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Linke Blindflecken

oder wie sollte eigentlich eine Politik in der Griechenlandfrage aussehen?

Joachim Hirsch

Inzwischen häufen sich im Internet die Griechenland-Aufrufe. Kaum eine linke Organisation, die auf sich hält, bleibt da außen vor. Anlass zur Kritik an der Politik der Troika, die neuerdings „Institutionen“ genannt wird, gibt es in der Tat mehr als reichlich. Offenkundig ist die nicht zuletzt von der deutschen Regierung durchgesetzte Sparpolitik selbst im Sinne ihrer Erfinder gescheitert. Sogar die neoliberale Kommentatorenriege im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung hält sie inzwischen für ein Desaster – eine etwas späte Einsicht. Ihre Kosten für die vielbeschworenen Steuerzahler (die von den „Rettungsaktionen“ profitierende Finanzindustrie hat ihre Schäfchen längst im Trockenen) sind höher als es eine vernünftige Stabilisierungsstrategie je verlangt hätte. Ihr einziger Erfolg ist, dass große Teile der griechischen Bevölkerung ins Elend geschickt wurden. Darüber hinaus ist kaum zu übersehen, dass die EU-Politik mit ihren Drohungen nicht zuletzt darauf abgezielt hat, die unliebsame linke Syriza-Regierung zu beseitigen. Europaparlamentspräsident Schulz hat das sogar offen ausgesprochen. Auch dies ist mit dem Referendum vom 5.7.15 erst mal schief gegangen. Ein Wechsel der herrschenden Politik ist überfällig, scheitert aber an einer Mischung von ideologischer Borniertheit und Abhängigkeit von den „Finanzmärkten“, die das Verhalten der beteiligten Regierungen kennzeichnet. Gerade deshalb ist es notwendig, immer wieder und nachhaltig in die politische Diskussion zu intervenieren, in der Hoffnung, es gäbe noch eine halbwegs funktionierende demokratische Öffentlichkeit. Dass die Presse sich hierzulande in Bezug auf die Griechenlandfrage praktisch selbst gleichschaltet, macht die Sache nicht leichter.

Das ist allerdings nur die eine Seite. Auf der anderen fällt auf, dass eine kritische Beschäftigung mit den inneren politischen und ökonomischen Zuständen in Griechenland in vielen Aufrufen und Erklärungen praktisch nicht stattfindet. Die Solidarität mit Syriza ist sozusagen unbedingt und erinnert an die etwas blauäugige Haltung, die früher zu diversen „nationalen Befreiungsbewegungen“ eingenommen wurde. Dabei ist kaum zu bestreiten, dass eine nicht ganz unwesentliche Ursache der Krise in den inneren Verhältnissen Griechenlands zu suchen ist: eine nur beschränkt funktionsfähige öffentliche Verwaltung, ein kaum intaktes Steuersystem, verbreitete Korruption und der damit verbundene Klientelismus, ein aufgeblähter Staatsapparat, der als Versorgungsstelle für Parteianhänger dient und nicht zuletzt die Macht der Oligarchen (z.B. steht die Steuerbefreiung der Reeder sogar in der Verfassung). Dass die griechische Wirtschaft international kaum konkurrenzfähig ist, stellt unter kapitalistischen Bedingungen ein Problem dar und ist die Folge einer Kräftekonstellation, die eine breiter angelegte und mit anderen Ländern vergleichbare ökonomische Entwicklung verhindert hat. Eigentlich hätte das Land nie in die Eurozone aufgenommen werden dürfen, weil dadurch Wechselkursanpassungen unmöglich geworden sind, die die internationalen ökonomischen Ungleichgewichte hätten halbwegs korrigieren können. Diese Probleme wurden bei der Einführung des Euro von allen Seiten ignoriert. Bei dem Frisieren der griechischen Statistiken hatte übrigens die einschlägig bekannte Firma Goldmann-Sachs geholfen, die nach wie vor als Beraterin tätig ist. Griechenland leidet ebenso unter dem Euro wie der „Exportweltmeister“ Deutschland davon profitiert. Es ist nicht zuletzt die innere deutsche Austeritätspolitik mit Lohnkürzungen und Sozialstaatsabbau, die eine Situation hervorgerufen hat, die die Weiterexistenz des Euro und inzwischen nun auch der EU insgesamt immer grundsätzlicher in Frage stellt. Das Problem der Eurozone ist also eher Deutschland als Griechenland. Eine Änderung der deutschen und europäischen Politik wäre also auch aus diesem Grunde unabdingbar, was aber in die entscheidenden Gremien noch nicht vorgedrungen zu sein scheint und vor allem von der hiesigen Regierung systematisch geleugnet wird.

Bei einer vernünftigen Politik in der Griechenlandkrise hätte man sich im Prinzip daran orientieren können, was mit (West-) Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg gemacht wurde: Schuldenschnitt und Marshallplan zwecks Wideraufbau der Ökonomie. Nach dem Ende des kalten Kriegs und der Blockkonfrontation gibt es dazu jedoch keine Veranlassung mehr. Die Folgen eines Schuldenerlasses für die Staatshaushalte, die inzwischen fast völlig für die Griechenlandschulden haften, wären gravierend, ganz abgesehen davon, was dann mit den Ländern des europäischen Südens passieren soll, die ähnliche Schuldenquoten aufweisen. Im Fall von Nachkriegs-Deutschland bestanden allerdings besondere Bedingungen: eine in ihren Grundstrukturen gut entwickelte und technologisch leistungsfähige Ökonomie, eine funktionierende öffentliche Verwaltung und eine Militärregierung, die auf die inneren Machtverhältnisse Einfluss nehmen konnte.

Damit stellen sich einige Fragen. Zunächst: wie ist es möglich, Griechenland ökonomisch und politisch zu reformieren, und zwar anders als nach den herrschenden neoliberalen Vorstellungen? Es ginge dabei nicht so sehr um Finanzen, sondern um eine Veränderung der gesamten Gesellschaftsstruktur. Klar ist, dass dies ein schwieriger und langwieriger Prozess sein würde, also einige Zeit notwendig wäre, in der weitere äußere Hilfen erforderlich wären. Aber welche politische Kraft in Griechenland wäre dazu bereit und vor allem in der Lage? Um dies zu beurteilen wäre es nützlich zu wissen, was Syriza eigentlich darstellt, ob sie mehr ist oder werden kann als ein Sammelbecken ganz unterschiedlicher Strömungen und Gruppierungen und daher fähig sein könnte, ein konkretes gesellschaftsveränderndes Programm zu entwickeln, bei dem auch gegen massive innere Interessenpositionen angegangen werden müsste. Der Ausgang des Referendums hat gezeigt, dass die Partei ihre bislang schwache parlamentarische Basis durchaus ausbauen könnte, wobei allerdings offen bleibt, inwieweit dies aussichtsreich ist, wenn nicht mehr nur gegen äußere Gegner mobilisiert werden kann. Immerhin hat Ministerpräsident Tsipras damit recht geschickt taktiert. Das Referendum im Rücken konnte er den von den EU-Regierungen, der EZB und dem IWF formulierten Sparauflagen zustimmen, die die Wähler zuvor abgelehnt hatten. Das geschah unter einem massiven Duck der „Geldgeber“, der in dem von Finanzminister Schäuble ins Spiel gebrachte „Grexit“ (angeblich auf Zeit, was immer das heißen sollte) gipfelte. Die Folgen eines Ausschlusses Griechenlands aus der Eurozone wären aller Voraussicht desaströs für das Land. Ob Schäubles Vorschlag (mit dem er übrigens keinesfalls allein stand) nur als Drohung benutzt wurden oder Teil einer Strategie war, muss vorerst offen bleiben. Ein Rauswurf wäre jedenfalls ein Signal für andere südeuropäische Länder gewesen, insbesondere für Spanien, wo demnächst Wahlen anstehen und ebenfalls eine linke Regierungsmehrheit droht. In den Sozialen Netzwerken macht in diesem Zusammenhang das Wort vom „Staatsstreich“ die Runde. Das ist wohl etwas hoch gegriffen, aber Griechenland wurde wesentlicher Souveränitätsrechte beraubt und hat inzwischen den Status eines EU-Protektorats.

Tsipras konnte dies und das Spardiktat nur dadurch durch das Parlament bringen, weil er die Unterstützung der Opposition gegen Teile der eigenen Partei hatte. Welche Folgen das für das griechische Parteiensystem hat, ist noch offen. Wenn es nun zu einer Fortführung der Kreditzusagen kommt, ist allerdings noch keines der grundlegenden Probleme gelöst. Dass ein Land finanziell und ökonomisch wieder auf die Beine kommen soll, dessen Wirtschaft kaputtgespart wird, wissen wahrscheinlich nicht einmal die Betreiber dieser Politik. Davon abgesehen gibt es aber noch eine grundsätzlichere Frage: Inwieweit ist es überhaupt möglich, mittels des (kapitalistischen) Staates eine Gesellschaft in ihren Grundstrukturen zu verändern? Manche linke Stellungnahmen, in denen ganz umstandslos auf eine politische Partei gesetzt wird, erwecken den Anschein, als sei die Staatsillusion hier immer noch wirksam. Zu solchen Veränderungen bedarf es nicht nur parlamentarischer Mehrheiten, sondern einer gesellschaftlichen Bewegung, für die es in Griechenland derzeit nur Ansätze gibt.

Dass sich die griechische Regierung, in der zudem noch eine rechtspopulistische Partei Koalitionspartner ist, also Schwierigkeiten hat, eine Reformprogramm zu entwickeln und durchzusetzen, das den Bedürfnissen der Bevölkerung Rechnung trägt und zudem eine längerfristige ökonomische und politische Perspektive eröffnet, kann nicht verwundern. Wenn aber darauf verzichtet wird, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, bedeutet dies das Gegenteil von Solidarität und weckt den Verdacht, die seit Jahrzehnten anhaltende Misere einfach fortschreiben zu wollen. Wenn über ein „Weiter so“ hinaus Alternativen zur herrschenden Politik nicht wenigstens angesprochen werden, handelt sich die Kritik ein Glaubwürdigkeitsproblem ein und droht zu verpuffen.

Zusammengefasst: Es ist richtig und dringend notwendig, die herrschende Politik der EU bzw. der Eurogruppe zu kritisieren und auf deren grundsätzlicher Veränderung zu bestehen. Genauso notwendig ist es aber, Griechenland selber in den Blick zu nehmen, kritisch, solidarisch und nicht zuletzt mit einer Hilfe, die von unten kommt und sich nicht in Deklarationen erschöpft.

© links-netz Juli 2015