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Von „Populisten“ und „Heuschrecken“

Joachim Hirsch

Franz Müntefering, der SPD-Vorsitzende, hat es geschafft, dem Kapital einen bildhaften Namen zu geben: Heuschrecken. Gemeint waren damit spekulative Investmentgesellschaften, die ihre Profite damit machen, dass sie Firmen aufkaufen, ausbeuten, zerlegen, Leute entlassen und die Reste dann wieder profitabel veräußern. Das war, für alle leicht durchschaubar, ein populistisches Manöver, um der sich ausbreitenden Missstimmung bezüglich der Regierungspolitik nachzugeben ohne an derselben auch nur einen Deut ändern zu wollen. Das Muster ist bekannt: man spielt den produktiven, ehrlichen, soliden und nützlichen Kapitalismus gegen vermeintliche Auswüchse in Form finanzkapitalistischer Spekulanten aus. Kein Wunder, dass die von der SPD (also keinem Hedgefonds) aufgekaufte „Frankfurter Rundschau“ an diesem Muster weitergestrickt hat, indem sie eine Serie über Firmen bringt, die angeblich den guten „Gewinn“ über den schlechten „Profit“ stellen. Müntefering zog sich dann allerdings prompt den Nazismus-Antisemitismusvorwurf zu, wenngleich der ihn weniger hart getroffen hat wie seinen populistisch besser bewanderten Kollegen Lafontaine mit seinem Schwadronieren über „Fremdarbeiter“. Populistische Kapitalismuskritik hat in wirtschaftlich krisenhaften Zeiten und angesichts des laufenden Wahlkampfs halt Konjunktur.

Man könnte das Bild durchaus einmal etwas genauer verfolgen und fragen, was nun eigentlich diese „Heuschreckenschwärme“ hervorbringt. In der Natur bedarf es dafür gewisser Umweltbedingungen, und die wären das eigentlich interessante, wenn auch in der ganzen Debatte nie thematisierte Thema. Bekanntlich hat die Umwälzung des globalen Kapitalismus seit den achtziger Jahren dazu geführt, dass die Einkommensverteilung sich drastisch zugunsten der Unternehmensprofite verschoben hat. Das war schließlich das eigentliche Ziel der neoliberalen Strategie. Eine Folge der sogenannten Globalisierung besteht darin, dass Firmen einem verschärften Rationalisierungsdruck ausgesetzt sind, was sie dazu veranlasst, Arbeitskräfte zu entlassen, wo immer es geht. Schon die Ankündigung derartiger Maßnahmen lässt in Erwartung weiterer Gewinnsteigerungen die Aktienkurse steigen, was im Zeichen des Shareholderkapitalismus zentrales Unternehmensziel ist. Sinkende Lohneinkommen und Massenarbeitslosigkeit wiederum bringen die sozialen Sicherungssysteme in die Bredouille, was heißt, dass auch diese demontiert werden müssen. Das wäre aus der Sicht des Kapitals durchaus in Ordnung, wenn nicht ein neues Problem entstünde: die Massenkaufkraft schwächelt nachhaltig und die Überproduktionskrise nimmt deutlichere Formen an. Wieder einmal und in zugespitzter Form äußert sich der schon von Marx im „Kapital“ entwickelte Widerspruch, dass die Unternehmer gezwungen sind, sich nach Möglichkeit von der lebendigen Arbeitskraft zu befreien und dass sie gleichzeitig zwecks Realisierung ihres Profits auf sie angewiesen sind. Die Folge ist, dass immer größere Kapitalmassen auf der Suche nach gewinnbringenden Anlagen quer durch die Welt geschoben werden. Angesichts der bestehenden Konsumnachfragelücke können sie nicht in die Ausweitung der Produktionsapparate investiert werden, fließen daher in mannigfaltige spekulative Geschäfte, speisen immer neue Blasen auf den Aktien- und Immobilienmärkten und treiben nicht zuletzt damit weitere Rationalisierungen voran. Dieser Zirkel kennzeichnet im Kern den Krisenmechanismus des gegenwärtigen Kapitalismus.

Die so genannten Heuschreckenschwärme sind also keineswegs Fehlentwicklungen, sondern ein integraler Ausdruck des neoliberalen Kapitalismus. Das Bizarre ist, dass sich ausgerechnet der Chef einer Regierungspartei darüber beklagt, die alles getan hat, diesen Prozess voranzutreiben. Ein klein wenig ökonomischer Sachverstand hätte darüber Aufschluss geben können, weshalb angesichts dieser Situation die Unternehmer nicht bereit sind, die ihnen von der Regierung gemachten Geschenke zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu verwenden, sondern genau das Gegenteil tun. Da befindet sich Müntefering allerdings in schönem Einklang mit den etablierten wissenschaftlichen Politikberatern.

Die wirtschaftspolitische Debatte nimmt immer mehr den Charakter einer Voodoo-Ökonomie an, die alle in ihren Bann zieht. Die kommende Bundestagswahl mag einiges sportliche Interesse wecken. Unabhängig von ihrem Ausgang ist indessen eines sicher, nämlich dass es so weiter gehen wird wie bisher. Die „Heuschrecken“ werden uns also trotz aller populistischen Polemik erhalten bleiben. Die in Gestalt der Linkspartei sich auf Parlamentsebene formierende Opposition, die eine Anhebung der Masseneinkommen und die Bewahrung der Sozialsysteme propagiert, hat freilich ebenfalls ein Problem. Ganz abgesehen von der Frage, wie eine solche Politik angesichts des Diktats des Weltmarkts überhaupt durchsetzbar sein sollte, wäre durchaus die Überlegung angebracht, ob eine im Zeichen des Wachstumsfetischs immer weiter gehende Ausweitung der Warenproduktion angesichts der damit verbundenen Folgen, von den globalen Ungleichheiten bis hin zu den ökologischen Zerstörungen wirklich Sinn macht, ob die bestehende Gesellschaft nicht viel mehr dadurch gekennzeichnet ist, dass Warenreichtum Armut erzeugt. Insgesamt hat es also eine gewisse Folgerichtigkeit, dass in der öffentlichen Debatte die einen Populisten die anderen des Populismus bezichtigen.

Was dabei auf der Strecke bleibt, ist eine Diskussion über die Widersprüche des Systems selbst. Das Herumhacken auf vermeintlichen Auswüchsen soll eben diese verhindern und das ist der Sinn der diversen Kapitalismuskritiken, mit denen wir derzeit beglückt werden. Dass das weitere Fortschreiten der ökonomischen Krise PolitikerInnen und JournalistInnen wieder zu Verstand bringt und in die Köpfe treibt, was die Konsequenzen des herrschenden Wirtschaftssystems sind, ist kaum zu erwarten. Dieses System selbst entwickelt sich allerdings keineswegs nach einer objektiven Logik. Die Etablierung des Neoliberalismus war die Folge weltweit verschobener sozialer Kräfteverhältnisse nach der Krise des Fordismus. Eine wirklich andere Politik würde voraussetzen, dass diese wieder verändert werden. Das allerdings geschieht nicht auf dem Terrain der inzwischen weitgehend leer laufenden parlamentarischen Institutionen. Wie immer gewählt wird: das allein verändert überhaupt nichts.

© links-netz August 2005