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Auswege aus dem Kapitalismus

Rezension zu André Gorz: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie. Zürich 2009

Joachim Hirsch

André Gorz hat einmal geschrieben: „Es gilt zunächst, das Denken und die Phantasie von ideologischen Gemeinplätzen des herrschenden Diskurses zu befreien..., die gegenwärtige, auseinander fallende Gesellschaft aus der Perspektive der ganz anderen Gesellschaft und Ökonomie wahrzunehmen, die sich am Horizont der aktuellen Veränderungen als deren äußerster Sinn abzeichnen. Dies verpflichtet einerseits dazu, denn Sinn dieser Veränderungen und die sich daraus ergebenden Umrisse des Künftigen deutlicher auszumachen. Andererseits zwingt es zu der Einsicht, dass wir keine ‚Krise’ erleben, die durch die Wiederherstellung früherer Bedingungen gelöst werden könnte, sondern dass wir einen Wandel erleben, durch den der Kapitalismus seine eigenen Existenzgrundlagen zerstört und selbst die Voraussetzungen zu seiner eigenen Überwindung schafft“ (Auswege aus der Misere, in: Krebs/Rein, Existenzgeld, Münster 2000). Diesem Anspruch, der sein ganzes Werk prägt, geht er auch mit dem vorliegenden Bändchen nach. Es enthält von Gorz selbst zusammengestellte Texte aus den Jahren 1975 bis 2007, darunter zwei Interviews, wovon das eine interessante Aufschlüsse über seinen theoretisch-philosophischen Werdegang bietet. Das Buch ist somit ein theoretisches und politisches Vermächtnis geworden, das zugleich eine Einführung und einen Überblick über sein Lebenswerk verschafft. Die Beiträge stellen einen ebenso wichtigen wie radikalen Beitrag zu aktuellen Debatten über Reaktionen auf die ökonomische, ökologische und gesellschaftliche Krise dar.

Gorz schafft es, die sich in immer größeren Krisen und Verwerfungen äußernde Irrationalität der bestehenden Verhältnisse deutlich und eingängig herauszuarbeiten. So stellt er fest, dass wir heute einen Zustand erreicht haben, in dem ökonomisches Wachstum nicht nur mit immer mehr Verarmung und Zerstörung einhergeht, sondern dazu führt, die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse zu verhindern. Dies formuliert er prägnant in dem älteren, gleichwohl hochaktuellen Text über die gesellschaftliche Ideologie des Autos. Die Ausführungen von Gorz machen deutlich, was den Unterschied zwischen dem ideologischen Gewäsch sogenannter „Wirtschaftsweisen“ und der ökonomischen Vernunft ausmacht.

Frappant ist nicht zuletzt, wie klar er die aktuelle Weltwirtschaftskrise vorausgesehen und ihre wirklichen Ursachen benannt hat, bevor diese offen ausgebrochen war. Seine zentrale These ist, dass die beschleunigte ökonomische Rationalisierung die Menge der zur Produktion erforderlichen lebendigen Arbeit immer weiter vermindert und dass dies in doppelter Weise die Existenz des Kapitals untergräbt: Einerseits wird damit die Basis der Mehrwertproduktion immer kleiner, zum anderen werden die Grundlagen der auf dem Lohnverhältnis beruhenden Arbeitsgesellschaft unterminiert. Dazu kommt, dass der auf expansives Wachstum der Warenproduktion angelegte Kapitalismus immer deutlicher an natürliche Grenzen stößt.

Gorz bezieht sich bei seinen ökonomietheoretischen Analysen implizit auf das von Marx als grundlegende Krisentendenz des Kapitalismus bezeichnete Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, ohne allerdings auf dessen werttheoretische Problematik weiter einzugehen. Das Missverständnis, dieses als absolute Zusammenbruchstendenz zu begreifen, teilt er indessen nicht. Vielmehr geht er davon aus, dass damit Bedingungen geschaffen werden, die politisches Handeln ebenso erzwingen wie ermöglichen. Dieses ist nicht vorherbestimmt. Der „ökologische Imperativ“, d.h. dass der Prozess der Kapitalverwertung die natürlichen und sozialen Lebensgrundlagen zu vernichten droht, ist nicht allein Antriebkraft für emanzipatorische Bewegungen, sondern kann auch „von den Machtapparaten für sich in Anspruch genommen“ werden, um „deren Herrschaft über das tägliche Leben und das soziale Umfeld zu verstärken“ (34). Das heißt, der Ausweg aus dem Kapitalismus, den er für unumgänglich hält, kann durchaus auch in der Barbarei enden (28). Im Augenblick scheint dies die wahrscheinlichere Alternative zu sein.

Wie bereits in seinem „Abschied vom Proletariat“ (1980) übt Gorz eine vehemente Kritik an orthodoxen Sozialismusvorstellungen, die sich auf eine Aneignung der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse konzentrieren und zugleich die Lohnarbeit verherrlichen. Er insistiert darauf, dass die bestehende technische Apparatur nicht „übernommen“ werden kann. Nach Gorz muss diese grundlegend umgestaltet werden, um eine Kontrolle der Produzenten über die Produktionsmittel möglich zu machen. Ihm zufolge muss es darum gehen, den Warencharakter der Arbeit überhaupt zu überwinden. Gorz schlägt vor, Selbstbegrenzung und Selbstorganisation als umfassendes gesellschaftliches Projekt zu formulieren und damit gegen die Tendenz des Kapitals anzugehen, fortlaufend neue Bedürfnisse zu erzeugen, um sie durch immer größere Warenmassen zu befriedigen und damit die tatsächliche Lebensqualität zu vermindern. Die Vorstellungen davon, was unter den gegebenen gesellschaftlichen Möglichkeiten ein gutes und vernünftiges Leben sein könnte, bedürften einer grundlegenden Veränderung. Es komme darauf an: „die Garantie eines ausreichenden Einkommens von der Arbeitszeit und eventuell von der Arbeit selbst abzukoppeln; die gesellschaftlich notwendige Arbeit so umzuverteilen, dass alle arbeiten und sowohl besser wie weniger arbeiten können; Autonomieräume zu schaffen, in denen die von der Arbeit befreite Zeit von den Individuen für Tätigkeiten ihrer Wahl verwendet werden kann, einschließlich der Selbstreproduktion von Gütern und Dienstleistungen“ (49). Also: „weniger Arbeit und weniger Konsum einerseits, mehr existenzielle Autonomie und Sicherheit andererseits“ (49). Anstelle der industriellen Großproduktion komme es darauf an, die „kommunale kooperative Selbstproduktion“ zu fördern (89) und Marktmechanismen durch soziale Netzwerke zu ersetzen, in denen darüber bestimmt wird, „was produziert und wie und zu welchem Zweck das Notwendige auf lokaler Ebene hergestellt werden muss“ (87). Das ist für ihn Kommunismus und dieser ist die einzige Möglichkeit, die sich auf allen Ebenen zuspitzende gesellschaftliche Krise emanzipativ zu überwinden. Eine Chance dafür sieht er in der Entwicklung der neuen Informations- und Datenverarbeitungstechnologien.

Ob und unter welchen Bedingungen dies indessen wirklich der Fall ist, wäre allerdings noch zu überprüfen. Da schimmert ein technologischer Optimismus durch. Man könnte Gorz auch einen gewissen Romantizismus in Bezug auf die Wertschätzung von kleinen Einheiten oder traditionellen Lebenswelten und Alltagskulturen vorhalten. Allerdings sieht er selbst, dass deren Verteidigung nur als politisches Projekt denkbar ist, das über das Herkömmliche hinausgeht (48f.). Etwas problematisch erscheint schließlich auch das von Gorz ausgemalte Katastrophenszenario. Obwohl kein Zweifel daran bestehen kann, dass der Kapitalismus in globalem Maßstab in einer schweren und nicht nur ökonomischen, sondern auch gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Krise steckt, sollte die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit dieses Gesellschaftssystems nicht unterschätzt werden, die es über viele Krisen hinweg gezeigt hat. Unter anderem haben gerade soziale Bewegungen wie die Ökologiebewegung immer wieder dazu beigetragen, ihm ein neues Gesicht und eine neue Bestandsfähigkeit zu verleihen.

Auffallend ist an allen Texten, dass sich Gorz in Bezug auf die von ihm anvisierten Auswege aus dem Kapitalismus nur sehr allgemein äußert. Ein politisches Projekt in dieser Richtung bedürfte einiges an Konkretion und müsste plausible Schritte beinhalten, um Überzeugungskraft zu erhalten (vgl. dazu z.B. die Überlegungen von links-netz zur sozialen Infrastruktur). Und es stellt sich nicht zuletzt die Frage, welche Akteure dieses formulieren und vorantreiben könnten. Neben etwas vagen Hinweisen auf „die“ Ökologiebewegung bezieht sich Gorz dabei noch recht stark auf die grünen Parteien. Bei diesen ist allerdings von radikaler Kapitalismuskritik ebenso wenig zu bemerken wie von visionären Gesellschaftsvorstellungen. Hier scheint selbst bei Gorz noch ein gewisser politischer Traditionalismus wirksam zu sein. Gleichzeitig betont er aber auch die Bedeutung praktischer Ansätze zur Realisierung neuer Vergesellschaftungs- und Produktionsformen.

Es bleibt, dass er es wie wenig andere tatsächlich schafft, über den „Tellerrand des Bestehenden“ hinaus zu blicken und radikal veränderte gesellschaftliche Verhältnisse ins Auge zu fassen. Er setzt damit ein Signal gegen ein Einheitsdenken, von dem selbst Linke heute nicht ganz frei sind. Seine Schriften sind auf jeden Fall Grundlage und Anregung fürs Weiterdenken.

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