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Was bedeutet eigentlich „Freihandel“?

Joachim Hirsch

In den Hochzeiten des neoliberalen Globalisierungshypes galt unbeschränkter Freihandel sowohl in der einschlägigen Wissenschaft als auch im Medien-Mainstream als Garant für Wohlstand, Wachstum und Entwicklung weltweit. Die Politik der führenden Staaten folgte diesem Dogma ziemlich bedingungslos. Auch hier war „Deregulierung“ angesagt. Von vielen Linken wie auch von der globalisierungskritischen Bewegung wird dieses zwischenzeitlich zu einer Art Glaubensbekenntnis avancierte Prinzip hingegen grundsätzlich in Frage gestellt. Damit handeln sie sich den Vorwurf ein, sie forderten die Rückkehr zum nationalstaatlichen Protektionismus und sabotierten damit das neoliberale Glücksversprechen. Das hängt auch damit zusammen, dass es in linken Strömungen und Parteien eine gewisse Neigung gibt, den stark auf einzelstaatliche Kontrollen des Waren- und Kapitalverkehrs bauenden fordistischen Nachkriegskapitalismus zu idealisieren. Unter diesen Bedingungen war es möglich, korporatistische Regulierungsweisen unter Einbeziehung der Gewerkschaften zu etablieren und die sozialstaatlichen Systeme auszubauen. Allerdings wird dabei wenig beachtet, dass die Existenz des fordistischen Systems einer historisch spezifischen internationalen Machtkonstellation – dem Blockgegensatz des Kalten Kriegs – geschuldet war und in den siebziger Jahren selbst in eine schwere Krise geriet. Der „kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Burkart Lutz) war also schnell ausgeträumt. Im neuen US-Präsidenten hat diese Tendenz nun jedoch ganz unerwartet einen Verbündeten gefunden. Protektionismus steht wieder auf der internationalen Tagesordnung. Während Donald Trump jedoch schlicht eine Rückkehr zum nationalstaatlichen Protektionismus plant, argumentieren die linken KritikerInnen – etwa aus dem Attac-Umfeld – erheblich differenzierter. Angesichts dieser neuen Gemengelage ist es hilfreich, dass Christian Christen, Thomas Eberhardt-Köster und Roland Süß eine Schrift vorgelegt haben, die die wesentlichen Kritikpunkte an der neoliberalen Freihandelsideologie zusammenfasst und versucht, Alternativen aufzuzeigen.

Die Autoren wenden sich gegen den Vorwurf, die Kritik am herrschenden Freihandelsregime sei protektionistisch, rückwärtsgewandt und nationalistisch motiviert und betonen, dass „ein übersteigerter Protektionismus oder die strikte Abschottung weiter Teile einer Volkswirtschaft ...ohne Zweifel sozial, ökonomisch und auch politisch mehr als fatal“ sei (8f.). Dies auch mit dem Verweis auf die negativen Folgen der protektionistischen Importsubstitutionspolitik, die vor allem lateinamerikanische Staaten in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg verfolgt haben. Sie wenden sich gegen eine schablonenhafte Entgegensetzung von Freihandel und Protektionismus, die weder der realen Struktur des Welthandels noch differenzierteren wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen gerecht werde. Gegen die neoliberale Mystifizierung von Deregulierung wird eingewandt, dass es in der internationalen Handelspolitik immer um interessengeleitete Regulierung geht, im Falle des herrschenden Freihandelsregimes eben zugunsten des internationalisierten Kapitals. Die den wissenschaftlichen, publizistischen und politischen Mainstream kennzeichnende Erzählung von den Wohltaten des Freihandels habe ein weder theoretisch und empirisch belastbares Fundament, noch bilde sie die Realität der bestehenden Handelsbeziehungen ab.

Um dies zu begründen, wird die durchaus wechselvolle Geschichte der internationalen Handelsbeziehungen seit dem Merkantilismus skizziert, verbunden mit einer kritischen Auseinandersetzung mit klassischen Freihandelstheorien, von Adam Smith und David Ricardo bis zur Neoklassik und neueren Ansätzen der Außenhandelstheorie. Dabei wird hervorgehoben, dass diese Theorien immer schon spezifische Klasseninteressen verfolgten, was problematische Realitätsblindheiten und theoretische Engführungen zur Folge hatte. Ausgeblendet werde dabei nicht zuletzt die Tatsache, dass in der Geschichte erfolgreiche Entwicklungs- und Wachstumsstrategien grundsätzlich auf einer Einschränkung des Freihandels beruht haben, so etwa bei der nachholenden Entwicklung der kontinentaleuropäischen Staaten im Verhältnis zu Großbritannien. Eine Beseitigung von Entwicklungsungleichheiten erfordere nämlich strukturelle ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen, die durch den Druck der globalen „Märkte“ in der Regel eher verhindert werden. Unbeschränkter Freihandel kann deshalb dazu führen, diese Ungleichheiten weiter zu vergrößern. Am Beispiel der aktuellen Diskussionen um TTIP und CETA wird dargelegt, dass die zur Rechtfertigung dieser Vorhaben dienenden ökonomischen Modelle so konstruiert sind, dass negative Folgen systematisch ausgeblendet werden. „Statt vom globalen Handel zu profitieren, stagnieren mehr und mehr Länder oder werden auf die mit hohen Umweltschäden verbundene Ausbeutung ihrer Rohstoffe zurückgeworfen“ (50). Gerade die Situation in der EU zeige nicht nur am Beispiel Griechenlands, dass die Ungleichheiten zwischen den einzelnen Staaten durch Freihandel immer weiter vergrößert werden. Internationale Handelspolitik ist immer – und gelegentlich auch mit militärischer Gewalt durchgesetzte Machtpolitik.

Das aktuell (noch) bestehende Freihandelsregime beruht auf der internationalen ökonomischen, militärischen und politischen Dominanz der USA, was im Übrigen darauf hindeutet, dass die von Trump angezielte Politik einiges mit deren Niedergang zu tun haben könnte. Dazu kommt, dass Deregulierung und Privatisierung keinesfalls dazu geführt haben, die Krise des neoliberalen Kapitalismus zu beenden. Im Gegenteil: „sie führt nicht nur zu einer ungerechten Verteilung des Reichtums und zu einer Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme. Sie erhebt Konzerninteressen auch zum entscheidenden Maßstab politischer Entscheidungen“ (86). Dies insbesondere dann, wenn Freihandelsabkommen mit weitreichenden Investitionsschutzregelungen verbunden werden, die demokratisch gewählte Regierungen dem Diktat international operierender Unternehmen unterwerfen.

Schlussfolgerung ist, dass scheinbar gleiche Handelsbeziehungen sich ins Gegenteil verkehren, wenn die beteiligten Akteure unterschiedliche Bedingungen und Machtpositionen aufweisen. Diese an sich alte Erkenntnis wird in den aktuellen Verlautbarungen und Diskussionen in der Regel unterschlagen. Bei dem gegenwärtigen Freihandelsregime handle es sich praktisch um einen Protektionismus für internationale Konzerne. Sie werden vor sozialen Regulierungen und demokratischen Kontrollen geschützt. Was demgegenüber gebraucht werde, sei „eine Handelspolitik, die anerkennt, dass sich nicht alle Güter und Dienstleistungen für Märkte eignen, dass ökonomisch Schwächere ein Recht auf Schutz haben und dass die Natur nicht übernutzt werden darf“ (88). Die Forderung, Mensch und Natur und nicht die Profitmaximierung in den Mittelpunkt der Politik zu stellen, die Handelspolitik demokratischer Kontrolle zu unterwerfen und die Bedingungen für einen gerechten Welthandel zu schaffen, kann man zweifellos unterschreiben. Offen bleibt dabei allerdings nicht nur die Frage, wie ein Kapitalismus ohne Profitmaximierung denkbar sein sollte, sondern vor allem auch, welche konkreten Regelungen, institutionelle Rahmenbedingungen und Entscheidungsprozeduren dafür erforderlich wären. Die von den Autoren am Schluss skizzierten Alternativen bleiben in dieser Hinsicht noch mehr als vage. Wenn der internationale Handel „gerecht“ sein soll, dann bleibt offen, was genau unter diesem vielfältig interpretierbaren Begriff zu verstehen ist und vor allem, welche Interessenkonstellationen wie berücksichtigt werden sollten. Was die Durchsetzbarkeit angeht, vertrauen die Autoren auf dem Druck der öffentlichen Meinung und der sozialen Bewegungen. Dass dabei auf staatliche Politiken allein kaum gesetzt werden kann, lehren die Erfahrungen und die Tatsache, dass infolge der neoliberalen Umstrukturierung von Gesellschaft und Politik die Regierungen stärker als je vom internationalisierten Kapital abhängig sind und demokratische Prozesse weitgehend leer zu laufen drohen.

Es wäre nützlich gewesen, den Text etwas besser zu strukturieren und damit auch einige Redundanzen zu vermeiden. Die Autoren haben sich zwar bemüht, ihre Argumentation auch für ökonomische Laien verständlich darzulegen. Dass die Darlegung nichtsdestotrotz stellenweise einige wirtschaftswissenschaftliche Fachkenntnisse verlangt, ist wahrscheinlich unvermeidlich. Davon abgesehen handelt es sich aber um eine gerade angesichts der wiederaufgeflammten Freihandelsdiskussion sehr nützliche und wichtige Publikation.

Christian Christen, Thomas Eberhard-Köster, Roland Süß: Friede, Freude, Freihandel. Theorie und Praxis einer fixen Idee. Attac BasisTexte 49, Hamburg: VSA-Verlag 2017, 94 Seiten.

© links-netz Mai 2017