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Neue Dimensionen in der Grundeinkommensdebatte

Joachim Hirsch

Das allgemeine und garantierte Grundeinkommen war bisher im wesentlichen Gegenstand von Überlegungen und Diskussionen unter Erwerbsloseninitiativen, SozialarbeiterInnen oder einigen verstreuten Intellektuellen. Inzwischen scheint das Thema "Grundsicherung" allmählich auf der Tagesordnung des politischen Mainstreams anzukommen. Was dies bedeutet, setzt vorab eine Klärung der Begriffe voraus. "Grundsicherung" kann vieles bedeuten, von materieller Unterstützung noch unterhalb der Armutsgrenze bis hin zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens angesichts der gegebenen gesellschaftlichen Möglichkeiten, von der Perfektionierung eines Überwachungs-, Kontroll- und Disziplinierungsnetzwerks bis zur Schaffung der Bedingungen für selbstbestimmte Tätigkeit und gesellschaftliche Teilhabe. Insofern stellt das bedingungslose, allgemeine und materiell ausreichende Grundeinkommen oder Existenzgeld etwas ganz anderes dar als viele andere "Grundsicherungs"-Modelle, die derzeit gehandelt werden.

"Grundsicherung" scheint jedenfalls zu einem immer breiter behandelten gesellschaftlichen Thema zu werden. Etablierte Wohlfahrtsverbände beschäftigen sich damit und die katholische Arbeiterbewegung rechnet Modelle durch. Ein mit Unternehmensberatung befasstes "Interfakultatives Institut für Entrepreneurship" hat kürzlich eine halbe Anzeigenseite in der Frankfurter Rundschau geschaltet, um dafür zu werben. Unabhängig von den dabei im einzelnen maßgebenden Motiven hat diese zunächst überraschend anmutende Entwicklung Gründe. Nach dem die Möglichkeit von Vollbeschäftigung in immer weitere Ferne gerückt ist und angesichts der Tatsache, dass ökonomisches Wachstum längst nicht mehr den allgemeinen Wohlstand hebt, sondern die Armut vergrößert und gesellschaftliche Spaltungen vertieft, beginnt man darüber nachzudenken, wie die Ausgegrenzten und überflüssig Gemachten so weit ruhig gestellt werden können, dass der Standort politisch stabil bleibt. Da die hergebrachten Sozialversicherungssysteme angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Prekarisierung vor dem Kollaps stehen, muss man sich etwas Neues überlegen. Es ist zu vermuten, dass dabei auch ein unerwarteter Nebeneffekt der Hartz IV-Gesetze eine Rolle spielt. Das Arbeitslosengeld II stellt ja so etwas wie eine allgemeine und auf rechtlichen Ansprüchen gegründete Grundsicherung dar – allerdings auf miserablem materiellem Niveau und mit ebenso engen wie kleinlichen bürokratischen Kontrollen zwecks Schonung der öffentlichen Finanzen und Aufrechterhaltung eines Zwangs zur Lohnarbeit, die es nicht mehr ausreichend gibt. Immerhin hat es aber auch Chancen gebracht, z.B. für Jugendliche, die sich vom Elternhaus emanzipieren wollen. Dies will die neue Koalition nun auch wieder revidieren. Bemerkenswert ist auch, dass viele, die sich bisher nicht getraut haben, Sozialhilfe zu beantragen, nach der Einführung des ALG II diese Hemmung abgelegt zu haben scheinen. Der Anspruch auf materielle Existenzsicherung unabhängig von der Lohnarbeit gewinnt im allgemeinen Bewusstsein an Legitimität. Die Wahrnehmung der legalen Möglichkeiten - vom unsäglichen Clement flugs als Parasitentum denunziert - hat nicht nur Haushaltsansätze zur Makulatur werden lassen, sondern signalisiert auch sich verschiebende gesellschaftliche Einstellungen. Zumal immer offenkundiger wird, wie wenig die sogenannten Leistungsträger zum allgemeinen Wohl beitragen. Hartz IV könnte somit eine Dynamik entfalten, die seine UrheberInnen keineswegs einkalkuliert hatten.

Damit verändert sich allerdings auch das Terrain der Auseinandersetzungen. Möglicherweise geht es in Zukunft immer weniger um das Ob, sondern vor allem um das Wie, das heißt um minimale, disziplinierende und kontrollierende "Grundsicherung" für Arme oder um ein garantiertes und Grundeinkommen für alle. Es könnte sein, dass die Debatten um die angebliche Unmöglichkeit einer Finanzierung oder die vor allem von gestandenen Gewerkschaftern immer wieder gehegte Befürchtung, dass eine Lockerung des Lohnarbeitszwangs allgemeinem Faulenzertum Vorschub leiste, dadurch in den Hintergrund gedrängt werden. Um so wichtiger wird es, zu realisieren, dass Grundsicherungsmodelle nicht grundsätzlich emanzipativ sind. Die Einwände sind bekannt: ein garantiertes Mindesteinkommen kann dazu dienen, soziale Spaltungen akzeptabel zu machen, es kann die Diskriminierung von Frauen verstärken und es wirkt für sich genommen der fortschreitenden Kommodifizierung und Kommerzialisierung der gesellschaftlichen Beziehungen keineswegs entgegen. Das macht seine Anziehungskraft für Konservative und Neoliberale aus.

Die Auseinandersetzungen werden in Zukunft darum gehen, ob die allgemeine Grundsicherung zum Bestandteil einer neuen Politik des Sozialen gemacht werden kann oder auf das Management einer immer katastrophalere Züge annehmenden gesellschaftlichen Entwicklung beschränkt bleibt. Dabei geht es natürlich zunächst einmal um die Höhe, d.h. dass nicht Armut verwaltet, sondern ein menschenwürdiges Leben und gesellschaftliche Teilhabe garantiert werden. Und es geht um die Bedingungslosigkeit, d.h. die Abschaffung von Arbeitszwang und der ausufernden bürokratischen Kontrolle von Vermögens- und Lebensverhältnissen. Vor allem wird es aber darauf ankommen, für das Grundeinkommen als Bestandteil einer allgemeinen sozialen Infrastruktur zu kämpfen, so wie es das links-netz vorschlägt. Nur ein konsequenter Ausbau der sogenannten öffentlichen Güter gegen den herrschenden Privatisierungstrend, d.h. wenn grundlegende Lebensbereiche wie Gesundheit, Bildung, Wohnen und Verkehr entkommerzialisiert und in dezentralisierten Strukturen von den Betroffenen selbst verwaltet werden, wird es zu einer demokratischen und humanen Veränderung der gesellschaftlichen Beziehungen kommen.

Es kommt jetzt darauf an, sich von den neoliberalen Verwaltern der bestehenden Zustände politisch und argumentativ das Heft nicht aus der Hand nehmen zu lassen.

© links-netz November 2005