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Generation Facebook

Neue Dimensionen der Überwachungsgesellschaft

Joachim Hirsch

Mit der im globalen Maßstab rasanten Verbreitung neuer elektronischer Kommunikationsmedien – vor allem Internet und Mobiltelefone – sind tiefgreifende gesellschaftliche und politische Veränderungen verbunden, über deren Bedeutung aber derzeit eher noch spekuliert wird. In politischer Hinsicht wird häufig auf den „arabischen Frühling“ verwiesen, weil die neuen Medien bei der Mobilisierung gegen die herrschenden Regime eine zentrale Rolle gespielt haben sollen. Kontrovers wird diskutiert, inwieweit diese Medien zu einer Verbesserung der Kommunikations-, Informations- und Organisationsmöglichkeiten „von unten“, also zu einer Ermächtigung politisch Handelnder führen oder ob sie eher als Bestandteile einer sich immer weiter ausbreitenden Überwachungsapparatur aufzufassen sind. Zwei Publikationen sind in diesem Zusammenhang von Interesse: Oliver Leistert, „From Protest to Surveillance – The Political Rationality of Mobile Media“ und die von Oliver Leistert zusammen mit Theo Röhle herausgegebene Aufsatzsammlung „Generation Facebook. Über das Leben im Social Net“.

From Protest to Surveillance – The Political Rationality of Mobile Media.

Die Untersuchung von Oliver Leistert – sie ist englischsprachig publiziert und die hier wiedergegebenen Zitate sind übersetzt – befasst sich vor allem mit den Auswirkungen der Mobiltelefonie. Im Gegensatz zu vielen eher spekulativen Einschätzungen beruht sie auf ausführlichen empirischen Untersuchungen, vor allem auf der Auswertung von 50 Interviews, die Leistert mit ExpertInnen aus zehn Ländern geführt hat. Darunter sind technische Experten, vor allem bewegungsnahe Softwareentwickler sowie AktivstInnen aus Protest- und Widerstandsbewegungen und bei alternativen Medien Tätige. Dazu kommen zwei Fallstudien, einmal zu der Anwältebewegung in Pakistan 2007/2008, die zum Sturz des damals herrschenden Militärregimes beigetragen hat, zum anderen zu den polizeilichen Überwachungspraktiken gegenüber der Berliner „Militanten Gruppe“ zwischen 2001 und 2008. Ausführlich beschäftigt sich der Verfasser mit der Frage einer Übertragbarkeit der Situationen in entwickelten, liberal-demokratischen und peripheren Ländern, die grundsätzlich positiv beantwortet wird.

Die sich rasch ausbreitende Nutzung von Mobiltelefonen ist schon deshalb bedeutungsvoll, weil in dieses Kommunikationsnetzwerk sehr viel mehr Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten und Regionen einbezogen werden können als durch das Internet mit seinen technischen und finanziellen Schranken – das Internet ist nicht überall zugänglich, Smartphones sind teuer und Prepaid-Mobiltelefone sind gegebenenfalls kostengünstiger. Mit der Ausbreitung dieser Technik sind erhebliche Veränderungen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, Subjektivierungsformen und Verhaltensweisen verbunden. Ihre zentrale Bedeutung liegt darin, die Menschen allgemein und über weite Distanzen hinweg „adressierbar“, d.h. für mannigfaltige, sowohl politische als auch ökonomische Zwecke identifizierbar zu machen und damit neue Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle, aber auch der politischen Kommunikation und Koordination zu schaffen (4).

Die Folgen sind vielfältig. Auf der einen Seite haben sie einen deutlichen Individualisierungseffekt, weil sie persönliche Kontakte, Zusammenkünfte und Gespräche überflüssig machen. Auf der anderen Seite statten sie die Menschen mit enorm erweiterten Möglichkeiten der Kommunikation aus und führen insoweit zu einer subjektiven Ermächtigung. Die Frage sei allerdings, wer eigentlich und auf welche Weise dadurch ermächtigt werde und welche neuen politischen Rationalitäten dadurch entstehen. Der entscheidende Beitrag von Leisterts Untersuchung ist, dass er aufzeigt, wie die über die Mobiltelefonie artikulierten Protestformen zugleich für umfassende Manöver die Überwachung genutzt werden können, Widerstand, Protest und Überwachung damit eng miteinander verschränkt sind.

Theoretisch bezieht sich Leistert vor allem auf die Macht- und Gouvernementalitätstheorie Michel Foucaults, insbesondere dessen Analyse der Veränderung gesellschaftlicher Machtstrukturen, die mit dem Übergang zur liberal-kapitalistischen Vergesellschaftungsweise verbunden sind (13ff.). Durch diese gesellschaftliche Umwälzung wird das freie, sich selbst als autonom begreifende Subjekt ebenso wie bürgerliche Privatheit historisch konstituiert. Dies bedeutet, dass sich Herrschaft weniger auf unmittelbare Gewaltanwendung und direkte Disziplinierungsmaßnahmen stützen kann, sondern dass Freiheit selbst zu deren Angelpunkt wird. Die neue, „liberale“ Form des Regierens beruht darauf, dass die Bedürfnisse, Wünsche und Begierden der Subjekte ermittelt und zum Gegenstand von Verhaltensteuerung und -selbststeuerung gemacht werden. Die „pastorale Macht“, die sich auf die Bekenntnisse der Beherrschten stützt, gewinnt im Zusammenhang mit der Entwicklung der elektronischen Medien neue Bedeutung – und erfährt im übrigen durch die sogenannten sozialen Netzwerke im Internet eine weitere Zuspitzung. Macht ist ein Verhältnis, das Herrschende und Beherrschte in einem wechselseitigen Beziehungsverhältnis miteinander verbindet. Niemand ist völlig machtlos und es gibt keinen Ort außerhalb der Macht. Diese konstituiert die Subjekte, indem sie ihre Bedürfnisse und Potentialitäten, ihre Freiheit nutzt. Die damit bewirkte Selbststeuerung führt dazu, dass „freie“ Individuen und „private“ Räume beherrscht werden können, ohne ihre formale Autonomie zu verletzen. Macht ist nicht mehr als hierarchisch oder auf eine Person konzentriert zu begreifen, sondern gewinnt eine dezentrale Struktur. Die Gesellschaft weist eine Vielfalt von Machtzentren auf – ökonomische wie staatlich-politische –, die unabhängig voneinander operieren und zugleich eng miteinander vernetzt sind. Dies bedeutet, dass die Systeme der Kontrolle und Überwachung zunächst einmal unspezifisch funktionieren, kein eigentliches Zentrum haben und für unterschiedliche Zwecke benutzt werden können (122ff.). Bürgerliche Freiheit und Selbstbestimmung sind also das Korrelat und die Grundlage immer umfassender werdender Überwachungs- und Kontrollapparaturen. Die Entwicklung der neuen Kommunikationstechniken wird als Perfektionierung dieses Machtverhältnisses im Zeitalter des Neoliberalismus verstanden.

Die Ausbreitung der mobilen Telefonie bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine politische Technologie die „Zivilgesellschaft“ durchdringt, die genauere Informationen über ihre Zustände und Entwicklungen ermöglicht. Widerstand und Protest werden dadurch selbst zu einem Bestandteil des „Regierens“. Gesellschaftliche Krisen und Probleme können durch sie schneller und genauer erkannt werden. Die Herrschenden können darauf reagieren und damit ihre Position stabilisieren (53ff.). Die „Zivilgesellschaft“ als das Terrain, auf dem sich widerständige soziale Bewegungen und Initiativen entwickeln können, wird gleichzeitig von Sicherheitsapparaturen durchzogen und durch diese geformt. Protest und Widerstand erscheinen damit als Bestandteil eines komplexen Herrschaftsarrangements, tragen aber zugleich die Möglichkeit in sich, darüber hinauszugehen. Macht wird dadurch nicht abgeschafft, aber Machtverhältnisse können verändert werden. Leistert konstatiert also eine Dialektik, die darin besteht, dass Widerstand Herrschaft angreift, aber zugleich auch stabilisieren kann (61). Die durch die neuen Kommunikationstechniken erweiterten Handlungskompetenzen der Menschen sind selbst ein Mittel (neo-) liberalen Regierens. Ihre Durchsetzung kann also auch als Bestandteil eines „Regierungs“-Programms (im Sinne von Foucaults Begriff der „gouvernementalité“) verstanden werden. Der Individualisierungseffekt dieser Techniken trägt verstärkt zur Formierung des liberalen „homo oekonomicus“ bei, der unter Umgehung direkter persönlicher Beziehungen und über räumliche und soziale Grenzen hinweg am Markt teilnehmen kann. Die Individuen werden durch ihre jederzeitige persönliche Adressierbarkeit sozusagen in einem abstrakten Raum zusammengeführt (64).

Der Verfasser nennt diese Verbindung von Ermächtigung und Kontrolle, das Zusammenfallen von Freiheit und Überwachung das „liberale Paradox“ (111ff.). Die mobilen Medien treiben dieses weiter voran. Mit ihnen wird Handeln geformt und verändert, aber nicht verhindert. Sie sind als Überwachungsapparaturen zu verstehen, deren Funktion es ist, eben die Freiheiten zu kontrollieren, die sie schaffen. Das liberale Paradox äußert sich darin, dass durch die enge Verbindung von Freiheit und Überwachung die neuen Medien zu einer „illiberalen“ Technik, zum Bestandteil einer Neo-Souveränität werden können, die sich von der traditionellen grundlegend unterscheidet (138). Sie ist abstrakt, nicht personengebunden und überschreitet den Raum des Staates.

Leistert unterscheidet im Mobiltelefonsektor drei wichtige Überwachungs- und Kontrolltechniken: Datensammlung und -speicherung, obligatorische Registrierung des Besitzes von SIM-Karten sowie die Blockierung bzw. Störung von Funkzellen. Er betont die besondere Bedeutung der Sammlung von Transaktionsdaten (also wer wann mit wem und wie lange telefoniert hat) im Vergleich zu der Überwachung der Gesprächsinhalte. Demnach wäre die öffentlich skandalisierte Abhörung von Kanzlerin Merkels Handy durch die NSA weniger wichtig als die viel weniger problematisierte und von der schwarz-roten Regierungskoalition erneut in ihr Programm aufgenommene Vorratsdatenspeicherung. Diese schafft nämlich die Möglichkeit, verdächtige oder für gefährlich gehaltene Gruppierungen, ihre Verbindungen und ihre zentralen Akteure zu identifizieren oder diese aufgrund abstrakter, von persönlichen Merkmalen weitgehend unabhängiger Daten gegebenenfalls virtuell zu erzeugen – eine Konstruktion von Devianz, die für die Betroffenen überhaupt nicht erkennbar ist (155ff.). Dies geschieht häufig in einem rechtsfreien Raum und verweist auf den spezifischen Charakter der neoliberalen „Neo-Souveränität“. „Identitätspartikel dienen als Mittel der Konstruktion von Risikoeinschätzungen, was immer der konkrete und situationsbezogene Kontext gewesen sein mag“ (143f.). Es geht also um Operationen, „die auf statistischem Wissen zur Identifikation zukünftiger Verbrechen oder ‘gefährlichem Verhalten‘ beruhen“ (144).

Die obligatorische Registrierung des Besitzes von SIM-Karten dient vor allem dazu, die NutzerInnen von Prepaid-Telefonen zu identifizieren, die sich ansonsten einer Kontrolle entziehen. Sie ist deshalb bedeutungsvoll, weil diese Technik im globalen Maßstab sehr weit verbreitet ist. Mit dem Registrierungszwang werden zugleich ganze Bevölkerungskreise, z.B. Menschen ohne festen Wohnsitz oder nicht-legalem Status von der Kommunikation überhaupt ausgeschlossen (147ff.). Schließlich besteht die Möglichkeit, ganze Mobilfunknetzwerke oder auch einzelne Zellen zu blockieren oder zu stören. Allerdings ist dies eine zweischneidige Maßnahme, weil sie zugleich die umfassende Datensammlung unmöglich macht. Bei einem gänzlich stillgelegten Netz lassen sich auch keine Überwachungsdaten mehr gewinnen. Die Blockierungspraxis ist nicht auf autoritäre Systeme beschränkt, sondern wird auch in liberal-demokratischen Staaten, z.B. in den USA angewandt.

Die Wirkungen dieser Maßnahmen sind vielfältig (160ff.). Eine ihrer wesentlichsten ist die Disziplinierung durch Angst, z.B. durch den Kontakt mit verdächtigen oder „gefährlichen“ Personen selbst verdächtig und zum Gegenstand weiterer Überwachungsmaßnahmen zu werden. Die Datenspeicherung unterbricht die Kommunikation nicht, sondern nutzt sie. Sie kann sozusagen als materialisierter Verdacht gegenüber der gesamten Gesellschaft betrachtet werden. Es entsteht eine neue Achse von Wissen und Macht: die Menschen haben kein Wissen über die Verwendung ihrer Daten und das System produziert eine eigene Realität, die mit den wirklichen Verhältnissen unter Umständen wenig zu tun hat. Auf diese Weise wird „Selbstführung“ in prägnanter Weise zu einem Mittel von Herrschaft. Der Komplex öffentlich- staatlicher und privatunternehmerischer Datensammlung umfasst die ganze Gesellschaft und seine Wirksamkeit beruht auf der bereitwilligen Nutzung elektronischer Kommunikationsmedien.

Leistert erläutert diese Zusammenhänge mit den beiden Fallstudien. Bei der ersten handelt es sich um eine Untersuchung der Anwältebewegung in Pakistan 2007/2008, die wesentlich zum Sturz der damaligen Militärdiktatur geführt hat (66ff.). Mobiltelefone spielten dabei eine wichtige Rolle. Durch deren Nutzung konnten weitere, auch ärmere Bevölkerungskreise in den Protest einbezogen werden, der als städtische Mittelklassenbewegung aus Anlass der Absetzung und Verhaftung des obersten Richters begonnen hatte. Auf diese Weise konnten sehr unterschiedliche Interessen auf ein Ziel – den Sturz des Machthabers – hin fokussiert werden. Online-Medien und Mobiltelefonie erhielten durch das Verbot bzw. die Zensur unabhängiger oder oppositioneller Medien eine entscheidende Bedeutung als Mittel der Information, der Kommunikation und der Organisierung. Leistert weist aber darauf hin, dass dies auch eine starke Abhängigkeit von dieser Technik beinhaltete. Obwohl das Regime dies gekonnt hätte, wurden die Telefonfunknetzwerke jedoch nicht generell abgeschaltet, und zwar wahrscheinlich deshalb, weil dies verstärkte Unruhen provoziert hätte. Dagegen wurden selektive Abschaltungen vorgenommen, was damals aber noch einige technische Schwierigkeiten machte. Allerdings sind diese inzwischen behoben. Als Schlussfolgerung ergibt sich, dass den Herrschenden grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Verfügung stehen, auf die oppositionelle Nutzung der Mobiltelefone zu reagieren: Abschalten bzw. generell stören („der Vorschlagshammer“) oder eben die Verwendung als Mittel einer umfassenden Datensammlung zur Analyse der Protestierenden und ihrer Netzwerke.

Die zweite Fallstudie bezieht sich auf die polizeiliche Überwachung der sogenannten Militanten Gruppe in Berlin zwischen 2001 und 2008 (168ff.). Auch hier wird deutlich, dass sich diese mittels der Auswertung der Kommunikationsdaten auf eine Vielzahl politisch aktiver Personen bezieht, die in unterschiedlichen Feldern tätig sind und in irgendeiner Weise mit den Verdächtigten in Kontakt gekommen sind. Besondere Bedeutung hatte hier die Versendung von sognannten „stillen SMS“, die es erlaubt, den Standort einer Person ohne deren Wissen zu ermitteln, und zwar auch dann, wenn das Telefon ausgeschaltet ist. Diese Form der Überwachung funktioniert auch dann, wenn Codeworte benutzt werden, das Telefonieren beschränkt wird oder Verschlüsselungstechniken angewendet werden. Wenn auf den Gebrauch von Mobiltelefonen überhaupt verzichtet wird, gilt dies den Überwachungsbehörden als weiteres Verdachtsmoment. Das verweise noch einmal darauf, in welcher Weise bereits die Möglichkeit der Telekommunikationsüberwachung politisches Handeln einschränke (182).

Leistert befasst sich abschließend mit den Möglichkeiten, sich gegen die ausufernde Überwachung zu wehren (183ff.). Ein Mittel der Sicherung von Kommunikationsinhalten ist die Verschlüsselung oder gegebenenfalls der Kampf gegen Versuche, diese zu verbieten. Eine Reihe von Kriterien wird aufgeführt, die dabei erfüllt sein müssen (195ff.). Realisierbar sind sie bislang jedoch nicht. Eine Abwehr gegen das Erfassen von Transaktionsdaten ist grundsätzlich kaum möglich. Dies sei nicht technisch, sondern nur politisch durchzusetzen. Den besten Weg sieht Leistert in der Schaffung autonomer, von Staat und Privatunternehmen unabhängiger Kommunikationsnetzwerke, was aber infolge der technischen Bedingungen und der Kosten bestenfalls auf kommunaler oder lokaler Ebene möglich sei und dazuhin eine Fragmentierung der Kommunikationsmöglichkeiten zur Folge habe. Es bleibt das pessimistische Fazit: „Das Fenster der Möglichkeiten für ein Mobilfunksystem unabhängig vom Staat ist geschlossen“ (219).

Der Verfasser hat eine gut recherchierte und argumentativ überzeugende Analyse vorgelegt. Kritisch anzumerken ist, dass die Präsentation einige Mängel aufweist. Die Gliederung hätte straffer und übersichtlicher sein können, Dadurch wären häufige Redundanzen vermeidbar gewesen. Möglicherweise hätten die Enthüllungen von Edward Snowden über die Geheimdienstaktivitäten von NSA & Co. weiteres Material geliefert, konnten aber nicht mehr berücksichtigt werden. Weitgehend unberücksichtigt bleiben auch die Widerstands- und Protestbewegungen in den Ländern des „arabischen Frühlings“ und die Bedeutung der neuen elektronischen Medien für ihren (vorübergehenden) Erfolg. Insgesamt wäre es interessant gewesen, was konkreter unter dem „Individualisierungseffekt“ den neuen Medien zu verstehen ist. Dies wird jedoch nur angedeutet.

Es bleibt noch festzuhalten, dass eine Analyse des widersprüchlichen Verhältnisses von Kommunikationsermächtigung und Überwachung eine genauere Untersuchung der Arbeitsweise politisch-sozialer Initiativen und Bewegungen (über die Pakistan-Fallstudie hinaus) erfordert hätte, die über die Auswertung von Statements einzelner Akteure hinausgeht. Dies allerdings liegt jenseits des Rahmens der vorliegenden Untersuchung.

„Generation Facebook. Über das Leben im Social Net“

Der von Oliver Leistert und Theo Röhle herausgegebene Sammelband „Generation Facebook“ beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der sogenannten sozialen Netzwerke, vor allem von Facebook, das in diesem Sektor inzwischen eine global dominierende Position einnimmt. Der Begriff „Generation“ bezieht sich darauf, dass die Nutzung sozialer Netzwerke deutlich altersspezifisch und vor allem bei jüngeren Leuten verbreitet ist. Dies heißt, dass die gesellschaftlichen Erfahrungen, die Weltbilder und die Sozialisationsbedingungen der verschiedenen Altersgruppen deutlich auseinanderklaffen. Die Frage ist, was es bedeutet, „dass das Internet, das einmal die Hoffnung auf eine offene und hierarchiefreie Kommunikation in sich barg, sich in rasender Geschwindigkeit zu einer von wenigen kommerziellen Akteuren beherrschten und von Selbstdarstellung geprägten Infosphäre entwickelt hat“ (7). Facebook niste sich immer tiefer in die gesellschaftlichen Strukturen ein, eine Entwicklung, deren Konsequenzen noch kaum absehbar seien. „Was motiviert Millionen von Menschen dazu, ihre Profile mit einer Fülle privater Informationen anzureichern? Welche Macht hat ein Unternehmen, das permanenten Einblick in den Alltag dieser Menschen hat?“ (8). Die These der Herausgeber ist, dass Facebook in spezifischer Weise in den Kontext der neoliberalen Formierung der Gesellschaft eingebunden ist und diese zugleich weiter vorantreibt, „dabei Subjektivitäten zurichtet und ökonomische Prozesse auf algorithmischer Basis ausdifferenziert“(8). Die Beiträge behandeln die mit Facebook verbundenen ökonomischen Mechanismen, die damit einhergehenden neuen Subjektivierungsformen sowie die politischen Auswirkungen dieses Mediums.

Das Geschäftsmodell von Facebook beruht auf der Sammlung und der Auswertung von Daten vornehmlich über die Privatsphäre seiner NutzerInnen, um der Werbeindustrie dann den direkten Zugang zu spezifischen Zielgruppen zu verkaufen: Milliarden von Nutzern bekommen bei Facebook genau die Werbung eingeblendet, die ihrem auf Grundlage ihres Nutzungsverhaltens errechneten Profil entspricht. Um den spekulativ in die Höhe getriebenen Börsenwert des Unternehmens und den damit verbundenen Gewinnerwartungen gerecht zu werden, müssen die Datensammlungen immer weiter ausgedehnt und die Auswertungsmöglichkeiten verfeinert werden. Permanente Expansion ist also dem Geschäftsmodell dieses Unternehmens immanent. Um die Art und Weise des Vorgehens von Facebook zu erläutern, empfiehlt sich den Herausgebern zufolge ein Vergleich mit Google. Google sammelt Daten mittels der über die Suchmaschine artikulierten Interessen seiner NutzerInnen, um diese der Werbeindustrie zur Verfügung zu stellen. Facebook verfährt gewissermaßen umgekehrt: es ermittelt den sozialen Kontext, die Lebensumstände, die Vorlieben und Bedürfnisse, um damit mögliche Kaufinteressen zu ermitteln, d.h. die Voraussetzungen dafür zu schaffen, das diese durch Werbung überhaupt erst geweckt werden. Der Wert der ermittelten Daten liegt darin, dass den NutzerInnen gezeigt werden kann, was sie „mögen“ könnten, bevor sie dies selbst wissen (116). Google hat mit Google+ ein ähnliches Medium geschaffen, dessen Bedeutung jedoch vorerst geringer ist.

Mark Andrejevic spricht in seinem Beitrag (31ff.) in diesem Zusammenhang von einer „galoppierenden Kommerzialisierung des Soziallebens“ (35). Die immer genauere Ermittlung von Lebens- und Konsumgewohnheiten sei eine wesentliche Voraussetzung der flexibilisierten Massenproduktion, d.h. der auf individuelle Bedürfnisse zugerichteten Herstellung von Waren, die den neoliberal-postfordistischen Kapitalismus kennzeichnet. Was mit den Mitteln von Facebook betrieben wird, bezeichnet er als eine neue Phase der „ursprünglichen Akkumulation“, womit Marx die private Aneignung der Produktionsmittel und ihre Trennung von den Produzenten bezeichnet. Mit der Privatisierung persönlicher Daten ist ein ähnlicher Vorgang verbunden. Im Informationskapitalismus – hierzulande gerne beschönigend „Wissensgesellschaft“ genannt – „muss einerseits ein System der privaten Kontrolle über produktive Informationsressourcen und andererseits eine bürgerliche Vergesellschaftung etabliert werden, in der keine andere Wahl besteht, als sich der Kontrolle über persönliche Informationen zu unterwerfen, um im Austausch Zugang zu diesen Ressourcen zu erlangen“ (37). Genau genommen handelt es sich bei den sozialen Netzwerken ebenso wie bei der Mobiltelefonie um eine gesellschaftliche Infrastruktur, die privat betrieben und kontrolliert wird. Soziale Netzwerke seien daher vor allem als Produktionszusammenhänge zu verstehen, deren Wertschöpfung sich diejenigen aneignen, die über Domainnamen und Serverkapazitäten verfügen. Die Sammlung von Daten über Vorlieben, Abneigungen, Stimmungen und Emotionen diene dem Ziel, Affekte so zu kanalisieren und zu fixieren, dass sie sich in erhöhten Konsum umsetzen lassen. Auf diese Weise werden Ängste, Unsicherheiten, Hoffnungen und Träume genutzt (47). Konstruiert werde eine „Gemeinschaft“, die auf einer Plattform in Privatbesitz gründet (47). Damit wird eine umfassende Überwachung der Lebensäußerungen angezielt, eine Überwachung, die sich bekanntermaßen auch die Polizei und Geheimdienste zunutze machen können. Dieser Aspekt wird im vorliegenden Band jedoch nur am Rande behandelt. Es bedurfte wohl erst der NSA-Spionageaffäre, um die Kooperation zwischen den privatunternehmerischen Datensammlern und den Geheimdiensten wieder stärker in den Blick der Öffentlichkeit zu bringen. Allerdings hat diese – mehr oder weniger erzwungene – „Zusammenarbeit“ der NSA nicht gereicht. Daher die umfassende Spionagetätigkeit in eigener Regie.

Robert Bodle (79ff.) behandelt die Technik der Verknüpfung von Webseiten, die es ermöglicht, die Datenabschöpfung über den Kreis der Facebook-NutzerInnen hinaus auszudehnen. Sie ermöglicht es Dritten, „ohne Rücksicht auf Datenschutzeinstellungen auf Mitgliederdaten zurückzugreifen und sie zu speichern“ (93). Gegebenenfalls hat also Facebook Zugriff auf persönliche Daten auch dann, wenn man überhaupt nicht dort angemeldet ist. Carolin Gerlitz (101ff.) beschäftigt sich mit dem „Like“-Button, der nicht nur Auskunft über Lebensweisen, soziale Zusammenhänge, Wünsche und Bedürfnisse gibt, sondern zusammen mit Social Plugins und Personalisierung für Facebook das zentrale Instrument darstellt, sich über die eigene Plattform hinaus über das gesamte Netz auszubreiten. Diese „Like-Ökonomie“ schafft eine datenintensive Infrastruktur, „die nicht nur soziale Interaktion hervorbringt, sondern diese gleichzeitig in Daten umwandelt“ (115). Die Verbindungen zwischen den Webseiten „werden zunehmend durch soziale Netzwerke hergestellt und von den NutzerInnen selbst produziert“ (107). Es entwickelt sich dabei eine dezentrale Struktur der Datenflüsse, die gleichzeitig von Facebook zentral kontrolliert wird. Der „Like“-Button misst und intensiviert affektive Reaktionen, die in ökonomisch relevante Daten überführt werden.

Ein größerer Teil der Beiträge widmet sich der Frage nach den Veränderungen der Persönlichkeitsprägung im Internet-Zeitalter. Dabei ist zunächst einmal die Frage interessant, weshalb die NutzerInnen der sozialen Netzwerke freiwillig bereit sind, ihre intimsten Daten zu veröffentlichen. So ganz freiwillig ist dies indessen nicht. Wenn gesellschaftliche Kontakte, Freundschaften, Anerkennung und soziales Prestige zunehmend über die sozialen Netzwerke vermittelt werden, bedeutet Nicht- oder eingeschränkte Teilnahme die Gefahr der Isolierung und der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit. Statt Freiwilligkeit ist also eher ein gewisses Zwangsverhältnis im Spiel.

Mark Coté und Jennifer Pybus (51ff.) betrachten das Agieren in den sozialen Netzwerken als „Erziehung zu immaterieller Arbeit“, die eine wichtige Komponente des „Wissenskapitalismus“ darstellt, eines Kapitalismus, der in wachsendem Maße vom „freiwilligen“ Engagement der Subjekte und ihrer Selbstdisziplinierung abhängt (66). In Anlehnung an Foucault sprechen sie von der Entwicklung einer „Biomacht“, die die Bevölkerung in umfassender Weise als Produktionsmaschine zur Erzeugung von Reichtum nutzt. „Wer es nicht schafft, ständig upzudaten und letztlich ein guter ‘Kulturarbeiter‘ zu sein, kann auf einmal nicht mehr ‘lesbar‘ sein (55). Verlangt wird ein persönliches Markenmanagement, das auf dieser neuen Form der immateriellen Arbeit beruht. Wirtschaft, Medien, Kultur, Sprache, Wissen und Subjektivität werden zunehmend untrennbar, Freizeit und Arbeitszeit gehen ineinander über, die Kontrolle des Kapitals erstreckt sich über weite Teile des Alltagslebens – eine neue Stufe der „reellen Subsumtion“ der Arbeitskraft unter das Kapital, um noch einmal mit Marx zu sprechen (63ff.). Der Verweis der AutorInnen, dass damit auch überschießende Potentiale verbunden sein könnten, bleibt allerdings unausgeführt. Das hätte eine nähere Untersuchung verdient.

Ralf Adelmann (127ff.) beschäftigt sich mit den Veränderungen des Begriffs „Freundschaft“ in den sozialen Netzwerken. Wenn sich Freundschaftspflege auf Datenbankpflege reduziert, geht es nicht mehr um Vertrauen – gemeinhin als eine wesentliche Grundlage von Freundschaft betrachtet –, sondern um die Erhaltung eines elektronischen Netzwerks. „Freundschaft wird dadurch kollektiviert“ und es entsteht eine „informelle Sozialität..., die nicht unbedingt auf gegenseitigem Verständnis und einer bedeutungsvollen Kommunikation beruhen muss“ (136). „Freundschaft ist dadurch determiniert, dass alle wissen, dass sie nicht Nicht-Verbunden sind“ (137). „Freund-Werden und Freund-Bleiben sind Prozesse, die automatisiert und wiederholbar sein müssen“ (141). Gerald Raunig (145ff.) knüpft noch einmal an der Foucaultschen These von der pastoralen Macht, dem Zwang zum Bekenntnis an und verknüpft dies mit der Nietzscheschen Formel von der Selbstzerteilung, d.h. der Trennung von Gut und Böse in sich selbst als Grundlage von Individualisierung. Die Selbstpräsentation im sozialen Netzwerk beruhe auf dieser Teilung. Facebook treibe diesen Prozess entscheidend voran, weil die Grenze von Öffentlich und Privat verschwimmt und „ein Begehren um sich greift, das keineswegs den Verfall des Privaten beklagt, sondern gerade mit der freiwilligen Aufgabe jeder Privatheit zu kokettieren scheint“ (155). Privatheit erscheint viel eher als Defizit, weil sie „die Entkoppelung vom Lebensnerv der sozialen Netze impliziert (156). „Statt also das authentische Selbst in der Privatheit zu vermuten, wird es in der expressiven Praxis des Geständnisses im sozialen Netzwerk gesucht“ (156).

Carolin Wiedemann (161ff.) fragt danach, was es bedeutet, im sozialen Netzwerk das eigene Leben alltäglich begutachten und bewerten zu lassen. Ihr zufolge handelt es sich dabei um eine neue Form des „Brandings“, einer unternehmerischen Selbstdarstellung, die Facebook zu einer Art Assessment-Center zur Bewertung und zum Vergleich der Personen werden lässt. Die Menschen werden zu einer Selbstvermarktung veranlasst, die durch „Freunde“ überwacht und kontrolliert wird. Diese fungieren als Publikum und Jury zugleich (174ff.). Die Überwachungsgesellschaft gewinnt damit eine neue Dimension. Facebook ruft mit Hilfe seiner eingebauten Mechanismen das „unternehmerische Selbst“ an und wird auf diese Weise ein Bestandteil der neoliberalen Weise des „Regierens“, das heißt des Zwangs zur Selbstdisziplinierung und Selbstführung der Subjekte. „Als freies, zur Selbstregierung fähiges Wesen wird das Individuum adressiert, das seine Freiheit und sich selbst aber auf eine bestimmte Art zu regieren vermöge“ – wenn auch nicht muss (164). Eine Folge ist ein damit verbundener Zwang zur Normalisierung. Devianz gleich welcher Art hat im sozialen Netzwerk keinen Platz. Darauf bezieht sich auch Susanne Lummerding, die darauf hinweist, dass die durch Facebook vorgegebenen Muster der Suche und Kommunikation „abweichende Ergebnisse minimiert und damit anstelle von Antagonismus, Herausforderung, Perspektivenwechsel und Unvorhersehbarkeit eine Reproduktion des immer Gleichen begünstigt“ (204).

Die weiteren Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit der politischen Bedeutung der sozialen Netzwerke. Susanne Lummerding (199ff.) behandelt noch einmal die Effekte der Selbstdarstellung, wobei Bekanntheit und Beliebtheit gleichbedeutend mit Qualität und Relevanz werden (203). Die Eingabemöglichkeiten bei Facebook erzwingen Eindeutigkeit und lassen keinen Platz für Unbestimmtheiten und Devianz. Das würde dem ökonomischen Kalkül widersprechen. Die vorgegebene Ich-Zentriertheit „verhindert eine über das eindeutige Subjekt hinausgehende oder sie hintergehende Artikulation und das Ausprobieren von Praxen, die jenseits festgeschriebener und eindeutiger Identitäten liegen“ (Leistert/Röhle, 25). Einfach gesagt: Man ist entweder männlich oder weiblich, „queer“ geht nicht. (Dies hat Facebook inzwischen geändert und lässt eine ganze Fülle von Geschlechtsbezeichnungen zu. Gelegentlich wird also schon auf Kritik reagiert). In Bezug auf die so genannten Facebook-Revolutionen insbesondere in den Ländern des „arabischen Frühlings“ stellt sie fest, dass die sozialen Netzwerke zwar die Kommunikation zwischen den AktivistInnen erleichtern, aber kaum eine Voraussetzung der Protestbewegungen und ihrer Wirksamkeit darstellen. Diese liegen vielmehr in den persönlichen und direkten Auseinandersetzungen und Diskussionen über gesellschaftliche Fragen, der Definition des zu Verhandelnden sowie über Verhandlungspositionen und Initiativen. Facebook begünstige zwar die globale Information, die wirkliche Bewegung finde aber auf öffentlichen Plätzen, auf Demonstrationen und Versammlungen statt (212). Dem pflichten auch die Herausgeber zu. Sowohl in Tunesien als auch in Ägypten hätte die Revolution auch ohne Facebook stattgefunden, zumal in den entscheidenden Phasen das Internet abgeschaltet war (und dies wohl auch ein Anlass war, auf die Straße zu gehen). Die Rede von der „Facebook-Revolution verschleiert darüber hinaus, dass Facebook den staatlichen Behörden unter anderem auch die Möglichkeit bot und bietet, „Rädelsführer“ ausfindig zu machen und zu verhaften (14f.). Der tunesische Geheimdienst verschaffte sich den Zugang zu allen relevanten Facebook-Accounts und war in der Lage, ihre Inhalte zu löschen (Leistert/Röhle, 15).

Marianne Pieper, Brigitta Kuster und Vassili Tsianos (221ff.) verweisen hingegen auf die Bedeutung, die Facebook für Migranten hat, indem es Verbindungen und Kollektivität herzustellen hilft, Fluchtwege und Gefahren aufzeigbar macht und dazu dient, unmenschliches Verhalten der Behörden öffentlich zu dokumentieren. Chatrooms und soziale Medien „versorgen die Migrierenden mit aktuellen Informationen über Routen, Möglichkeiten und Taktiken des Durchkommens“ (234), aber auch über günstige Zielorte. Allerdings hat dies eine von den AutorInnen nicht erwähnte Kehrseite: auch die Agenturen der Grenz- und Migrationskontrolle können sich in Facebook darüber informieren.

Ganaele Langlois, Greg Elmer und Fenwick McKelvey (253ff.) gehen schließlich der Frage nach der demokratisierenden Wirkung von Facebook nach. Soziale Netzwerke können generell „nicht als neutrale und transparente Kanäle vielfältiger politischer Willensäußerungen betrachtet werden. Vielmehr verkompliziert die Logik der Plattform an sich – von der Informationsverarbeitung bis zu ökonomischen Prioritäten – Bildung, Organisation und Management dessen, was wir als politischen Aktivismus verstehen, insbesondere die Konstitution politisch beteiligter Öffentlichkeiten“ (253f.). Es werden nicht einfach öffentliche Willenskundgebungen ins Internet gestellt. Indem spezifische Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Onlinenutzung gesetzt werden, wird geregelt, ob und wie ein Publikum entsteht (255). Es entstehen dadurch neue Formen der Kontrolle. Die freie und offene Kommunikation scheitert an „der Undurchsichtigkeit und Komplexität einer Architektur, die von der Ökonomie des Data-Mining reguliert wird“ (258). Geregelt wird, welche Öffentlichkeiten entstehen können und wer darauf Einfluss nehmen kann. Zwar besteht die Möglichkeit, unterrepräsentierte Öffentlichkeiten und Themen zum Ausdruck zu bringen, aber zugleich können spezifische Interessengruppen durch die vorgegebenen Informationstechniken („Freunde gewinnen“) ihre Ziele mittels organisierten und massenhaften Votierens verfolgen. Auf der Strecke bleiben dabei ausgewogene Repräsentation und demokratische Kommunikation (265). Weil Facebook auf Personalisierung und die Anpassung an Vorlieben ausgerichtet ist, wird es für die NutzerInnen unmöglich, sich „ einen Überblick über den Informationsraum der Webseite zu verschaffen“ (267). Die offene Diskussion wird schon dadurch unmöglich gemacht, dass eine Kommunikation und Konfrontation über die einzelnen Gruppen hinweg unmöglich ist. Sie bleiben geschlossene Teilöffentlichkeiten (265).

Eher am Rande beschäftigen sich die Beiträge mit den Möglichkeiten, sich der Facebook-Plattform zu bedienen, ohne in deren Fallen zu tappen. Eine wirkliche Alternative bestünde darin, von Privatunternehmen und Staat unabhängige, selbstverwaltete Netzwerke aufzubauen. Dem stehen allerdings – wie schon im Falle der Mobiltelefonie – erhebliche organisatorische und vor allem finanzielle Hindernisse entgegen. Versuche dazu gibt es daher nur in kleinen Ansätzen. Die Herausgeber weisen allerdings darauf hin, dass es möglicherweise die um sich greifende neoliberale Subjektkonditionierung das wichtigere Hindernis dafür ist, dass solche Vorhaben in breiterem Umfang Fuß fassen können.

Insgesamt gibt der Band eine sehr gute Übersicht über die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen der sozialen Netzwerke. Da die Beiträge inzwischen einige Jahre alt sind, konnten neuere Entwicklungen bei den sozialen Netzwerken und ihrer Nutzung nicht mehr berücksichtigt werden. Dazu gehört z.B. die Tatsache, dass die Polizei sie inzwischen auch hierzulande zu Fahndungszwecken nutzt. Facebook komplettiert und verfeinert sein System fortlaufend, ohne dabei die Prinzipien aufzugeben, die Grundlage seines Geschäftsmodells sind.

Die Kritik zeigt in sicher zugespitzter Art und Weise herrschende Tendenzen auf. Natürlich ist es möglich, in Kenntnis der Architektur von Facebook einen kritischeren Umgang damit zu praktizieren, es etwa als Veröffentlichungsplattform oder als Kommunikationsmittel innerhalb einer unabhängig davon existierenden Gruppe zu benutzen ohne sich der „Like-Ökonomie“ auszuliefern und Material für ein immer umfassenderes Data-Mining bereit zu stellen. Für diejenigen Teile der „Generation Facebook“, denen Smartphone und Facebook inzwischen zum Lebensmittelpunkt geworden ist, dürfte das allerdings keine Rolle spielen.

Schließlich einige Bemerkungen zum Gebrauchswert des Buches. Dass die weniger sachverständigen LeserInnen sich mit dem etwas komplizierten technischen Fachjargon vieler Beiträge schwer tun werden, ist wohl kaum ganz zu vermeiden. Dennoch hätten sie sprachlich zugänglicher gestaltet werden können, was nicht zuletzt eine Aufgabe der Herausgeber gewesen wäre. Auffällig ist, dass die aus dem Englischen übersetzen Beiträge in der Regel sehr viel leichter lesbar sind als die deutschen Originaltexte. Hier hat wohl die Selbstpräsentation und das „Branding“ im akademischen Konkurrenzbetrieb eine Rolle gespielt, das auch Facebook-KritikerInnen nicht ganz fremd ist.

Oliver Leistert: From Protest to Surveillance – The Political Rationality of Mobile Media. Modalities of Neoliberalism. Peter Lang Verlag Frankfurt/Main 2013. 280 Seiten, 54,95 EURO. (Die diesem Buch zugrundeliegende Dissertation kann man als PDF-Datei aus dem Netz herunterladen)

Oliver Leistert, Theo Röhle (Hg.): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld: transcript Verlag 2011, 283 Seiten, 21,80 EURO.

© links-netz Februar 2014