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Hilfsbusiness

Joachim Hirsch

Hilfsorganisationen sind mittlerweile allgegenwärtig. Keine Katastrophensondersendung im Fernsehen ohne eingeblendete Spendenkonten und natürlich immer wieder das nette dunkelhäutige Mädchen, das von einer Plakatwand her für eine milde Gabe dankt. Dass von Regierungen und PolitikerInnen nichts Gutes zu erwarten ist, von Unternehmen ganz zu schweigen, ist inzwischen fast Allgemeingut geworden. Dagegen gibt es aber die Guten, die vor allem dann medienwirksam auf den Plan treten, wenn wieder einmal eine Naturkatastrophe Opfer gefordert hat, nämlich die Hilfsorganisationen, deren Zahl inzwischen kaum mehr zu übersehen ist. Sie gehören zu den so genannten Nichtregierungsorganisationen, also privaten, formell staatsunabhängigen Zusammenschlüssen, die gemeinnützige Zwecke verfolgen und nicht profitorientiert sind. Ihre Zielsetzungen sind recht unterschiedlich. Neben denen, die sich mit Not-, Entwicklungs- und Katastrophenhilfe beschäftigen, gibt es Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen, wissenschaftliche und politische think tanks, mit der Kontrolle der staatlichen und internationalen Politik befasste und viele andere mehr. Oft vereinigen sie auch mehrere dieser Funktionen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie zumindest dem Anspruch nach nicht im eigenen Interesse, sondern für andere tätig sind, also Hilfe leisten, Ausgegrenzten und Unterdrückten zur Sprache verhelfen oder öffentliche Interessen wahrnehmen. Die Organisationen haben dabei recht unterschiedliche Motive, neben religiös-moralischen gibt es soziale und politische, die auf gesellschaftliche Veränderungen zielen. Sie können sich aber auch als politisch neutral verstehen und einfach nur den Menschen helfen wollen.

Die Zahl der Nichtregierungsorganisationen ist in den letzten Jahren rasant angestiegen. Wurden 1991 weltweit noch 4600 registriert, waren es 2007 bereits 7600, und praktisch täglich kommen neue hinzu. Ein Grund dafür dürfte sein, dass sich die Rolle und Stellung der Staaten im Zuge der neoliberalen Umstrukturierung des globalen Kapitalismus stark verändert haben. Nichtregierungsorganisationen sind nicht zuletzt Ausdruck einer allgemeinen Privatisierungstendenz. Sie praktizieren sozusagen das neoliberale Credo der Selbstverantwortlichkeit und der Selbsthilfe und entlasten die Staaten. Sie füllen die Lücken, die deren Rückzug aus vielen gesellschaftlichen Bereichen geschaffen hat. Von ihnen wird erwartet, dass sie die Unfähigkeit der Regierungen kompensieren, mit wichtigen gesellschaftlichen Problemen fertig zu werden. Je mehr der Sozialstaat abgebaut wird, desto mehr ist private Hilfe gefordert, natürlich freiwillig und ohne Rechtsanspruch. In gewissem Sinne sind sie also Ausdruck und Konsequenz eines spezifischen Staatsversagens. Allerdings ist diese Entwicklung widersprüchlich. Der Boom der Nichtregierungsorganisationen ist gleichzeitig auch Ausdruck eines wachsenden bürgerschaftlichen Engagements.

Wenn man so will, weist dies auf eine verstärkte Bedeutung der „Zivilgesellschaft“ hin, also des staatsunabhängigen Bereichs gesellschaftlicher Selbstorganisation. Mit der Staatsunabhängigkeit ist es allerdings so eine Sache. Antonio Gramsci hat darauf hingewiesen, dass man die Zivilgesellschaft durchaus auch als erweiterten Staat bezeichnen kann, als eine Sphäre, die die bestehende Herrschaftsordnung legitimiert und absichert. Und in der Tat ist das „Nicht“ der Nichtregierungsorganisationen mit einigen Fragezeichen zu versehen. Das gilt nicht nur für die Fälle, wo sie von Regierungen direkt oder indirekt gegründet werden und praktisch staatliche Aufgaben wahrnehmen. Mittels der Hilfsorganisationen lassen sich staatliche Strategien oft besser durchsetzen als durch offene Interventionen und ihr Einsatz ist vielfach flexibler und billiger. Insgesamt sind Hilfsorganisationen daher auch ein Instrument staatlicher Außenpolitik. Vielfach sind sie von finanziellen Zuschüssen von Staaten und internationalen Organisationen abhängig und unterliegen auf diese Weise zumindest indirekt deren Kontrolle und Steuerung. Dazu kommen personelle Verflechtungen, die daher rühren, dass Hilfsorganisationen durchaus auch politische Karrierevehikel sein können. Oder sie dienen als Abstellgleis für ausgemusterte PolitikerInnen bzw. als Betätigungsfeld für Politikergattinen. So wurde z.B. Bernard Kouchner, der Mitbegründer von Médecins Sans Frontières, französischer Außenminister; oder im Präsidium der deutschen Welthungerhilfe sitzt neben Bärbel Diekmann, der Bonner Ex-Oberbürgermeisterin und SPD-Präsidiumsmitglied auch der Ex-Minister Klaus Töpfer, der inzwischen Chef einer UN-Sonderorganisation ist. Die „Staatsklasse“ ist also auch in den so genannten Nichtregierungsorganisationen durchaus präsent.

Insgesamt wird die Arbeit der Hilfsorganisationen ganz stark von den bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen geprägt. Wenn reiche Privatpersonen wie Bill Gates oder George Soros Stiftungen gründen, die Hilfsgelder verteilen, machen sie damit Politik. Die neoliberale Umstrukturierung hat zu Entwicklungen geführt, die man als Refeudalisierung der Gesellschaft bezeichnen kann, in diesem Falle dazu, dass mit riesigen Finanzmitteln ausgestattet Privatleute ohne jede öffentliche Kontrolle mittels (steuersparender) Stiftungen wesentliche gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen.

Die Machtverhältnisse der bestehenden Zivilgesellschaft zeigen sich auch an der Abhängigkeit der Hilfsorganisationen von den etablierten Massenmedien. Ohne deren Hilfe würden sie weder öffentliche Resonanz noch finanzielle Mittel in Form von Spenden erhalten. Im letzten Fall ist es bedeutungsvoll, ob solche Zuwendungen steuerbegünstigt sind. Dazu brauchen die Organisationen in Deutschland den von den Finanzämtern verliehenen Status der Gemeinnützigkeit, also insoweit eine staatlichen Lizenzierung.

Ein Problem ist, dass die Hilfsorganisationen zwar in vieler Hinsicht gesellschaftlich und politisch wirksam, aber nicht demokratisch legitimiert sind, sieht man einmal von den Vereinsmitgliedern ab, sofern diese überhaupt aktiv sind. Auch dies ist ein Aspekt der Privatisierung der Politik, der insbesondere dann von Bedeutung ist, wenn sie de facto staatliche Aufgaben erfüllen. Allerdings besitzen sie im Gegensatz zu Staaten keine Zwangsmittel, sondern sind auf freiwillige Mitarbeit bzw. auf Spenden angewiesen, stehen also unter permanentem öffentlichen Legitimationsdruck. Nicht immer ist auch ihr Finanzgebaren ganz durchsichtig. Zwar vergibt das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen nach Überprüfung der Finanzierungsstruktur ein Spendensiegel, mit dem bescheinigt wird, dass die Verwaltungskosten, also die Aufwendungen für den Apparat und die Werbung einen bestimmten Prozentsatz der Gesamtausgaben nicht überschreiten. Aber es gibt große Organisationen, die dieses Zertifikat aus gutem Grund gar nicht beantragen. Ein neuerdings publik gewordener Fall ist der Verein „Innocence in Danger“ der Baronin zu Guttenberg, dessen Finanzgebaren ebenso undurchsichtig ist wie ihre Projektarbeit (Frankfurter Rundschau v. 27./28.11.2010). Wenn sie professionelle Spendensammelfirmen beschäftigen, verschlingt dies einen beträchtlichen Teil der eingenommenen Gelder.

Insgesamt unterliegt die Tätigkeit der Hilfsorganisationen einer immer stärkeren Ökonomisierung. In großem Umfang ist Hilfe zu einem Geschäft geworden. Immer mehr gehen Unternehmen dazu über, Hilfe als Instrument von Public Relations einzusetzen. Geschäfte machen sich besser, wenn sie mit Hilfsaktionen verbunden werden. Die Lufthansa unterhält unter dem Namen Help Alliance eine eigene Hilfsorganisation. Wenn dafür gespendet wird, ist es immerhin noch freiwillig. Der Discounter Penny wirbt damit, dass er von den Erlösen aus dem Verkauf von Kinderartikeln einen Prozentsatz an „Ein Herz für Kinder“ abführt. Vodafone dagegen wirbt für die von RTL gesponserte Organisation „Kinder in Not”. Das sind nur Beispiele von inzwischen sehr vielen ähnlichen „Kooperationen“. Die unternehmerische Wohltätigkeitskonkurrenz mittels „Charity Partnerships“ nimmt enorm zu. Für Pop- und Hollywoodstars gehört es inzwischen zum laufenden Geschäft, mittels einschlägiger Benefizkonzerte für ihre CDs zu werben.

Die Hilfsorganisationen stehen unter spezifischen finanziellen Zwängen. Insbesondere die größeren sind weit davon entfernt, einfache Zusammenschlüsse wohlmeinender Bürgerinnen zu sein. Sie sind hoch professionalisierte „Moralunternehmen“ mit einem großen und oft sehr qualifizierten Mitarbeiterstab. Dies verstärkt das, was man als Interesse an sich selbst bezeichnen kann. Das heißt, der Selbsterhalt der Organisation und die Sicherung der Arbeitsplätze, d.h. der permanente Zufluss finanzieller Mittel wird so zu einem zentralen Organisationsziel. Dies wiederum vergrößert die Abhängigkeit von staatlichen Zuschüssen oder Spenden.

Auf die Art der Hilfstätigkeit hat dies einen erheblichen Einfluss. Wenn Spendengelder nur fließen, wenn eine ausreichende Medienpräsenz vorhanden ist und die Öffentlichkeit emotional angesprochen werden kann, dann muss die eigene Tätigkeit entsprechend ausgerichtet und präsentiert werden. Dankbare Kinderaugen auf Plakaten machen sich dabei besonders gut, wie auch das sichtbare Auftreten in Katastrophengebieten. Im branchenüblichen Neudeutsch gesprochen ist „visuality“ eine wesentliche Handlungsmaxime. Dies wiederum führt dazu, dass gerne eigenes Personal eingeflogen wird, statt mit lokalen Organisationen zusammen zu arbeiten, obwohl diese viel besser wissen, was im konkreten Fall Not tut. Entscheidend ist, dass das Logo der Organisation auf den Bildschirmen erscheint. Hilfe wird vor allem dort geleistet, wo mediale Aufmerksamkeit besteht. Die verborgenen Nöte und Katastrophen, die außerhalb des laufenden Medieninteresses stehen, sind weniger interessant. Unter bestimmten Umständen kann von außen eingeflogene Hilfe sogar schaden, wenn damit Abhängigkeiten geschaffen oder die einheimische Produktion behindert wird. In gewissem Sinne leben die meisten Hilfsorganisationen von den Katastrophen, deren Folgen sie bearbeiten. Ohne diese würden wesentliche Mittelzuflüsse versiegen.

Der Kampf um finanzielle Mittel führt zu einem Konkurrenzverhältnis zwischen den einzelnen Organisationen. Das gilt für den Kontakt mit staatlichen Stellen ebenso wie mit den Medien. Deren Wohlwollen, etwa bei der Veröffentlichung von Spendenkonten, ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit. Wie immer in heiß umkämpften Märkten kommt es dabei auch zu Kartellbildungen. Nachdem sich eine Reihe deutscher Hilfsorganisationen zwecks Spendenwerbung zur „Aktion Deutschland hilft“ zusammengeschlossen hatten, wurde zum gleichen Zweck der Verbund „Entwicklung hilft“ geschaffen (der feine Unterschied in der Namensgebung ist übrigens Programm!). Letzterer hatte den Vorteil, die ARD als Medienpartner gewinnen zu können, während ZDF und RTL anderen den Vorzug geben.

Die Versuche zur Instrumentalisierung der Hilfsorganisationen für staatliche Politik haben in der letzten Zeit erheblich zugenommen. Ein markantes Beispiel dafür bietet der deutsche Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel. Nicht nur durch seine Absicht, die Hilfsorganisationen zu „Public-Private-Partnerships“ mit kommerziellen Unternehmen zu veranlassen, sie also als Mittel der Industrieförderung einzusetzen, sondern auch durch das Konzept der „vernetzten Sicherheit“, das derzeit vor allem in Afghanistan und Kolumbien zu realisieren versucht wird (aus Kolumbien stammt übrigens ein großer Teil der hierzulande verbrauchten Kohle!). Militärische Operationen sollen damit in der Weise abgesichert werden, dass die Hilfsorganisationen bei der betroffenen Bevölkerung Akzeptanz und Vertrauen schaffen und zugleich den Anschein erwecken, es handle sich tatsächlich um „humanitäre“ Interventionen. Das wiederum führt dazu, dass ihre Einsatzfelder weniger nach realen Notlagen und Bedürfnissen denn nach militärtaktischen Erwägungen ausgerichtet werden. Angesichts der Tatsache, dass die Bundeswehr nunmehr auch ganz offiziell zur Sicherung von Rohstoffquellen und Handelswegen eingesetzt werden soll, dürften die diesbezüglichen Anforderungen zunehmen. Es bleibt abzuwarten, wie lange die Hilfsorganisationen ihre bisher mehrheitlich eher reservierte Haltung dazu bewahren werden.

Dass Hilfsorganisationen als Teil des „erweiterten Staates“ begriffen werden können heißt nicht, dass sie von Fall zu Fall auch regierungskritische Positionen einnehmen können und müssen. Die herrschaftssichernde Funktion der Zivilgesellschaft besteht gerade darin, Kritik zuzulassen, sofern sie nicht besonders folgenreich ist. Gerade dies schafft Legitimation und macht Herrschaft sicherer und beständiger – wenn gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Dafür sorgen freilich in der Regel die politischen und ökonomischen Zwänge, in denen die Hilfsorganisationen stehen.

Katastrophen und Notlagen, auch wenn sie natürliche Ursachen haben, sind in ihren Auswirkungen sehr oft von Menschen gemacht: durch Armut, schlechte Bauweise, mangelhafte Infrastruktur, Korruption oder unfähige Regierungen. Eine nachhaltige Hilfe müsste daher vor allem darin bestehen, diese strukturellen Bedingungen zu verändern. Das ist indessen eine Arbeit, die schwierig und langwierig ist. Sie erfordert nicht zuletzt politische Stellungnahme und Auseinandersetzung. Eine Hilfe, die sich als politisch neutral gibt, verfehlt dies bereits vom Ansatz her. Sie ist gerade dadurch politisch, dass sie die bestehenden Zustände bestätigt. Politisches Engagement gerät allerdings leicht in Konflikt mit den materiellen Existenzbedingungen der Hilfsorganisationen. Entwicklungsarbeit, die auf langfristige Veränderungen zielt und die nicht auf punktuelle Interventionen, sondern auf solidarische Zusammenarbeit mit den Betroffenen und ihren Organisationen setzt, ist in der Regel wenig mediengerecht. Spendengelder dafür zu erhalten, ist daher schwierig.

Die Frage ist, wie unter diesen Bedingungen eine sinnvolle Arbeit der Hilfsorganisationen aussehen könnte, wie also eine Alternative zum herrschenden Hilfsbusiness aussehen könnte. Organisationen, die diesen Anspruch haben, gibt es durchaus, auch wenn sie in der Minderheit sind. Politisch ist dabei ein erheblicher Balanceakt erforderlich: die herrschende Politik zu kritisieren, die für vieles Verantwortung trägt, was Hilfe erfordert, auf strukturelle Veränderungen zu drängen, die von den Mächtigen nicht gewollt werden und trotzdem Zugang zu öffentlichen Finanzquellen und Spenden zu behalten. Entscheidend ist es dabei, die Abhängigkeit von staatlichen Geldgebern zumindest gering zu halten, d.h. sich durch Spenden oder Mitgliedsbeiträge zu finanzieren, ohne damit zugleich der Dynamik des medialen Spendengeschäftes zu verfallen. Eigentlich handelt es sich dabei um so etwas wie die Quadratur des Kreises. Es erfordert eine explizit politische Stellungnahme und den Versuch, alternative Formen von Öffentlichkeit und Kommunikation aufzubauen. Es ginge darum, dauerhaftere Beziehungen zu Menschen und Gruppierungen aufzubauen, denen an der Veränderung der globalen gesellschaftlichen Zustände gelegen ist und die bereit sind, eine entsprechende Arbeit finanziell und praktisch zu unterstützen, Diskussion und wechselseitige Information zu fördern. Geschäftsunternehmen können und wollen das nicht. Nachdem viele der gesellschaftskritischen sozialen Bewegungen dem neoliberalen Umbau von Staat und Gesellschaft zum Opfer gefallen sind, ist für die politischen Hilfsorganisationen der Ausbau eines derartigen politischen Umfeldes besonders wichtig geworden. Zum Beispiel konnten sich Entwicklungshilfeorganisationen früher auf Solidaritätsbewegungen beziehen, von denen heute nur noch Restbestände existieren. Kritische Gesellschaftspolitik muss daher neu definiert werden und den Nichtregierungsorganisationen fällt dabei eine wichtige Rolle zu. Der Begriff „Zivilgesellschaft“ würde damit eine ganz andere Bedeutung erhalten. Von den Hilfsorganisationen verlangt das unter den bestehenden Bedingungen allerdings einiges.

© links-netz Dezember 2010