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Geht Frau Merkel doch nicht zum Diktat?

Joachim Hirsch

Im Herbst 2010 wurde von der schwarz-gelben Regierung und dem Parlament die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke beschlossen. Schon damals gegen den Willen einer Mehrheit der Bevölkerung und ganz offensichtlich mit dem Ziel, den vier den hiesigen Elektroenergiemarkt kontrollierenden Konzernen maximale Profite zu verschaffen. Und dann, ein halbes Jahr später, war alles anders. Die Laufzeitverlängerung wurde zurück genommen und der endgültige Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Jahr 2022 beschlossen – zumindest vorerst einmal. Selbst der etablierten Presse war damals klar, dass sich die Kanzlerin als Dienerin einiger Großkapitale gezeigt hatte. Die Süddeutsche Zeitung hatte treffend getitelt: „Frau Merkel, bitte zum Diktat!“. Und dann dieser Schwenk!. Reagiert die Politik schließlich doch auf so etwas wie einen Volkswillen?

In Wirklichkeit ist die Sache ist etwas komplizierter. Dazwischen lag der Atomkraftwerk-GAU in Japan und vor allem gab es Landtagswahlen. Die Kraftwerks-“Havarie“ in Fukushima, durch die eine ganze Region verstrahlt wurde und deren langfristige Folgen immer noch nicht genau absehbar sind, hat ein weiteres Mal die enormen Risiken dieser Technologie vor Augen geführt. Zumal es sich nicht wie bei Tschernobyl um eine realsozialistische, sondern um eine kapitalistische Anlage handelt. Die regierenden Parteien erhielten bei den folgenden Wahlen die Quittung für ihre Atompolitik und die GRÜNEN waren bekanntermaßen die großen Gewinner. Angesichts dieser Ergebnisse und der herrschenden politischen Stimmung mussten CDU/CSU und FDP damit rechnen, in absehbarer Zeit ihre Regierungsmehrheiten nicht nur in einigen Ländern, sondern auch im Bund zu verlieren. Das war der Grund für eine politische Kehrwende, die man nur als populistisch bezeichnen kann. Was im Herbst 2010 noch als „Revolution“, als Gebot der Vernunft oder auch als Maßnahme zur Sicherung des „Standorts Deutschland“ verkauft wurde, war plötzlich Makulatur und das Gegenteil richtig. Der Atomausstieg wurde wie damals der Wiedereinstieg als „Revolution“ gefeiert, was Gregor Gysi zu der treffenden Aufforderung veranlasst hat, die Regierung möge doch mal genauer zwischen Revolution und Konterrevolution unterscheiden. In diesem Falle folgte gewissermaßen die erstere der letzteren.

Die ganze Geschichte hat einerseits den Charakter eines absurden Theaters, lehrt aber andererseits einiges über die Funktionsweise der hierzulande real existierenden Demokratie. Da ist zunächst einmal der Populismus.Von realen Bevölkerungsinteressen weitgehend abgekoppelt und zu staats- und spendenfinanzierten Wahlkampfmaschinen verkommen, reagieren die Parteien ohne Rücksicht auf politische Prinzipien verstärkt auf Stimmungen, sofern sich diese im konkreten Wahlverhalten niederschlagen. Dies wird umso bestimmender, je mehr die Stammwählerschaft der einstigen „Volksparteien“ bröselt. Eine deutsche Besonderheit ist die relative Stärke der Ökologie- und Anti-Atomkraft-Bewegung. Ohne deren jahrzehntelanges Wirken hätte der GAU im fernen Fukushima kaum diese Resonanz gehabt. Das zeigen die Reaktionen in anderen Ländern, wo der Atomkurs auch nach dem GAU kaum in Zweifel gezogen wird. Soziale Bewegungen, selbst wenn sie keine kurzfristigen Erfolge verbuchen, können also auf längere Sicht die politischen Kräfteverhältnisse doch erheblich verändern.

Warum aber kann sich Frau Merkel dem Diktat der Energiekonzerne entziehen? Ist die staatliche Politik letztendlich doch Ausdruck eines demokratischen Volkswillens? Der Staat eben doch irgendwie unabhängig vom Kapital? Ist die Rede vom „Diktat“ falsch? Jedenfalls nicht ganz. Das „Kapital“ ist keine geschlossene Einheit, sondern zerfällt in konkurrierende Gruppen und Fraktionen. Die faktische Monopolstellung der großen Stromkonzerne und die Folgen der von ihnen durchgesetzten Politik waren anderen Unternehmen und Branchen durchaus ein Dorn im Auge. Die überhöhten Strompreise, mit denen diese ihre Riesengewinne machen, empfindet die übrige Industrie keinesfalls als angenehm. Und die Branche der Energieerzeuger ist selbst gespalten. So hat der Verband der Energieerzeuger, in dem viele kleinere und alternative Anbieter versammelt sind, die Laufzeitverlängerung als für seine Geschäftsinteressen schädlich scharf angelehnt. Diese „Fraktion“ ist heterogener und weniger schlagkräftig als die Strommonopole, aber durchaus relevant. Im Falle der Atompolitik hat die Regierung unter dem Druck der öffentlichen Meinung also sozusagen die unterstützende Kapitalfraktion gewechselt, eben die, die auf erneuerbare Energien und die dafür notwendigen Technologien setzt. Kapitalistische Staaten sind immer nur relativ autonom im Verhältnis zum Kapital. D.h. sie können unterschiedliche kapitalistische Strategien verfolgen, aber das Kapitalverhältnis nicht grundsätzlich in Frage stellen. Die Fraktionierung des herrschenden Machtblocks lässt durchaus verschiedene Kapitalverwertungsstrategien zu und bei deren Durchsetzung können demokratische Prozesse eine wichtige Rolle spielen. In Deutschland hat sich in den vergangenen Monaten ein derartiger Prozess vollzogen. In einem komplexen Geflecht von Macht- und Kräfteverhältnissen scheint sich hier eine veränderte Kapitalverwertungsstrategie, ein neuer kapitalistischer Akkumulationsmodus durchzusetzen, bei dem modernere, auf anderen Technologien beruhenden Industrien bestimmend sind. Es zeichnet sich also etwas ab, was man als inzwischen gerne als „Grünen New Deal“ bezeichnet. Dies hätte weitreichende gesamtwirtschaftliche Konsequenzen. Der Zwang, auf alternative Formen der Energieerzeugung zu setzen, dürfte nämlich dem hiesigen Kapital auf längere Sicht beachtliche Konkurrenzvorteile auf dem Weltmarkt verschaffen, wenn man bedenkt, dass die Atomenergie sich immer deutlicher als ebenso teure wie riskante Sackgasse erweist und das Ende des Ölzeitalters vor der Tür steht. Das Ergebnis der atompolitischen Auseinandersetzungen ist insoweit eine gelungene Standortpolitik, die auch im längerfristigen Interesse des Kapitals insgesamt liegt. Das lag allerdings kaum im Plan des „Kapitals“ oder der Regierung, sondern setze sich gewissermaßen hinter deren Rücken durch.

Faktisch hat die also Existenz einer starken sozialen Bewegung, vermittelt über die Mechanismen der liberalen Demokratie, dem kapitalistischen Staat schließlich doch noch zu der relativen Autonomie verholfen, die Voraussetzung für die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft auf längere Sicht ist. Das ist freilich nicht immer der Fall und hängt von spezifischen historischen Konstellationen und Kräfteverhältnissen ab. In diesem Falle hat das funktioniert, könnte man sagen. Auf anderen Politikfeldern ist das allerdings keineswegs so. Was beispielsweise den Bereich des Sozialen angeht, so gibt es keine Bewegung, die eine Politik korrigieren könnte, die zu einem immer weiteren Auseinanderfallen der Gesellschaft führt und von dieser Seite her ihre Grundlagen noch sehr viel ernsthafter in Frage stellt.

© links-netz August 2011