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Marx in Hessen: ein komplexes und umkämpftes Feld

Joachim Hirsch

Was hat Marx eigentlich mit Hessen zu tun? Und mit Demokratie und Emanzipation, wie es in der Veranstaltungsankündigung heißt? Marx war kein Hesse, sondern der Staatsangehörigkeit nach Preuße. Ob er je in Hessen war, weiß man nicht genau. Und mit seinem bekannten revolutionären hessischen Zeitgenossen, Georg Büchner, hat er sich wohl nie getroffen.

Der Titel der Veranstaltung bezieht sich also auf die in Hessen wissenschaftlich oder politisch Tätigen, die sich auf sein Werk bezogen und dieses weiterentwickelt haben. Davon gibt es in der Tat eine ganze Menge. Der Bezug auf Marx und dessen Werk war dabei allerdings recht unterschiedlich und zum Teil theoretisch wie politisch sehr gegensätzlich. Der Titel bezeichnet also auch ein recht konfliktreiches und umkämpftes Feld.

Die Geschichte von „Marx-in-Hessen“ beginnt natürlich nicht erst in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Zumindest wäre an das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) in den 20er und 30er Jahren zu erinnern. Dieses ist nicht nur mit den Namen Horkheimer und Adorno sowie später Marcuse, sondern u.a. auch Grossmann, Grünberg, Kirchheimer, Neumann, Pollock und Gurland verbunden. Das Institut war zu dieser Zeit auch an der Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) beteiligt. Auch unter den Institutsmitgliedern gab es bereits sehr unterschiedliche Marx-Interpretationen und z.T. heftige Auseinandersetzungen darüber. So z.B. bei den staatstheoretischen Kontroversen zwischen Horkheimer und Pollock auf der einen, Kirchheimer und Neumann auf der anderen Seite. Festzuhalten bleibt allerdings, dass nach der Direktionsübernahme durch Horkheimer dort wesentliche Grundlagen dafür gelegt wurden, was später als „westlicher“ im Gegensatz zum Sowjet-Marxismus oder auch etwas abfälliger als „Hegel-Marxismus“ bezeichnet worden ist.

Die Nachkriegsgeschichte ist, was Hessen angeht, stark geprägt durch die Rückkehr von Adorno und Horkheimer mit dem IfS nach Frankfurt und die Berufung Abendroths an die Universität Marburg. Beide Orte wurden zu wichtigen Zentren einer an Marx orientierter Theoriebildung. In Frankfurt gab es im Übrigen nicht nur das IfS. Auch am Fachbereich 3 der Universität bildete sich ein bedeutsamer Schwerpunkt der Marx-Forschung. Zu erinnern ist dabei an Fetscher mit seinen damaligen Assistenten Reichelt und Schäfer, an Backhaus oder Ritsert. Auch Alfred Schmidt und Hans-Jürgen Krahl wirkten hier. Am Fachbereich 3 wurde später auch die Schriftenreihe „Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie“ herausgegeben.

Was die Marxsche Theorie mit Emanzipation und Demokratie zu tun hat, ist bekanntermaßen nicht ganz einfach zu beantworten. Wenn man daran denkt, dass die Bezugnahme auf Marx auch als Legitimation von Diktatur und Unterdrückung benutzt wurde. Emanzipation durch Parteidiktatur ist schließlich ein Widerspruch in sich. Aber auch abgesehen davon gab es sehr unterschiedliche Interpretationen seines Werks. Dies hängt damit zusammen, dass dieses selbst recht uneinheitlich und keinesfalls abgeschlossen ist. Und Marx‘ Texte sind auch nicht immer auf der Höhe der Zeit, etwa wenn es um die Klassenverhältnisse im entwickelten Kapitalismus, die Bedeutung neuerer technischer Entwicklungen für die Werttheorie oder neue Formen des Imperialismus geht. Strittig ist auch immer geblieben, was nun eigentlich die Marxsche Krisentheorie ist. Immerhin eine aktuell sehr brennende Frage. Eine entwickelte Staatstheorie findet man bei ihm überhaupt nicht. Relevante Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse wie Rassismus und Sexismus werden ebenso wie die Krise der Naturverhältnisse bei ihm kaum angesprochen. Genau so fehlen psychologische und subjekttheoretische Überlegungen. Insgesamt ist das Marxsche Werk durchaus von dem das 19. Jh. kennzeichnenden Fortschrittsoptimismus und der Hoffnung auf eine befreiende Wirkung der Produktivkraftentwicklung geprägt. Auf die Dialektik der Aufklärung hinzuweisen, blieb späteren TheoretikerInnen vorbehalten.

In unserem Zusammenhang scheint mir wichtig, dass Marx nicht nur Analytiker der bürgerlichen Gesellschaft war, auch nicht nur politischer, sondern vor allem auch intellektueller Revolutionär. Mit ihm eröffneten sich neue Dimensionen kritischen Denkens – gerade in der Nachfolge Hegels – und deshalb bietet sein Werk, richtig verstanden, wichtige Grundlagen für eine emanzipative kritische Theorie und Praxis. Dazu bedarf es aber nicht nur seiner Weiterentwicklung, sondern auch einer kritischen Lektüre der Texte und der Aufarbeitung historischer Erfahrungen. Was Kritik und Emanzipation angeht, steht Marx im Übrigen keineswegs alleine. Deshalb ist es notwendig, sich in diesem Zusammenhang auch mit anderen, nicht marxistischen Theorieansätzen auseinanderzusetzen, etwa mit Foucault, Bourdieu, feministischen Theorien selbst sogar der Systemtheorie Luhmanns oder mit Max Weber. Besonders interessant ist, dass es in der marxistischen Theorietradition praktisch keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Anarchismus gibt, immerhin auch eine Theorie mit revolutionärem und emanzipativem Anspruch.

Angesichts dieser theoretischen Gemengelage verwundert es daher nicht, dass es zu sehr unterschiedlichen Interpretationen und Verwendungen der Marxschen Theorie kam, und dies verbunden mit z.T. heftigen politischen Auseinandersetzungen. Sie haben auch bei dieser Tagung noch eine Rolle gespielt. So hat Roland Roth sich dagegen verwahrt, dass so unterschiedliche Ansätze wie der orthodoxe, am Staatssozialismus orientierte Marxismus und der undogmatisch-offene unter der Überschrift „Hessen“ auf eine Stufe gestellt würden. Dass also quasi im Nachhinein unter dem Label Emanzipation und Demokratie so etwas wie eine theoretische Linksfront imaginiert werde. Das zielt auf das Verhältnis zwischen dem „Institut für marxistische Studien und Forschungen“ (IMSF), dem Marburger Ansatz, der Frankfurter Schule oder auch dem damals in Offenbach beheimateten Sozialistischen Büro (SB), die ja nun nicht nur theoretisch sehr unterschiedliche sondern auch politisch recht gegensätzliche Vorstellungen davon entwickelt haben, was unter Emanzipation und Demokratie zu verstehen sei. Roth wendet dagegen ein, dass es unter einem emanzipativen Anspruch vor allem darum gehe, die Marxsche Theorie als kritische aus den Trümmern des orthodoxen Marxismus zu befreien. Nimmt man die Situation in Hessen, so stehen „Marburg“ und „Frankfurt“ in gewisser Weise beispielhaft für diese Differenz. Darauf braucht jetzt nicht im Einzelnen eingegangen werden, zumal sich die alten Gegensätze nach dem Untergang des Staatssozialismus einigermaßen eingeebnet haben.

Zurzeit werden ja nicht nur 200 Jahre Marx-, sondern auch das 50jährige Jubiläum der 68er-Bewegung gefeiert. Das ist insofern wichtig, als mit dieser Bewegung auch ein großer Aufschwung der Marx-Rezeption verbunden war. Im Übrigen hat sie auch mich zu einer Beschäftigung mit Marx veranlasst- etwas spät allerdings. Die Studierendenbewegung hat wesentlich dazu beigetragen, nicht nur das postfaschistische Nachkriegsdeutschland ein Stück weit zu demokratisieren, sondern auch die Emanzipationsdiskussion auf eine sehr viel breitere Basis zu stellen. So haben der neuere Feminismus oder die Kritik der Naturverhältnisse dort und gerade in der Kritik an Marx und dem Marxismus eine wichtige Wurzel. Gleichzeitig intensivierten sich damit aber auch die genannten Auseinandersetzungen, was sich in sehr unterschiedlichen politisch-theoretischen Organisationsformen äußerte – die K-Gruppen und -Parteien, die Spontis oder eben auch etwa das SB. Mit dem Auslaufen der Studierendenbewegung und mit der Entwicklung der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen hat sich das theoretische und politische Feld erheblich verändert. Die Frage der Emanzipation etwa in Bezug auf die Natur- und Geschlechterverhältnisse wurde nun auf ganz neue Weise thematisiert. Ein entscheidender Punkt war schließlich der Zusammenbruch des Sowjetsystems, wodurch sich einige der überkommenen politisch-theoretischen Kontroversen gewissermaßen von selbst erledigten. Und aktuell haben wir es mit der permanenten und sich in vieler Hinsicht verschärfenden und globalen Krise des neoliberal transformierten Kapitalismus und deren sozialen Folgen zu tun, was Marx in gewisser Weise zumindest wieder in die Feuilletons gebracht hat, selbst in der FAZ.

Insgesamt ist das theoretisch-politische Feld des so genannten Marxismus heute sehr viel offener als in den sechziger und siebziger Jahren. Das allerdings unter den Bedingungen eines starken politischen und theoretischen roll backs seit den 90er Jahren. Dass ausschließlich unter Rückgriff auf die Marxsche Theorie eine emanzipative politische Praxis begründet werden könnte, glaubt wohl kaum noch jemand. Gleichwohl bleibt sie eine wesentliche Grundlage. Das bekannte und auch in der Veranstaltungsankündigung zitierte Marxsche Diktum von der Notwendigkeit einer Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist nicht zuletzt angesichts dessen von besonderer Aktualität, dass der Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen Möglichkeiten und ihrer Realität kaum je so offensichtlich war wie heute.

Sowohl von Marburg als auch von Frankfurt aus gab es in der Folgezeit wichtige theoretische Entwicklungen. Zu nennen sind etwa die imperialismustheoretischen und die Europaforschungen in Marburg oder die regulations- und staatstheoretischen Überlegungen in Frankfurt. Bei den Letzteren ging es vor allem darum, einen Kernbestandteil der Marxschen Theorie, nämlich das Konzept der sozialen Form herauszuarbeiten und sich damit gegen eine ökonomistische Lesart zu wenden.

Allerdings haben im Zuge des neoliberalen Roll-Backs an den Hochschulen die Schwerpunkte deutlich verschoben. Das IfS spielt in Bezug auf die Marxsche Theorie kaum noch eine Rolle und an der Universität Frankfurt wurde dieses Feld schlicht eliminiert. Ein aktuelles Beispiel ist die Stellungahme der Dekanin des Fachbereichs 03 der Frankfurter Universität auf die Forderung von Studierenden nach einer Professur für kritische Theorie: Man könne halt nicht alle Wünsche befriedigen, die Kritische Theorie sei nicht mehr so wichtig und es gäbe bedeutsamere theoretische Weiterentwicklungen. Angesichts des Zustandes der Sozialwissenschaften hierzulande ist das eine recht bemerkenswerte Äußerung. Dagegen gibt es immerhin so etwas wie eine Schwerpunktverlagerung nach Kassel, Wien oder an eine andere Frankfurter Hochschule.

Zum Schluss noch ein paar Bemerkungen zur Bedeutung der Marxschen Theorie heute.

Wie gesagt, eine kritische Theorie der Gegenwartsgesellschaft muss über Marx hinausgehen. Klassentheoretisch ist bedeutsam, dass die Konfliktlinien heute anders verlaufen als Marx sie prognostiziert hat. Was das Proletariat angeht, so gibt es einerseits die wachsende Ungleichheit in den kapitalistischen Zentren und auf der anderen Seite die Erscheinung, dass die Proletarisierten aus der Peripherie ihr Heil nicht mehr in einer Revolution, sondern darin sehen, ihr Land zu verlassen und in eben diese Zentren abzuwandern, auch um an der dort verbreiteten „imperialen Lebensweise“ (Brand/Wissen) teilzuhaben. Dies wiederum führt zu dem heute beherrschenden Konflikt zwischen den sich auf die Wanderschaft machenden und denjenigen, denen es darauf ankommt, eben diese Lebensweise zu verteidigen. Beide Konfliktlinien verbinden sich dabei. Ein revolutionäres Potential ist dabei kaum zu erkennen.

Diese Wanderungsbewegung ist unter anderem ein Effekt der „Globalisierung“, die im kommunistischen Manifest so treffend vorausgesagt worden ist. Diese ist allerdings auch ein Zeichen für die erstaunliche Flexibilität des Kapitalismus, dem es immer wieder gelingt, sich durch große Krisen hindurch neu zu organisieren. Auch die heutige Form der Globalisierung muss kein Endstadium darstellen. Die Zeichen für eine Renationalisierung sind unverkennbar, verbunden mit der Möglichkeit verheerender Kriege, die schon immer ein Lebenselixier des Kapitalismus waren. Eine gewissermaßen objektive Grenze des Kapitalismus ist jedenfalls kaum auszumachen. Was zu der Frage führt, was unter der „realen Bewegung“ zu verstehen ist, womit Marx sehr zutreffend den Kommunismus bezeichnet hat.

Es bedarf also einer Erklärung, weshalb es trotz Krisen und gesellschaftlicher Zerfallserscheinungen keine revolutionäre Bewegung gibt. Dazu sind einmal subjekttheoretische Überlegungen notwendig, etwa bezüglich der Frage, wieso nach der Krise des Fordismus und im Zuge der neoliberalen Offensive die individuelle Selbstoptimierung und das Sich-Durchschlagen an die Stelle gesellschaftlicher Veränderungsbemühungen getreten ist. In diesen Zusammenhang gehört auch der Strukturwandel der Öffentlichkeit, der durch die neuen, internetgestützten Kommunikationstechnologien, etwa in Form der sogenannten sozialen Medien verursacht worden ist. Die gewissermaßen damit verbundene Demokratisierung der Öffentlichkeit – indem praktisch jede und jeder Zugang zu ihr hat – wird allmählich zu einer ernsthaften Bedrohung der liberalen Demokratie. Auch so ein Widerspruch. So hat das verstärkte Aufkommen des Rechtspopulismus hier eine wesentliche Ursache. Der von Horkheimer und Adorno formulierte Begriff der Kulturindustrie erhält damit ganz neue Dimensionen.

Wenn man die auf Marx bezogenen staatstheoretischen Erkenntnisse ernst nimmt, so stellt schließlich die heute inzwischen sehr stark staats- und parteibezogene politische Orientierung in vielen Teilen der Linken ein gewisses Problem dar. Dies deshalb, weil, folgt man dem Marxschen Theorieansatz, mittels des bestehenden Staates eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft nicht möglich ist. Dieser ist ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses. Das spricht nicht gegen eine staats- und parteiorientierte linke Politik. Es stellt sich aber die Frage, was eigentlich deren wichtigstes Terrain ist. Gramsci hat darauf hingewiesen, dass die Zivilgesellschaft der Ort ist, auf dem hegemoniale Kämpfe stattfinden und Hegemonie stabilisiert wird. Es bedürfte also zivilgesellschaftlicher Initiativen, also das, was Marcuse als Kulturrevolution bezeichnet hat. Auch davon ist angesichts des herrschenden Neo-Biedermeiers kaum mehr etwas zu erkennen. Bei den aktuellen 68er-Feiern wird der kulturrevolutionäre Impetus dieser Bewegung bestenfalls noch anhand einiger bizarrer Auswüchse thematisiert.

Überhaupt wäre angesichts der historischen Erfahrungen Abstand davon zu nehmen, Revolution einfach in den Kategorien einer Übernahme der Staatsmacht zu begreifen. Wir haben in diesem Zusammenhang den Begriff des radikalen Reformismus geprägt. Dies im Bewusstsein dessen, dass der revolutionäre Prozess langwierig ist, sich auf die Wurzeln der gesellschaftlichen Verhältnisse richten muss, auf die herrschenden sozialen Beziehungen bis hin zu den Familien- und Geschlechterverhältnissen, die herrschenden Werte bis hin zu den Vorstellungen davon, was ein „gutes Leben“ ausmacht. Das ist nicht staatlich zu verordnen, sondern bedarf gesellschaftlicher Initiativen, von denen allerdings gegenwärtig sehr wenig zu erkennen ist.

Also: die Marxsche Theorie und ihre Tradition bietet nach wie vor eine wichtige und zentrale Grundlage für eine emanzipative und demokratische Politik. Es gälte, diese nicht nur wieder in ihrer ganzen Breite fruchtbar zu machen, weiter zu entwickeln und mit neueren gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen zu konfrontieren. Das erfordert auch eine kritische Auseinandersetzung mit ihr. Die aktuellen Marx- und 68er-Feiern dürften nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in, theoretisch und mehr noch politisch, eher dürren Zeiten leben. Vielleicht lässt sich deshalb auch allenthalben so schön feiern. Aber die Geschichte zeigt ja bekanntermaßen oft recht unerwartete Konjunkturen und es gibt gelegentlich ganz unerwartete Entwicklungen. Das lässt immerhin hoffen.

© links-netz August 2018