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Fundamentalismus

Joachim Hirsch

Die hessische Kultusministerin Wolff möchte, dass im Biologieunterricht künftig neben der Evolutionstheorie auch die biblische Schöpfungsgeschichte gelehrt wird. Sie sieht die Auseinandersetzung mit der „christlich-humanistischen Kultur“ als „eine Verpflichtung für alle Fächer und alle Lehrkräfte (Frankfurter Rundschau, 9.10.2006). Mit dem sogenannten Kreativismus, der die biblischen Aussagen gegen alle wissenschaftliche Erkenntnis für wahr erklärt und vor allem in den USA einige Furore macht, möchte sie sich allerdings nicht in Verbindung bringen lassen. Aber es müsse zulässig sein, die Evolutionstheorie in Frage zu stellen. Es geht ihr dabei, ganz liberal, nur um die Erörterung von „Gegensätzen und Konvergenzen“. Dass es etwas schwer fallen dürfte, eine wissenschaftlich fundierte Theorie mit einer Geschichtenerzählung zu konfrontieren, scheint der Bildungsministerin dabei entgangen zu sein. Diese Äußerungen sind nicht nur zukunftweisend gemeint. Dass laut einer Recherche des TV-Senders Arte in einer Gießener Privatschule bereits heute kreationistische Lehren verbreitet werden, hält die zuständige Kultusministerin für eine völlig unbedenkliche Bereicherung des Bildungsangebots.

Dass Frau Wolff Derartiges von sich gibt, überrascht angesichts ihrer christkonservativen Einstellung nicht weiter. Immerhin geht sie nicht ganz so weit wie ein stellvertretender Minister im ebenfalls christlich-humanistisch-abendländischen Polen, der die Evolutionstheorie für Teufelswerk und die biblischen Geschichten für wahr hält (FR, 4.11.2006). Bemerkenswert ist allerdings, dass Wolffs Äußerungen kaum eine öffentliche Reaktion hervorgerufen haben. Das verweist auf eine folgenreiche Verschiebung des herrschenden Diskurses. Religion ist wieder zu einer zentralen Kategorie der Welterklärung geworden und beschäftigt einen guten Teil des Feuilletons. Sie gilt offenbar als unverrückbarer Bestandteil der menschlichen Natur und muss daher nicht mehr hinterfragt werden. Die öffentliche Debatte kreist eher um das Verhältnis von schlechter – in der Regel islamischer – und guter – natürlich christlicher – Religion. Es wird nicht nur hingenommen, sondern sogar (wie im „Spiegel“) positiv gewürdigt, wenn der Papst meint, ohne christliche Werte gebe es keine vernünftige gesellschaftliche Ordnung und damit die europäische Aufklärungsphilosophie schlicht ad acta legt. So ganz ernst ist das mit der „abendländischen Kultur“ nun eben doch nicht gemeint. Man hält es für ganz selbstverständlich, wenn Jugendliche bei Papstbesuchen in größeren Mengen einen alten Mann bejubeln. In der jüngst wieder einmal aufgeflammten Kopftuchdebatte dreht es sich vor allem darum, ob dieses nun vom Koran vorgeschrieben sei oder nicht – als wäre dieses Attribut der Frauenunterdrückung dadurch bereits gerechtfertigt. Man redet über einen „Dialog der Religionen“ ohne zu bemerken, dass die Anhänger von Glaubenswahrheiten zu einem rationalen Dialog logischerweise nicht fähig sind und Gesprächsbereitschaft bestenfalls taktisch verstehen können.

Karl Marx hatte einst die Religion das „das Opium des Volkes“ genannt. Er hat damit gemeint, dass Menschen, die in schlimmen und unwürdigen Zuständen leben dazu neigen, sich eine bessere Welt im Himmel vorzustellen, weil sonst das irdische Dasein vollends unerträglich schiene. Die heute herrschenden gesellschaftlichen Zustände sind sicherlich nicht mehr dieselben wie zu seiner Zeit. Umso erklärungsbedürftiger ist die Rückkehr des Religiösen in einer anscheinend doch durchgängig von ökonomischer und technischer Rationalität beherrschten Welt. Adorno hatte bereits darauf hingewiesen, dass der Aberglaube die Kehrseite instrumenteller Rationalität darstellt und dazu diene, „die Furcht vor der Unerbittlichkeit der sozialen Prozesse“ zu vermindern“ (Aberglaube aus zweiter Hand, Sociologica II, Frankfurt 1962, 147). Damit werde zugleich der Wille gelähmt, „etwas an der objektiven Fatalität zu ändern“ (166). Diese objektive Fatalität hat inzwischen in der Tat bedrückende Ausmaße angenommen. Es könnte durchaus sein, dass die Religion unter Bedingungen, in denen die Menschen sich immer stärker als abhängige Objekte ökonomischer und gesellschaftlicher Mechanismen sehen, in der Tat wieder zum „Opium“ wird. Was als „Globalisierung“ bezeichnet wird, ist nichts anderes als eine Strategie der Entmächtigung der Subjekte, die sich immer stärker als Opfer undurchschaubarer Mächte erleben müssen und immer öfter in ihrer schlichten materiellen Existenz bedroht werden.

Das könnte erklären, weshalb religiöse oder quasi-religiöse Orientierungen so vehement auf dem Vormarsch sind und allenthalben der Fundamentalismus grassiert, nicht nur in den islamischen Regionen und nicht nur in den USA oder Polen, sondern eben auch hierzulande. Wenn immer weniger zu verstehen ist, was die Verhältnisse an- und umtreibt, wächst der Hang zu quasi-religiösen Gewissheiten. Das gilt für die Welterklärungen missionierender Genetiker, für die die Darwinsche Evolutionstheorie auch keine überprüfbare Theorie, sondern eine unhinterfragbare Tatsache darstellt ebenso wie für die offizielle Wirtschaftswissenschaft. Auch diese hält eine unverrückbare Glaubenswahrheit bereit, nach der es der Markt und das Profitstreben seien, dessen Verfolgung den Himmel auf Erden verheißt. Sich um empirische Realitäten den Teufel scherend, hat dies sehr viel mehr mit Voodoo als mit wissenschaftlicher Analyse zu tun. Ihre stereotype Aussage, dass die bestehenden ökonomischen Verhältnisse richtig und unveränderlich seien, gehört jedenfalls eher in einen Katechismus.

Man kann sich allerdings fragen, ob diese Wiederkehr der Religiosität zumindest hierzulande wirklich durchgängig das allgemeine Bewusstsein kennzeichnet oder eher ein systematisch produziertes Konstrukt ist. Immerhin laufen den Kirchen ihre gläubigen Mitglieder immer mehr davon und fundamentalistische Sekten konnten, anders als etwa in Lateinamerika, bisher kaum Fuß fassen. Im breit zelebrierten Konsumismus findet die christliche Religiosität jedenfalls eine ernste Konkurrenz. Es könnte also sein, dass es sich bei der wieder entdeckten Religiosität nicht um das Opium des Volkes, sondern um Opium für das Volk handelt, das heißt um ein Herrschaftsinstrument, bei dessen Durchsetzung die Kirchen, der Papst und intellektuelle Wasserträger unterschiedlichster Couleur fleißig mitarbeiten. Ein Hintergrund dafür ist, dass die immer härter durchgesetzte Ökonomisierung der gesellschaftlichen Beziehungen und der damit inszenierte Kampf aller gegen alle in der Tat so etwas wie einen „Wertezerfall“ bewirkt. Dem damit zusammen hängenden Bröseln des gesellschaftlichen Kitts gilt es herrschaftstechnisch zu begegnen. Deshalb die positive Reaktion auf einen Papst, der dafür die christliche Religion nutzbar machen möchte.

Wenn politische und soziale Konflikte in der Welt, wie heute üblich, vorrangig auf religiöse Orientierungen und Gegensätze zurückgeführt werden, dann kann man sich die Frage nach ihren schlicht weltlichen Ursachen ersparen. Und je mehr PolitikerInnen mit ihrer Religionszugehörigkeit etikettiert werden, desto eher erübrigt sich auch die Suche nach den höchst materiellen Interessen, die sie vertreten. Islamischer und christlicher Fundamentalismus sind zwei Seiten derselben Medaille und bestärken sich gegenseitig. Dabei werden indessen regelmäßig die Untaten vergessen, die im Namen des Christentums angerichtet worden sind, über mörderische Kreuzzüge, Ketzerverfolgungen und Hexenverbrennungen bis hin zur kirchlichen Segnung von Mordinstrumenten. Dem Papst als ehemaligem Chef der vatikanischen Heiligen Inquisition müsste das eigentlich geläufig sein. Die Stilisierung des „islamischen Fundamentalismus“ zum zentralen Bedrohungsszenario hat die Funktion, von den ökonomischen und gesellschaftlichen Miseren hierzulande abzulenken und den Aufbau einer Überwachungs- und Kontrollapparatur zu legitimieren, vor dem totalitäre Systeme hätten vor Neid erblassen können.

Natürlich stellt die Zunahme fundamentalistischer Strömungen eine Gefahr dar, in der fundamentalistisch regierten westlichen Großmacht USA ebenso wie in der so genannten islamischen Welt. Dem Phänomen des islamischen Fundamentalismus wird man aber nur dann gerecht werden, wenn man in Rechnung stellt, dass er zumindest auch und in erheblichem Maße durch (neo-) koloniale Gewalttaten produziert worden ist und wird. Solange sich daran nichts ändert, wird er gedeihen, zuallererst zum Schaden der Menschen, die unter ihm zu leben gezwungen sind. Und auf der anderen Seite wird er weiter dazu dienen, im Rahmen des „Kriegs gegen den Terror“ mit Rückgriff auf demokratische und menschenrechtlichen „Werte“ permanente Militärinterventionen in den Teilen der Welt zu rechtfertigen, in denen die wichtigste Ressourcenbasis „unseres“ Energie fressenden Wohlstands zu finden ist.

Statt über die Qualität und Sinnhaftigkeit von Religionen zu reden, sollte wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden, dass Religionsfreiheit zuallererst Freiheit von Religion heißt. Vernunft und religiöse Glaubenslehren sind unvereinbar, und ohne das Bemühen um Vernunft sind Menschenrechte und Demokratie nicht denkbar. Wenn religiöser Glaube nicht strikt Privatsache bleibt, sondern zur Grundlage und Rechtfertigung politischer Herrschaftsverhältnisse und ökonomischer Ausbeutung wird, sind Unfreiheit und Unterdrückung vorprogrammiert. Das gilt nicht nur für den Islam, sondern auch für die „christlich-abendländische Kultur“. Dieser eine Art materiellem Verfassungsrang zuzuschreiben, wie es derzeit massiv versucht wird, hebt demokratische Verhältnisse letztlich auf.

© links-netz November 2006