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Brasilien:

Wie eine sozialdemokratische Arbeiterpartei Politik macht

Joachim Hirsch

Wenn einem angesichts der rot-grünen Regierungspolitik kaum mehr Ärger, sondern nur noch Zynismus übrig bleibt, bleibt zu bedenken, dass von den strukturellen Bedingungen her die Politik anderswo durchaus ähnliche Züge aufweist.

So zum Beispiel in Brasilien, einem Land, das für die Entwicklung des lateinamerikanischen Subkontinents eine wichtige Rolle spielt. Als vor knapp zwei Jahren Luiz Inácio „Lula“ da Silva von der linken Arbeiterpartei (partido dos trabalhadores, PT) zum Präsidenten gewählt wurde, verbanden sich damit nicht nur in Brasilien Hoffnungen, es könnte sich hier eine Alternative zu der auch in Lateinamerika dominierenden neoliberalen Politik entwickeln. Inzwischen ist einige Ernüchterung eingekehrt. Die Regierungspolitik erweist sich immer deutlicher als Eiertanz zwischen Parteiprogrammatik, Wahlversprechen und den Zwängen, in denen sich das hoch verschuldete Land mit seiner Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank befindet. Ein Beispiel dafür sind die Querelen um das Mindesteinkommen (salario minimo), die in den letzten Wochen die parlamentarischen und öffentlichen Debatten bestimmt haben.

Das salario minimo spielt in Brasilien eine wichtige Rolle, weil ein relativ großer Teil der Beschäftigten nicht mehr als dieses verdient. Es betrug bisher 240 RS, das sind umgerechnet etwa 70 Euro pro Monat. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass das Preisniveau in Brasilien etwa ein Drittel unter dem europäischen liegt, reicht das offensichtlich kaum zum Leben. Die Regierung wollte nun das salario minimo auf 260 RS erhöhen – was allerdings nicht viel mehr als einen Inflationsausgleich darstellt. Das Argument für diese geringe Anhebung war, dass die ökonomische Situation des Landes mehr nicht zulasse. Genau genommen hätte dies wohl einen Konflikt mit dem IWF nach sich gezogen, von dessen Kreditbereitschaft das Land abhängt. Nun fand die Opposition im Senat, unterstützt von einigen Dissidenten aus den Regierungsparteien, die Mehrheit für eine Erhöhung auf 275 Reais – bei den Oppositionsparteien natürlich weniger aus Rücksicht auf die arme Bevölkerung, sondern um der Regierung eins auszuwischen. Das gelang auch. Lula stand als „Verräter“ an den Interessen derer da, die ihn gewählt hatten und denen bessere Lebensbedingungen versprochen worden waren. Zwar gelang es der Regierung, durch viel Druck und einigen Kuhhandel am Ende eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus zu mobilisieren, die das Senatsvotum überstimmte, aber der politische Schaden ist unübersehbar. Bezeichnend ist im übrigen, dass sich Lula während der entscheidenden Abstimmung im Parlament in New York aufhielt, um die dort versammelten Vertretern des internationalen Kapitals von den wunderbaren Investitionsgelegenheiten in Brasilien zu überzeugen. Das gelang soweit sicherlich besser.

Eine Folge dieser Politik ist, dass die Umfragewerte für Lula derzeit im Tiefflug sind. Die Zustimmung zu ihm und seiner Politik liegt inzwischen unter 30 Prozent. Damit scheint sich eine Entwicklung anzudeuten, die auch andere sozialdemokratische Parteien erfahren. Gleichwohl gibt es, etwa im Vergleich mit Deutschland, einige Unterschiede. Einmal muss berücksichtigt werden, dass die ökonomische Zwangslage Brasiliens, also insbesondere die Abhängigkeit von den internationalen Finanzorganisationen, erheblich größer ist als etwa im Falle Deutschlands, dessen Bewegungsspielräume erheblich größer sind. Linke Intellektuelle aus dem Umkreis der PT sehen dies wohl, halten aber dennoch Lulas Politik – wohl mit einigem Recht – für zu zaghaft. Die Reaktionen aus der Parteibasis sind dementsprechend noch eher verhalten, auch wenn die PT, anders als die SPD, nicht einfach als Anhängsel der Regierung betrachtet werden kann. Selbst die Bewegung der Landlosen MST (movimento dos sem terra), die die wichtigste außerparlamentarische Kraft darstellt, verhält sich noch zurückhaltend. Ihr Sprecher kritisierte, dass Lulas Politik in Bezug auf die Einlösung der Wahlversprechen „zu langsam“ sei und kündigte „kreative“ Aktionen der Massenmobilisierung an. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das MST bezüglich der Erfolge einer linken Regierung von Anfang an skeptisch war. Jedenfalls bleibt die Unterstützung des MST für Lula vorerst bestehen. Massenmobilisierungen, insbesondere über den unmittelbaren Umkreis des MST hinaus, sind allerdings schwierig. Hier macht sich wieder einmal die Staatsillusion bemerkbar, d.h. der Glaube, Wahlen und staatliche Politik könnten von sich aus etwas Grundlegendes verändern.

Allerdings hat die brasilianische Politik auch andere Seiten. Erst einmal gefällt sie sich in symbolischen Aktionen, so etwa dem kürzlich eingeführten Visumzwang für US-BürgerInnen als Gegenmaßnahme gegen die diskriminierenden Visumbestimmungen der USA. Das führt dazu, dass in den Flughäfen besondere Abfertigungsschalter für Staatsangehörige der USA eingerichtet wurden. Kleine Hiebe gegen die USA sind in Brasilien, wie fast überall in Lateinamerika, immer populär. Aber es gibt Wichtigeres. Z.B. das Programm „fome zero“, das den ärmsten und vom Hunger bedrohten Teilen der Bevölkerung Hilfen in Form von Lebensmittelgutscheinen zur Verfügung stellt und – wenn auch unter Schwierigkeiten – allmählich anläuft. Unterschiede gibt es insbesondere auf Gebieten, die nicht unmittelbar dem Diktat des Weltmarkts und der internationalen Finanzorganisationen ausgesetzt sind. Auch dafür ein aktuelles Beispiel: Brasilien ist, wie andere auch, eine rassistische Gesellschaft. In der Öffentlichkeit fällt dies zwar weniger auf, und vor allem wird das öffentlich kaum diskutiert. Lula hat nach seinem Amtsantritt ein Ministerium zur Förderung der Rassengleichheit (Secretaria para o Promacao da Igualdade Racial) eingerichtet und damit diesem Problem sozusagen einen institutionellen Ausdruck verliehen. Eine der jüngsten Maßnahmen betrifft den Zugang zum Universitätsstudium. Das Studium an den staatlichen Universitäten Brasiliens kostet nicht viel, aber die Plätze sind beschränkt. Nun wurde festgelegt, dass Menschen schwarzer Hautfarbe einen Bonus erhalten, der ihre Zugangsmöglichkeiten verbessern soll. „Rassen“ lassen sich bekanntlich objektiv schlecht feststellen. Das Verfahren sieht deshalb so aus, dass alle diejenigen den Bonus erhalten, die sich selbst als „schwarz“ bezeichnen. Eine wirklich elegante Lösung.

Mit den strukturellen Zwängen des globalisierten Kapitalismus kann – je nach den in den verschiedenen Ländern herrschenden Kräfteverhältnissen – unterschiedlich umgegangen werden. Brasilien zeigt, dass dies eine ziemlich widersprüchliche und konfliktreiche Angelegenheit ist. Noch ist offen, wie sich die brasilianische Politik entwickeln wird, ob sie den Weg der Anpassung geht oder kalkulierte Konflikte wagt. Im Oktober finden landesweit Wahlen in den Einzelstaaten und Kommunen statt. Da wird sich zeigen, ob die Arbeiterpartei dasselbe Schicksal erleidet wie die SPD.

© links-netz Juli 2004