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Communismus anders denken

Joachim Hirsch

Es hat sich eingebürgert, den vielfach belasteten Begriff mit „C“ zu schreiben, wenn man etwas anderes im Auge hat als die im 20. Jahrhundert unter dem Namen „Kommunismus“ oder „Sozialismus“ angestellten Versuche, eine neue, freie und humane Gesellschaft zu errichten, die allesamt in einem Desaster geendet haben. Gleichzeitig sind Überlegungen dazu umso notwendiger, als der real existierende Kapitalismus nicht nur in eine fundamentale Krise geraten ist, sondern die Unhaltbarkeit der bestehenden gesellschaftlichen Zustände insgesamt immer offenkundiger wird. Dabei gilt es nicht nur, sich von linkem theoretischen und politischen Traditionsballast zu befreien, sondern auch zu Ansätzen kritisch Position zu beziehen, die sich auf dem Feld einer einigermaßen desorientierten Linken als eher kurzfristige Hypes erwiesen haben. Dazu gehören etwa Hardt/Negris „Empire“ und „Multitude“ oder neuerdings John Holloways „Kapitalismus aufbrechen“. Raul Zelik hat dazu ein kluges und informiertes Buch geschrieben, in dem er immerhin skizziert, wohin eine sich erneuernde und etwas weiter vorwärts denkende Linke sich orientieren müsste.

Sich an der Philosophie von Deleuze und Guattari orientierend argumentiert er, dass ein emanzipatorisches „communistisches“ Projekt zunächst damit umrissen werden müsse, was es nicht sei – also in klarer Abgrenzung zu all dem, was in der Geschichte unter diesem Namen gehandelt wurde (13). Und er versteht es im Sinne Ernst Blochs als konkrete Utopie, d.h. als den Versuch, das im Bestehenden nach vorne Weisende zu entdecken und weiterzuführen (16). Einigermaßen optimistisch geht er davon aus, dass gerade die Krise des Kapitalismus eine offene historische Situation erzeuge. Dies fordere besonders dazu auf, Möglichkeiten zu erkennen und Alternativen zu entwickeln.

Im ersten Teil des Bandes beschäftigt sich Zelik mit der aktuellen Situation. Er beschreibt den Charakter der Krise, die eben in mehrfacher Hinsicht nicht einfach nur eine „Finanzkrise“, sondern eine umfassende Krise der Gesellschaftsformation ist und setzt sich daran anschließend mit aktuell diskutierten Vorschlägen für eine andere Politik auseinander: dem Konzept einer „Wachstumsbeschränkung“ oder eines „Grünen New Deal“. Diesen hält er eine Verkennung eben dieses Krisenzusammenhangs vor, was sie schließlich zu einer „Politikberatung der naivsten Art“ werden ließen (26). Grundlegender Einwand ist, dass dabei das herrschende Produktions- und Konsummodell kaum in Frage gestellt wird.

Im Anschluss daran werden noch einmal die Gründe für das Scheitern des Staatssozialismus skizziert (29ff.). Das dazu Ausgeführte ist nicht neu, aber prägnant zusammengefasst. Zeliks Schlussfolgerung ist, dass in der Auseinandersetzung mit diesem Gesellschaftsmodell die abstrakte Entgegensetzung von Markt und Plan ebenso wenig weiter führe wie Versuche, Markt- und Planregulierung technisch zu verbinden, wie das in der Vergangenheit markt- und reformsozialistische Strömungen getan haben. Entscheidend sei vielmehr, dass sich die Gesellschaft in der Lage versetze, über die Arbeit und die Verteilung von Gütern und Ressourcen demokratisch zu entscheiden. Das ist sicher richtig und im demokratischen Defizit liegt zweifellos eine wesentliche Ursache für das Scheitern des „realen Sozialismus“. Allerdings beginnen damit die Probleme erst.

Ganz ausführlich setzt sich der Verfasser mit dem lateinamerikanischen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ auseinander, also mit den Ansätzen zu einem gesellschaftlichen Umbau, die in den letzten Jahren in Ecuador, Bolivien und Venezuela eingeleitet wurden (50ff.). Die Frage ist, inwieweit diese Ansätze emanzipatorische Perspektiven aufweisen. Hier unterscheidet sich Zeliks Sichtweise auf Grund seiner detaillierten Kenntnisse recht wohltuend von den ideologisch geprägten Zerrbildern, die sehr oft in den hiesigen Medien verbreitet werden. Dennoch fällt die Beurteilung äußerst skeptisch aus, weil es dort nur wenig Ansätze gäbe, die über den Kapitalismus und eine staatszentrierte Entwicklungspolitik hinauswiesen, also über politische Strategien, wie sie schon im vergangenen Jahrhundert praktiziert wurden. Charakteristisch und neu war in allen drei Ländern allerdings, dass der politische Bruch durch außer- und antiinstituionellen Widerstand hervorgerufen wurde, nicht von linken Parteien und Gewerkschaften, sondern von eher spontanen Bewegungen und Organisationsformen. Die Verknüpfung heterogener Handlungsimpulse und Subjektivitäten habe einen neuartigen kollektiven Akteur hervorgebracht. Allerdings gebe es eben dadurch deutliche Schwierigkeiten, tragfähigere Macht- und Entscheidungsstrukturen hervorzubringen. Diese neue Form der Mobilisierung füge sich kaum in das orthodox anarchistische oder rätekommunistische Bild. Der Staat ist für die neu entstandenen politisch-sozialen Netzwerke Gegner und Verbündeter zugleich. Er bleibt ein Herrschaftsapparat, der im Gegensatz zu emanzipatorischen Prozessen stehen muss und dennoch ist er Ausdruck einer Ablehnung bürgerlicher Repräsentationsformen ebenso wie neoliberaler Politik. Phasenweise haben Staaten gesellschaftliche Organisationsprozesse von unten unterstützt. Zelik erinnert in diesem Zusammenhang an Poulantzas, der den Staat als materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen und damit nicht als schlichten Repressionsapparat, sondern als Kampffeld begriffen hat. Dies impliziert eine Widersprüchlichkeit die z.B. bei Holloway ausgeblendet bleibt, der Emanzipationsprozesse nur gegen den Staat oder an ihm vorbei erkennen kann.

Die Tatsache, dass in Lateinamerika gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse am ehesten dort stattgefunden haben, wo es keine starken und sozusagen politik- und verwaltungstechnisch erfahrenen linken Parteien wie in Argentinien oder Brasilien gab, wertet Zelik als ein auch für die europäische Debatte wichtigen Hinweis darauf, dass es gerade nicht darum gehe, „Politikfähigkeit“ im Rahmen der herrschenden Verhältnisse unter Beweis zu stellen (74). Weiter sei aus diesen Erfahrungen zu lernen, dass erstens der Kollaps der politischen Systeme das Resultat von antiinstitutionellen Kämpfen war, die sich nicht auf das Feld militärischer Konfrontationen begaben und dass „die antiinstitutionell-institutionelle Verschränkung von Bruch, Kontinuität und Transformation durchaus weiterführende, revolutionäre Perspektiven aufzeigen kann“ (75). Zweitens: dass das Verhältnis von sozialen Bewegungen und Staat neu definiert werden müsse und dass eine Staatskritik zu kurz greife, die den Staat nur als Behinderung von Selbstorganisation begreife. Drittens gehe es um eine Auseinandersetzung mit dem Populismus, der (wohl nicht nur in Lateinamerika) sich stark über die subalterne Abgrenzung von den Eliten und der Gleichsetzung aller nichtprivilegierten Akteure konstituiere und damit bei all ihrer Widersprüchlichkeit ein emanzipatorisches hegemoniales Potential entfalten könne. So habe in Venezuela gerade die relative Unbestimmtheit des politischen Projekts und der Person Chavez zwar ein Problem dargestellt, weil durchaus unterschiedliche und oft gegensätzliche Interessen und Orientierungen sich darin wiederfinden konnten. Dies habe es aber es auch möglich gemacht, eine anti-neoliberale Hegemonie zu etablieren.

Nach dieser Einschätzung historischer und aktueller Emanzipationsansätze wendet sich Zelik möglichen weiterführenden Perspektiven zu. Das beginnt mit Überlegungen dazu, welche transformatorischen Potentiale die neuen Informations- und Datenverarbreitungstechnologien haben könnten: „Computer-Sozialismus“ also (81ff.). Äußerst skeptisch werden die Versuche eingeschätzt, mit deren Hilfe die Möglichkeit eines nicht waren- und geldförmigen Äquivalententauschs anzuvisieren. Die entscheidende Frage, „wie nämlich ein gesellschaftlicher Demokratisierungs- und Aneignungsprozess in Gang gesetzt und gegen sich neu formierende Führungseliten in Gang gehalten werden kann“, würde dadurch nicht gelöst (85). Technische Utopien dieser Art beschäftigen sich mit Organisationsstrukturen und nicht mit sozialen Prozessen, die deren Grundlage sein müssten. Für weiter führend hält er die von Immanuel Wallerstein, Giovanni Arrighi und David Harvey skizzierten Ansätze, die Emanzipation als einen dynamischen und sich nicht linear entwickelnden Prozess begreifen, der von unten getragen wird. Auch hier wird auf die Möglichkeiten zur Schaffung anderer, nicht-kapitalistischer Produktionsformen eingegangen, allerdings nicht in Gestalt technischer Organisationsmodelle.

Dreh- und Angelpunkt eines emanzipatorischen Projekts ist für Zelik die demokratische Frage und dabei die Möglichkeit einer Überwindung der strukturell beschränkten liberalen Demokratie, die in den vergangenen Jahrzehnten durch die neoliberale Offensive in gravierender Weise weiter ausgehöhlt worden ist (93ff.). Den Überlegungen der lateinamerikanischen Befreiungspädagogik wird dabei ein wichtiger Stellenwert eingeräumt (98ff.). Es komme allerdings nicht darauf an, aus der existierenden Krise der Repräsentation vorschnell institutionelle Auswege zu suchen, sondern „den sozialen Strom offen zu halten“ (101), neue soziale Praktiken zu finden. Dabei sei eine radikale Fortschrittskritik zentral. Ziel müsse nicht mehr Wachstum, Entwicklung und Fortschritt sein, sondern das „gute Leben“. Da Demokratisierung eng mit der Frage der Eigentumsverhältnisse verknüpft ist, gehe es dabei nicht zuletzt um einen Ausbau des Gemeineigentums, der „commons“. Dieser sei mit oppositionellen Aneignungspraktiken und neuen gesellschaftlichen Produktionsformen zu einem politischen Projekt zu verbinden, als eine Bündelung von Bewegungen und Initiativen „von unten“. Es gehe nicht darum, „die Macht zu erobern“, sondern eine neue Macht aufzubauen, was eine Frage hegemonialer Kämpfe sei. Es gälte, die Fixierung auf die Staatsmacht zu beenden, ohne jedoch dieses Terrain als politisches Kampffeld aufzugeben.

In diesem Zusammenhang geht Zelik ausführlicher auf das Konzept der peer production als einer Form der freien Assoziation der Produzenten durch horizontale, nicht hierarchische Koordination ein und sieht darin einen wichtigen und weiterführenden Ansatz (114ff.) Beispiel dafür ist die open source im Bereich der Computertechnologie. Dabei zeige sich, dass die bestehende Gesellschaft Praktiken hervorbringen könne, die einen Ansatz zur Überwindung ihrer Strukturen – Privateigentum, Hierarchie, Markt und Konkurrenz – enthalten. Freilich seien dabei entscheidende Beschränkungen zu berücksichtigen, da es sich bei der open source um die Produktion immaterieller und dadurch ohne große Kosten vervielfältigbarer Güter handelt, bei deren Herstellung der Produktionsmitteleinsatz materiell keine große Rolle spielt. Das open source – Konzept sei deshalb keineswegs unmittelbar verallgemeinerbar, aber immerhin werde dabei bewiesen, „dass sich Arbeitsprozesse ohne Marktbeziehungen spontan selbst organisieren und doch geplant sein können“ (119).

Da Herrschafts- und Warenverhältnisse „nicht einfach >abgeschafft< werden können, sondern durch Aneignung prozesshaft überwunden werden müssen“, können Alternativen zum Kapitalismus nur aus direkten sozialen Praxen hervorgehen (133). Es gälte, die vielfältigen Formen der Widerständigkeit zu erkennen, in Beziehung zu setzen und zu stärken. Es komme darauf an, „den schmalen Grat zu finden, der zwischen den selbstgenügsamen Grass-Root-Logiken der Basisbewegungen und den Machtperspektiven repräsentativer, institutionalisierter, staatszentrierter Politik hindurch führt“ (133).

Bei Zeliks Buch handelt es sich eher um eine Sammlung von Essays denn als um einen systematisch aufgebauten Text. In gewisser Weise entspricht das der von ihm bevorzugten, an Deleuze und Guattari orientierten „rhizomatischen“ Denkweise, führt aber auch dazu, dass es viele Wiederholungen gibt und die Argumentationslinien bisweilen etwas verschwimmen. Lesenswert ist es jedoch allemal. Aus der einschlägigen Literatur ragt es dadurch heraus, dass weder einfache Rezepte noch eschatologische Hoffnungsszenarien präsentiert, sondern dass der Versuch gemacht wird, der Komplexität wie der Widersprüchlichkeit der Verhältnisse gerecht zu werden. Deutlich wird das nicht zuletzt bei der Staatsfrage. Zwar ist die Kritik an den verschiedenen staatssozialistischen Modellen ebenso scharf wie prägnant, mündet aber keinesfalls in der Schlussfolgerung, dass das Terrain der Staatsapparate für emanzipative Prozesse und Strategien bedeutungslos sei. Hervorzuheben ist, dass Zelik im Unterschied zu vielen anderen in der gegenwärtigen Diskussion präsenten Positionen daran festhält, dass die Art und Weise der Einrichtung der materiellen Produktion für emanzipatorische Transformationsprozesse von grundlegender Bedeutung ist. Gerade nach dem Scheitern zentralplanwirtschaftlicher Versuche ebenso wie derer, die kapitalistische „Marktwirtschaft“ durch Reformpolitik etwas sozialer zu gestalten oder sie gar bis zu ihrer eigenen Überschreitung zu „zivilisieren“ bleibt dies der ebenso zentrale wie harte Kern emanzipativer Überlegungen. Ohne eine Veränderung der Produktionsverhältnisse wird es kaum möglich sein, den Kapitalismus „aufzubrechen“ und die „Multitude“ bedürfte wohl entsprechender Vorstellungen, um mehr zu sein als eben diese. Zelik präsentiert keine Lösungen, aber er stellt die richtigen Fragen formuliert vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen und Debatten Vorschläge, wie weiter gedacht und gehandelt werden müsste. Für den Weg, auf dem sich wieder einmal eine theoretisch kompetente und politisch handlungsfähige radikale Linke entwickeln könnte, zeigt er immerhin die Richtung an.

Raul Zelik: Nach dem Kapitalismus? Perspektiven der Emanzipation oder: das Projekt des Communismus anders denken. Hamburg: VSA-Verlag 2011, 143 S., 12.80 EURO.

© links-netz Januar 2012