keine politische, sehr wohl aber eine kulturelle Revolution, die das in der restaurativen Nachkriegszeit etablierte Wertesystem in Frage stellte. Die Frauenbewegung begann, die überkommenen Geschlechterverhältnisse umzustoßen, Willy Brands „mehr Demokratie wagen“ drückte eine allgemeine Stimmung aus, die feudale Ordnung der Hochschulen wurde zerschlagen, es gab Experimente mit alternativen Produktions- und Lebensformen und die Ökologiebewegung stellte die Kritik der herrschenden kapitalistischen Naturverhältnisse auf die gesellschaftliche Tagesordnung.

Dieser kulturrevolutionäre Frühling währte allerdings nur kurze Zeit. Die Ordinarienuniversität wurde nicht wirklich demokratisiert, sondern in eine bürokratische Ausbildungsmaschine verwandelt, radikal-demokratische Kritik am herrschenden liberal-repräsentativen System endete mit dem Einzug der GRÜNEN in die Parlamente und die sogenannten neuen sozialen Bewegungen verloren sowohl an Radikalität wie auch an Schwung. Ursache dafür waren nicht nur enttäuschte Hoffnungen auf rasche gesellschaftliche Veränderungen, sondern auch eine wachsende staatliche Repression. Die Berufsverbotspraxis zeigte ihre Wirkungen und der Sicherheitsstaat wurde Zug um Zug ausgebaut.

Ganz entscheidend für die gesellschaftliche Entwicklung wurde die ökonomische Krise des Nachkriegs-Fordismus ab der Mitte der siebziger Jahre, die das kurze „Zeitalter der Sozialdemokratie“ beendete und zum Ausgangspunkt für die neoliberale Kapitaloffensive, genannt „Globalisierung“, wurde. Hierzulande wurde die sozialdemokratisch geführte Regierung – wie auch in anderen Ländern und keinesfalls als Folge einer Wahl – durch eine konservativ-neoliberale abgelöst. Der Neoliberalismus war nicht nur ein ökonomisches, sondern ein umfassenderes gesellschaftspolitisches Projekt. Kanzler Kohl und seine intellektuellen Gehilfen propagierten eine „geistig-moralische Wende“, nachdem Thatcher und Reagan die neoliberale Offensive bereits eingeleitet hatten. Der damalige Bundespräsident Herzog stimmte mit seiner eben erst wieder so euphemistisch gefeierten „Ruck“-Rede in diesen Chor ein. Die Wende wurde durchaus erfolgreich durchgesetzt und mit der Politik der rot-grünen Regierung vollendet. Neoliberale Verhaltens- und Bewusstseinsformen – Konkurrenz, Marktindividualisierung, Selbstoptimierung – breiteten sich bis in die kleinesten gesellschaftlichen Verästelungen hinein aus. Kollektives Handeln wird dadurch erschwert. Im Zuge der Transformation zu einem wettbewerbsstaatlichen System verlor die liberale Demokratie ihre Inhalte und droht zur bloßen Formalität zu werden. Die kulturell-politische Restauration ging mit einer neuen ökonomischen Dynamik einher. Im 19. Jahrhundert markierte die Restaurationszeit den Beginn der industriekapitalistischen Entwicklung, im ausgehenden zwanzigsten ist mit ihr eine neue Etappe der kapitalistischen Durchdringung der Welt und der IT-gestützten Individualisierung verbunden.

Sozio-kulturelle Entwicklungen, wie sie das Biedermeier des 19. Jahrhunderts kennzeichnen, finden ihre Parallelen in der heutigen Zeit, wenn auch in modernisierter Form. Zur Modernisierung gehört auch, dass das Biedere, wenn nicht gar völlig Banales jetzt auf Englisch daherkommt. Es ist nicht mehr wie damals die Bourgeoisie, sondern vor allem die gewachsene Mittelschicht der besserverdienenden Angestellten, die den Rückzug ins Private praktiziert. Im Zentrum stehen der eigene Körper und seine Gesundheit. Davon zeugen der Boom der Fitnessstudios, die sich häufenden Ratgeber für gesundes Essen, die unzähligen Kochshows im Fernsehen, die Selbstüberwachung des Körpers mit Hilfe einer wachsenden Flut elektronischer Geräte. Die neue Fitnesswelle erinnert an den Turnvater Jahn und sein Wirken in der Biedermeierzeit, wenn auch die Wehrertüchtigung nicht mehr im Vordergrund steht. Die Frankfurter Turngemeine Bornheim schmückt sich mit der Losung „fresh, fit, fun and free“. Das „fromm“ vom damaligen „frisch, fromm, fröhlich, frei“ wurde also durch „fit“ ersetzt. Frömmigkeit ist nicht mehr so sehr gefragt. Stattdessen hält man es jetzt eher mit der Esoterik.

Die Kosmetikindustrie mit ihren Ratgebern hat Konjunktur, ganz abgesehen von der wachsenden Zahl von Schönheitsoperationen. Wenn diese Form der Selbstoptimierung gelingt, tritt in den Hintergrund, dass die Welt darum herum allmählich in die Brüche geht. Es ist nicht mehr wie noch wenigen Jahrzehnten die Frage, was am Privaten politisch ist, sondern das Private wird, transportiert über die sogenannten sozialen Medien, gewissermaßen weltöffentlich und zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine einigermaßen rational argumentierende politische Öffentlichkeit wird überlagert und verdrängt durch den sich im Internet produzierenden Stammtisch. Das Private wird nicht mehr als politisch aufgefasst, sondern verdrängt die Politik. Soziale Kontakte, die grundlegend sind für politisches Handeln werden ersetzt durch virtuelle „Freunde“.

Auch was die Mode angeht gibt es Parallelen. Die Männer tragen wieder gerne Bärte und frisieren sich dandyhaft, wenn sie auch keine Zylinder mehr aufsetzen. Die Frauen schmücken sich zwar nicht mehr mit Reifröcken und Korsetts, dafür aber mit extrem hochhackigen Schuhen, die ebenso unbequem sind und darüber hinaus Hilflosigkeit und damit ein traditionelles Geschlechterverhältnis suggerieren. Die Kleidermode wird beherrscht von Spitzen, netten Röckchen und volantverzierten Blüschen. Die Herrgottszwiebel der Buschschen „Frommen Helene“ auf dem Kopf verzeichnet eine ungeahnte Verbreitung. Auch Zöpfchen werden wieder getragen, am besten germanisch um das Haupt gewickelt. Dazu kommt, dass Familie und Kinder allenthalben zum wesentlichen Lebensinhalt werden. Das Spielzeug wird wieder verstärkt „gegendert“ ebenso wie die Bekleidung, die in Rosa und Blau geteilt wird. Heiraten ist mega in und die Hochzeitsmessen haben ebenso Zulauf wie die Heiratsmagazine einen Boom verzeichnen. Die Geburtenrate ist in den von der Mittelschicht bzw. der neuen Kleinbourgeoisie bewohnten Stadtteilen wie dem Frankfurter Nordendbeachtlich. Frau sitzt kinderhütend zwar nicht mehr stickend im Wohnzimmer, sondern mit dem Smartphone spielend im Café. Dass es Frauen gelungen ist, im Zuge diverser Gleichstellungsmaßnahmen in bescheidendem Umfang in höhere Positionen zu gelangen, ändert an der Restauration des Geschlechterverhältnisses wenig. Die „Gleichberechtigung“ wurde zwar institutionell und rechtlich weiter vorangetrieben, an den gesellschaftlichen Praktiken hat dies aber noch nicht allzu viel geändert. I

Wie im Biedermeier paart sich eine kulturelle Restauration mit einer ökonomisch-gesellschaftlichen Modernisierung. Im „postfeministischen“ Zeitalter sind auch die Geschlechterverhältnisse modernisiert worden, aber zugleich werden die alten Unterschiede neu belebt. Das hat einiges mit der neoliberalen Wende zu tun, in der die Werte von Gleichheit und Freiheit an Bedeutung gewonnen haben, um die herrschenden ökonomischen Verhältnisse zu bewahren. Die Arbeitskraft von Frauen wird auch außerhalb des Haushalts verstärkt gebraucht. Ähnliche Ungleichzeitigkeiten lassen sich auch in andern Bereichen feststellen: die Homosexualität wird – wenigstens in Politik und etablierter Öffentlichkeit – recht weitgehend anerkannt und seit einigen Jahren auch nicht mehr juristisch verfolgt. Gleichzeitig geht es auch beim Anspruch auf Anerkennung anderer als heterosexueller Lebensgemeinschaften zugleichum die Etablierung überkommener Familienverhältnisse, wie die Forderungen nach Legalisierung der Homo-Ehe und nach einem Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare zeigen.

In gewissem Sinne gehört auch der Aufschwung von Bewegungen wie Pegida oder von rechtspopulistischen Parteien in das neobiedermeierliche Szenario. Er verdankt sich zu einem guten Teil den Folgen der neoliberalen Offensive, gekennzeichnet durch Prekarisierung, Abstiegsängste und demokratischen Defiziten. Zugleich drückt sich auch hier die neue Sehnsucht nach (klein-) bürgerlicher Gemütlichkeit, die Ablehnung von allem Fremden und von Weltoffenheit aus.

Gilt das Spitzweg-Gemälde vom Sonntagsspaziergang als ausdrucksstarke Manifestation des Biedermeier, so ist es heute, die vegane, grün wählende und vollzeitstillende Familie auf dem Prenzlauer Berg, um eine recht treffende Bemerkung in einem „Streiflicht“ der Süddeutschen Zeitung zu zitieren. Die Biedermeierzeit des 19. Jahrhunderts hatte durchaus ihre Widersprüche. Sie war gleichzeitig auch die Epoche des revolutionären Vormärz, verbunden mit den Junghegelianern, Heine, Marx und vielen anderen. Von einer solchen Bewegung ist heute nichts mehr zu spüren. Bewegung findet, passend zur allgemeinen Restauration, vor allem auf rechtsradikaler Seite statt. Dabei böten gerade die neuen informationstechnischen Errungenschaften eigentlich ausgezeichnete Möglichkeiten für eine sogar länderübergreifende Kooperation emanzipativer Kräfte und eröffneten ganz neue Handlungsfelder.

© links-netz Januar 2017