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Lob der Faulheit?

Aus dem Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten

von Joachim Hirsch

In den siebziger Jahren hat Ulrich Sonnemann von Deutschland als einem Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten gesprochen. Wahrscheinlich hat er damals noch nicht geahnt, wie weit diese gehen können. Seit die herrschende Politikerclique eingestehen muss, dass an einen nachhaltigen Abbau der Arbeitslosigkeit überhaupt nicht zu denken ist, dass soziale Spaltungen und Ungleichheiten zunehmen und dass vollmundige Wahlversprechen sich als propagandistische Seifenblasen erweisen, werden – wieder einmal – Sozialstaatsschmarotzer als Problemgruppe ausgemacht. Gemeint sind damit diejenigen, die sozialstaatliche Leistungen beziehen, obwohl sie angeblich eigentlich arbeiten könnten. Die neueste "Faulenzer"-Debatte reiht sich ein in die für die "Berliner Republik" charakteristische und im Kosovokrieg exemplarisch vorexerzierte Strategie der Moralisierung von Macht- und Interessenpolitik: gesellschaftliche Strukturen und Interessen werden mit moralischen Diskursen vernebelt, um von den eigentlichen Ursachen und Zwecken der Politik abzulenken. Waren es dort die Menschenrechte, die Völkerrechts- und Verfassungsbrüche legitimierten, wird nun versucht, die Opfer des kapitalkonformen Umbaus der "Deutschland AG" moralisch zu stigmatisieren, um den neoliberalen "Umbau" des Sozialstaats weiter voranzubringen.

So wird einfach mal behauptet, es gebe hierzulande tatsächlich einen Arbeitskräftemangel. Was kümmern da schon ökonomischen Fakten und die Realität einer "Standortpolitik", durch die – in der bevorstehenden Rezession verstärkt – permanent Arbeitsplätze wegrationalisiert werden. Diejenigen, die davon betroffen werden, sind schließlich selbst schuld. Sie könnten ja, wenn sie nur wollten. Dieses Parasitentum gilt es nun mit verschärften Kontrollen und mit dem Entzug von Leistungen zu bekämpfen. Bundeskanzler Schröder verkündet forsch, es gebe in diesem unserem Staat kein Recht auf Faulheit. Merz, der ewig glücklose CDU/CSU-Fraktionschef, hatte dem zunächst reflexhaft widersprochen und eben dieses Recht eingeklagt. Allerdings dann doch nur für diejenigen, die "dem Staat" und "der Allgemeinheit" nicht zur Last fallen. Womit er genau wieder bei Schröders Position angelangt war. Aber das kennen wir ja inzwischen von der Opposition. Aus der CDU wurde schließlich sogar noch der Ruf nach Ausgabe von Essensmarken für Arbeitslose laut, was unter anderem zeigt, wie die Ausländerpolitik zum Exerzier- und Experimentierfeld für die Demontage des Sozialstaats geworden ist.

Wer ist aber nun eigentlich faul? Alle diejenigen offensichtlich, die auf Lohnarbeit angewiesen sind, aber keine leisten wollen, dürfen oder können, aber trotzdem etwas zum Leben bekommen. Wer vermögend genug ist und nichts tut, ist demzufolge nicht faul. Unerheblich ist dabei natürlich, woher das Vermögen stammt, aus Erbschaften (nicht nur den bekannten der CDU), irgendwie über Privatkonten gelaufenen anonymen Spendengeldern, aus Aktienspekulationen, Subventionsbetrug oder dem Abzocken von Kleinanlegern. Hauptsache man hat etwas. Dann ist man, was das Recht auf Faulheit angeht, auf jeden Fall aus dem Schneider. Man übt es einfach aus und keinen schert das. Und dann gibt es die Leistungsträger, die hart arbeiten und Geld verdienen. Hauptsache, sie tun es, womit ist nicht die Frage. Ob sie nun Schrott produzieren oder die Umwelt vergiften oder damit beschäftigt sind, andere arbeitslos zu machen – was soll's. Hauptsache sie verdienen genug, um "der Allgemeinheit" nicht zur Last zu fallen. Wenigstens nicht durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Das andere ist unerheblich. Das Interessante ist, dass in der ganzen Debatte so getan wird, als lebten wir in einer Gesellschaft kleiner Warenproduzenten die voneinander unabhängig vor sich hinwerkeln und in der die Arbeiten der einen nicht die Voraussetzung des Erfolgs des anderen sind. In Wirklichkeit haben wir eine komplex arbeitsteilige Wirtschaft, in der es von vielen und meist gar nicht so subjektiven Bedingungen und Zufälligkeiten abhängt, wer welchen Teil der Sozialprodukts sich aneignen kann. Oder lässt sich die Gehaltsdifferenz zwischen einer Krankenschwester und einem Daytrader etwas mit Leistung oder Qualifikation erklären? Dies zum Kapitel Leistungsträger.

Schlaue Ökonomen haben immerhin festgestellt, dass es völlig rational ist, nicht für einen Hungerlohn zu arbeiten, wenn man Anspruch auf eine ähnlich hohe oder höhere soziale Unterstützung hat. Die Problemdiagnose lautet, dass der Abstand zwischen Löhnen und Sozialleistungen zu gering sei. Das führt zu der Schlussfolgerung, dass deshalb halt die sozialen Leistungen gekürzt werden müssen, um zur Arbeit zu zwingen. Dass das so definierte ökonomische Rationalitätsproblem seine Wurzeln vielleicht darin haben könnte, dass die Reallöhne ständig geringer werden, ist kein Thema. Es geht darum, den zum Abbruch freigegebenen "welfare"- in einen "workfare-state" zu verwandeln, in dem die "working poor", also diejenigen, die mit ihrer Arbeit nicht einmal mehr einen angemessenen Lebensunterhalt verdienen können, zur Normalerscheinung werden.

Hinter dem Moraldiskurs über "Faulheit" steht also schlicht die Absicht einer weiteren Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten der ohnehin immer reicher werdenden Reichen. Die Ergebnisse des erst vorgelegten Armutsberichts scheinen immer noch etwas unbefriedigend ausgefallen zu sein. Und der Moraldiskurs funktioniert, weil er nicht nur populistisch an den in der "Arbeitsgesellschaft" zur Norm gewordenen Zwangscharakter, sondern auch an schlichten Neid appelliert, Neid gegenüber denen, die sich dem Aberwitz der Konsumgesellschaft entziehen und sich ihr Leben anders einrichten, in der Regel auch keineswegs faul sind, sondern andere Tätigkeits- und Lebensweisen bevorzugen, eben eine andere und wahrscheinlich zukunftsweisendere Vorstellung von einem guten Leben praktizieren.

Nun könnte man sich fragen, warum eine so reiche Gesellschaft wie die hiesige es sich nicht leisten können sollte, diejenigen materiell abzusichern, denen sie keine Lohnarbeit zu vernünftigen Bedingungen garantieren kann. Wenn das über die traditionellen, auf relative Vollbeschäftigung abgestellten sozialen Sicherungssysteme nicht mehr zu bewerkstelligen ist, könnten andere Regelungen gefunden werden, siehe zum Beispiel die Diskussionen über ein garantiertes Grundeinkommen, aus Steuermitteln finanziert. Wobei auch zu überlegen wäre, ob es wirklich sinnvoll ist, dass die Reichen immer weniger, die Ärmeren aber immer mehr Steuern zahlen und dies von Steuerreform zu Steuerreform immer stärker. Allerdings geht es bei der Transformation des "welfare-" in einen "workfare state" durchaus nicht nur um Finanzierungsprobleme. Vielmehr ist es das Ziel, die materiellen Abhängigkeiten und Disziplinierungsmechanismen zu festigen, die mit dem kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnis verbunden sind und die zu versagen drohen, wenn immer weniger willens oder in der Lage sind, sich diesem unterzuordnen. Solche Leute könnten in der Tat auf dumme Gedanken kommen. Es geht also darum, eine "Unternehmergesellschaft" zu schaffen, in der der Kampf um immer mehr Einkommen zwecks immer mehr Konsum die allgemeine Verhaltensregel darstellt. Weil, natürlich, das Kapital nur bestehen kann, wenn es permanent akkumuliert und expandiert, koste es was es wolle.

Und kosten tut das einiges. Man könnte das Problem auch einmal von einer ganz anderen Seite her betrachten. Zum Beispiel daran denken, welches Zerstörungspotential der herrschende Modus gesellschaftlicher Produktivität und Leistung beinhaltet. Die Anhäufung von Zweit- und Drittwagen, von überflüssigen Haushaltsgeräten, von Wegwerfpackungen und Statusmarkenkrempel, von röhrenden und stinkenden Motorrädern, die Kurztrips in die Karibik, die Mehrfachausstattung mit Handys und überflüssiger Software macht bekanntlich mehr kaputt als nur die natürlichen Lebensbedingungen. Sie erzeugt auch Stress, raubt Freizeit und läßt das Leben verkümmern. Wenn Leben nicht darin besteht, Maschinen - im wahrsten Sinne des Wortes - zu bedienen und eben dadurch in der Form von workaholics und Microsoftmarionetten zu deren Anhängsel zu werden. Ganz abgesehen davon, dass dies notwendigerweise zu Lasten anderer und materiell weniger bevorzugter Regionen der Welt geht, weil schließlich bekannt ist, dass eine globale Verallgemeinerung der hiesigen Lebensweise in kurzer Frist den gesamten Globus kollabieren ließe.

So gesehen, könnte man allmählich realisieren, dass diejenigen, die sich dem herrschenden Zirkel von immer mehr Arbeit und immer mehr Konsum entziehen und anders leben zumindest nicht so viel kaputt machen als die allseits hochgelobten Leistungsträger. Was also zu fordern wäre, ist nicht nur ein Recht auf Faulheit, sondern die Anerkennung dessen, dass das herrschende Produktions- und Wachstumsmodell immer zerstörerische Folgen zeitigt und die Gesellschaft wenn nicht auf eine Katastrophe zusteuern so doch auf jeden Fall immer weniger lebenswert werden lässt. Was heißt, dass vor allem diejenigen materiell zu entlohnen wären, die diesen Wahnsinn nicht mitmachen und Tätigkeits- und Lebensweisen entwickeln, die produktiver und weniger zerstörerisch sind. Es geht also keineswegs um die moralische Frage, wer unter welchen Umständen "faul" sein darf. Es geht tatsächlich um die Zukunft der "Arbeitsgesellschaft", wenn auch anders, als die Wachstums-, Standort- und Sozialproduktsfetischisten sich dies vorzustellen vermögen. Fordern wir also Lohn für Nicht(lohn)arbeit. Das wäre wirklich zukunftsweisend!

© links-netz Mai 2001