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Schwerpunktthema: Sozialpolitik als Infrastruktur

 

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Eine soziale Infrastruktur ist notwendig

Joachim Hirsch

Die vom links-netz vorgestellten Überlegungen zu einer Politik des Sozialen zielt auf den Ausbau einer umfassenden sozialen Infrastruktur als Alternative zum lohnarbeitsbezogenen Sozialstaat ab. Diese Diskussion ist nicht neu, sondern reicht bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. In Gang gesetzt wurde sie nicht zuletzt im Zusammenhang der Erwerbslosen- und Teilen der Frauenbewegung (vgl. Krebs/Rein 2000, Kunstreich 1999). Weder der Zeitpunkt noch politisch-soziale Zusammenhang sind zufällig. Hintergrund ist die damals manifest gewordene Krise des Fordismus und der Beginn der neoliberalen Restrukturierungsoffensive, mit der das „goldene Zeitalter“ des Fordismus zu Ende ging und der „Traum immerwährender Prosperität“ ausgeträumt war. Es ist kein Zufall, dass sich das Nachdenken über ganz andere Formen der gesellschaftlichen Arbeit und der Vergesellschaftung am ehesten jenseits der etablierten Institutionen, der Verbände, Sozialbürokratien und Parteien entwickeln konnte. Die neoliberale Restrukturierungspolitik und die Durchsetzung des postfordistischen Kapitalismus haben nicht, wie ursprünglich propagiert, zu allgemeinem Fortschritt und Wohlstand, sondern zu einer sich immer deutlicher manifestierende ökonomischen und gesellschaftlichen Krise geführt. In dieser wird auch die fordistische Form des Sozialstaats grundsätzlich zur Disposition gestellt. Die Kritik an diesem „Sozialstaatsabbau“ greift indessen nicht nur wegen der Übermacht neoliberaler Denkmuster so schlecht, sondern auch deshalb, weil das traditionelle Sozialsystem mit seinen disziplinierenden, kontrollierenden und ausgrenzenden Wirkungen nicht unbedingt verteidigenswert erscheint. Diesbezügliche Kritiken sind keinesfalls neu und werden vielfach geteilt. Dazu kommt, dass die inzwischen durchgesetzten ökonomischen und sozialen Veränderungen die Grundlagen des herkömmlichen Sozialstaats – eben die fordistische Arbeitsgesellschaft – stark untergraben haben. Eine defensive Verteidigungshaltung steht daher von vorne herein auf schwachen Füßen und ist kaum geeignet, die neoliberale ideologische Hegemonie in Frage zu stellen. Auf der Tagesordnung stehen vielmehr grundlegendere gesellschaftliche Alternativen. An der Diskussion darüber wollen wir uns mit unseren Überlegungen, die natürlich auf vielen Beiträgen und Anregungen aufbauen, beteiligen.

Wenig sinnvoll scheint es, dabei einem vordergründigen Realismus zu folgen, der die gerade bestehenden kapitalistischen Verhältnisse als unveränderlich erklärt das Nachdenken über ganz andere Formen von Arbeit und Vergesellschaftung in den Bereich der Utopie verweist. Dies läuft auf die Alternative zwischen perspektivloser Reformhandwerkelei und abstrakter Revolutionsmetaphysik hinaus. Stattdessen sollte in Erinnerung gerufen werden, dass die kapitalistische Gesellschaft im Laufe der Geschichte höchst unterschiedliche Gestalten angenommen hat. Natürlich wirken in ihr ökonomische Gesetze und objektive Zwangsverhältnisse, die nicht einfach überspielt werden können, aber es hängt immer auch von sozialen Kräfteverhältnissen ab, wie und in welchem Grade diese zur Wirkung kommen. Unter den Bedingungen der herrschenden neoliberalen Hegemonie, die unter dem Slogan vom „Ende der Geschichte“ die bestehenden Verhältnisse zur unverrückbaren Naturtatsache erklärt, scheint es uns zuvorderst notwendig, dass es wieder möglich wird, über den Tellerrand einer zunehmend eindimensionaler werdenden Gesellschaft hinaus zu sehen und in konkreterer Form zu begründen, dass eine andere Welt tatsächlich möglich ist. Um mit André Gorz zu sprechen: „Es gilt zunächst, das Denken und die Phantasie von ideologischen Gemeinplätzen des herrschenden gesellschaftlichen Diskurses zu befreien..., die gegenwärtige, auseinander fallende Gesellschaft aus der Perspektive der ganz anderen Gesellschaft und Ökonomie wahrzunehmen, die sich am Horizont der aktuellen Veränderungen als deren äußerster Sinn abzeichnen. Das verpflichtet einerseits dazu, denn Sinn dieser Veränderungen und die sich daraus ergebenden Umrisse des Künftigen deutlicher auszumachen. Andererseits zwingt es zu der Einsicht, dass wir keine „Krise“ erleben, die durch die Widerherstellung früherer Bedingungen gelöst werden könnte, sondern dass wir einen Wandel erleben, durch den der Kapitalismus selbst seine eigenen Existenzgrundlagen zerstört und selbst die Voraussetzungen zu einer eigenen Überwindung schafft“. Wir versuchen also, einen Realismus zu praktizieren, der die bestehenden technischen und menschlichen Möglichkeiten der Gesellschaft – wenn man so will ihre wirklich vorhandenen Produktivkräfte – zur Kenntnis nimmt. Zugleich aber müssen wir feststellen, dass diese immer deutlicher mit den herrschenden Produktionsverhältnissen in Widerspruch geraten. Es kommt darauf an, zu zeigen, dass die augenblicklich existierende gesellschaftliche Organisation in einem eklatanten Missverhältnis zu den vorhandenen gesellschaftlichen Potentialen steht. Dies erfordert eine andere und in diesem Sinne radikalere Form des Nachdenkens über Gesellschaft, über die in ihr liegenden Möglichkeiten und über denkbare Formen ihrer Realisierung. Dazu werden keine fertige Blaupausen oder politische Strategieanweisungen gebraucht. Wirksame gesellschaftliche Alternativkonzepte werden nicht am Schreibtisch ersonnen, sondern entwickeln sich aus praktischen Auseinandersetzungen, in die die Erfahrungen und Bedürfnisse der Menschen eingehen. Es handelt sich bei unseren Überlegungen daher eher darum, zu zeigen, dass andere Vergesellschaftungsformen nicht nur denkbar, sondern möglich sind. Eine neue soziale Bewegung, in deren Zusammenhang konkretere gesellschaftliche Konzepte entwickelt und durchgesetzt werden könnten, wird sich in Formen und Inhalten von der alten Arbeiterbewegung unterscheiden. Es geht nicht mehr allein um die Verbesserung der Bedingungen für die Lohnarbeit, sondern um neue Formen des gesellschaftlichen Arbeitens überhaupt. Ansätze dafür gibt es im globalen Maßstab. Eine Bewegung wird sich aber nur dann erfolgreich entwickeln, wenn es gelingt, die bestehende ideologische Hegemonie radikal in Frage zu stellen, d.h. sich der Logik des herrschenden „Einheitsdenkens” (Bourdieu) zu entziehen. Dazu ist eine Verbindung von praktischen Initiativen und Kämpfen mit theoretischen Diskussionen unerlässlich.

Unsere These ist, dass die kapitalistische der Arbeitsgesellschaft, wie sie sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Form des Fordismus entwickelt hatte, bereits sehr weitgehend ihre Grundlagen verloren hat. Der neoliberale, mit dem Begriff „Globalisierung“ bezeichnete Angriff auf den fordistischen Klassenkompromiss hat eine ökonomisch – technische Entwicklung vorangetrieben, durch die die Arbeitsverhältnisse fundamental umgewälzt werden. Dabei zerbröselt das traditionelle und in langen sozialen Kämpfen durchgesetzte Normallohnarbeitsverhältnis und die Möglichkeit einer dauerhaften Vollbeschäftigung erweist sich endgültig als Illusion. Deshalb ist es notwendig, den Begriff der gesellschaftlichen Arbeit neu zu definieren und völlig andere Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit ihr ins Auge zu fassen.

Wir gehen bei unseren Überlegungen von zwei Voraussetzungen aus:

Erstens haben die Gesellschaften, zumindest in den kapitalistisch entwickelteren Teilen der Welt, ein Maß an Produktivität erreicht, das die zur Erzeugung der notwendigen Güter und Dienstleistungen erforderliche Arbeit erheblich vermindert hat. Ihr tatsächlicher und potentieller Reichtum lässt es zu, auf den allgemeinen Arbeitszwang als Grundlage ihrer Reproduktion zu verzichten. Unter kapitalistischen Bedingungen äußert sich diese Entwicklung allerdings in der Form, dass sich Arbeitslosigkeit und marginalisierte Beschäftigungsverhältnisse immer weiter ausdehnen, während in den produktiven Kernsektoren tendenziell immer länger und intensiver gearbeitet werden muss. Die gesellschaftliche Arbeit ist also extrem ungleich verteilt. Dies führt dazu, dass mit wachsendem Reichtum der Gesellschaft zugleich die Armut zunimmt, noch dadurch verstärkt, dass der Anspruch auf sozialstaatliche Leistungen prinzipiell an das Normalarbeitsverhältnis gebunden bleibt. Deshalb vergrößern sich die materiellen Ungleichheiten und ökonomisches Wachstum geht nicht mehr – wie noch im Fordismus – mit steigendem Massenwohlstand einher. Das der Kapitalismus durch Reichtum Armut erzeugt, wird selbst in seinen Zentren immer deutlicher. Zugleich dient, um dem Kapital weitere profitable Anlagemöglichkeiten zu eröffnen, ein wachsendes Maß gesellschaftlicher Arbeit unnützen oder sogar schädlichen Zwecken. Man denke beispielsweise nur an die Menge von Arbeit, Material und Energie, die verschlissen werden, um im ICE von Hamburg nach München eine halbe Stunde Fahrtzeit zu sparen.

Zweitens müssen wir realisieren, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung einen Grad von Komplexität erreicht hat, das es immer schwerer macht, das materielle Einkommen individuellen Arbeitsleistungen zuzurechen. Die „Besserverdienenden“ in den ökonomischen Kernsektoren können ihre „Leistung“ nur erbringen, weil sie auf eine wachsende Menge von Produkten und Dienstleistungen zurück greifen können, die zum großen Teil schlecht oder gar nicht bezahlt werden, von der Hausarbeit über vielfältige persönliche Dienstleistungen bis hin zur Produktion von fast food. Schon gar nicht bezahlt wird die Arbeit von Umweltaktivisten, die sich bemühen, die Schäden wenigstens zu begrenzen, die die Arbeit der „Leistungsträger“ permanent anrichtet. Praktisch werden die bestehenden und durch einen sachlichen Leistungsbegriff kaum zu rechtfertigenden Einkommensunterschiede durch ein komplexes System von Ausgrenzungen und Diskriminierungen aufrecht erhalten, gesteuert über das Bildungssystem, geschlechtliche und rassistische Diskriminierungen, die bestehenden sozialstaatlichen Mechanismen u.v.a.m. Die bestehenden Arbeitsteilungsverhältnisse verlangen daher zumindest eine relative Entkoppelung von Arbeit im Sinne des Normallohnarbeitsverhältnisses und Einkommen.

Auf diese Voraussetzungen gründet sich unser Konzept der sozialen Infrastruktur. In seinem Zentrum steht ein umfassender Ausbau öffentlicher Güter und Dienstleistungen, die allen Menschen unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden müssen. Dies reicht von Bildung und Ausbildung über Gesundheitsvorsorge bis hin zu Wohnen und Verkehr. Dass diese, der Reproduktion der Arbeitskraft dienenden Vorkehrungen, auch ein Teil der für das Kapital notwendigen Infrastruktur sind, sollte zur Kenntnis genommen werden. Es geht dabei um eine „Dekommodifizierung“ (d.h. Beseitigung der Warenförmigkeit von Gütern und Dienstleistungen), die in klarem Gegensatz zu der gegenwärtig auf einzelstaatlicher wie internationaler Ebene verstärkt durchgesetzten Privatisierungspolitik steht. Gleichzeitig wäre diese Infrastruktur so weit als möglich dezentral zu organisieren, sodass sie bedarfsnah und von den Beteiligten unmittelbar beeinfluss- und kontrollierbar gestaltet werden kann. Die Menschen sollen nicht als abhängige Klienten des Sozialstaats und seiner Experten behandelt werden, sondern selber – z.B. im Rahmen von Verfügungsfonds – darüber entscheiden, welche Einrichtungen und Dienstleistungen sie brauchen. Dies zielt auf eine grundlegende Transformation der Institutionen und der herrschenden Form bürokratisch – etatistischer Vergesellschaftung (Kunstreich 1999, 140ff.). Das existierende System von Sozialhilfe und Sozialversicherung wäre durch eine allgemeine, für alle geltende und aus Steuern finanzierte Grundsicherung abzulösen, die sich nicht auf ein materielles Existenzminimum beschränkt, sondern ein würdiges Leben, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und umfassende gesellschaftliche Teilhabe garantiert. Darüber Hinausgehendes, z.B. höhere Altersrenten, wäre dann individuell und privat zu regeln. Die Grundsicherung hätte die Bedürfnisse abzudecken, die nur warenförmig, d.h. nicht über die ausgebaute soziale Infrastruktur befriedigt werden können. Insofern besteht zwischen „Infrastruktur“ und „Grundsicherung“ ein enger Zusammenhang. (Näheres zu diesem Konzept vgl. „Sozialpolitik als soziale Infrastruktur“, www.links-netz.de).

In vielen Diskussionen sind wir mit Einwänden konfrontiert worden, die dieses Konzept als im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Verhältnis nicht realisierbar und daher utopisch bewertet haben. Diese Einwände sind ernst zu nehmen, müssen aber genauer überprüft werden. Dazu einige Bemerkungen.

Einwand 1: Diese Überlegungen gehen zumindest teilweise in die gleiche Richtung wie der neoliberale Sozialstaats-“Umbau“

In der Tat deutet sich bereits an, dass sich der herrschenden Politik ähnliche Tendenzen durchsetzen werden. Dies gilt insbesondere für die Grundsicherung, die ursprünglich eine neoliberale Erfindung darstellt. Ein Grundeinkommen auf niedrigem Niveau, verbunden mit bürokratischen Kontrollen, erscheint einigen neoliberalen Strategen als ein geeignetes Mittel, die wachsende Zahl Prekarisierter und Marginalisierter ruhig zu stellen. Damit würden gesellschaftliche Spaltungsprozesse weiter vorangetrieben. Verbunden mit extensiven Bedürftigkeitsprüfungen und Kontrollen würde dies eine Verschärfung der Überwachungs- und Disziplinierungswirkungen des Sozialstaats beinhalten. Nach unseren Überlegungen geht es aber um etwas völlig anderes. Im Zentrum steht die soziale Infrastruktur, die notwendige Güter und Dienstleistungen kostenlos für alle zur Verfügung stellt und die dezentral und demokratisch verwaltet werden muss. Nur im Kontext dieser materiellen Infrastruktur macht die Grundsicherung einen Sinn. Für sie sind drei Prinzipien maßgebend: sie muss ausreichend hoch sein, also weit mehr abdecken als ein minimales materielles Existenzniveau; sie muss für alle zur Verfügung stehen und sie muss bedingungslos, d.h. ohne Nachweise und Kontrollen zur Verfügung gestellt werden. So etwas ist kaum neoliberal vereinnahmbar, bedeutet aber auch, dass man sich sehr genau mit den herrschenden „Umbau“-Strategien auseinandersetzen muss.

Einwand 2: Das Konzept ist nicht finanzierbar

Ein grundlegender Ausbau der öffentlich finanzierten sozialen Infrastruktur einschließlich eines ausreichenden Grundeinkommens wäre zweifellos mit erheblichen Kosten verbunden, was heißt, dass die Durchsetzung eines derartigen Konzepts nicht ohne erhebliche politisch-soziale Kämpfe abgehen würde. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass auch der bestehende Sozialstaat immense Kosten verursacht, z.B. für ein ziemlich ineffizientes Gesundheitssystem und einen riesigen Komplex von verwaltenden und kontrollierenden Bürokratien, die zum großen Teil nicht mehr benötigt würden. Dazu kommt, dass nach unseren Vorstellungen die enormen Sozialversicherungsumlagen wegfallen würden. Notwendig wäre aber auf jeden Fall eine drastische Erhöhung der Steuern auf Einkommen und Vermögen, die in den letzten Jahren gegen jede ökonomische und soziale Vernunft immer weiter vermindert, wenn nicht überhaupt abgeschafft worden sind. Weiteres kommt hinzu, beispielsweise die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf nicht lebensnotwendige oder schädliche Produkte, Umschichtungen der öffentlichen Haushalte, etwa der Abbau von Subventionen, die nur dazu dienen, mit dem Argument der Arbeitsplatzerhaltung unwirtschaftliche Produktionen aufrecht zu erhalten oder oft zu Mitnahmeeffekten z.B. bei der Technologie- und Regionalförderung führen. Siehe z.B. Transrapid, von Rüstungsausgaben zwecks imperialer Interventionsfähigkeit bei Fehlen einer wirklichen militärischen Bedrohung einmal ganz zu schweigen. Unser zentrales Argument ist, dass diese Gesellschaft reich genug ist, bei einer vernünftigen Gestaltung öffentlicher Einnahmen und Ausgaben eine solche Infrastruktur zu finanzieren. Allerdings bedeutet dies, dass – genau gegen den herrschenden Trend – erhebliche Umverteilungen erkämpft werden müssten, und zwar nicht nur vertikal zwischen „Kapital” und „Arbeit” „Reichen” und „Armen”, sondern auch horizontal.

Einwand 3: Die Lohnarbeit wird abgeschafft bzw. niemand will mehr arbeiten.

Es geht in der Tat darum, den Zwang zur Lohnarbeit zu vermindern. Abgeschafft werden soll sie allerdings nicht. Dies würde in der Tat das Ende des Kapitalismus bedeuten. So wünschenswert dies wäre, sind die Bedingungen dafür nicht gegeben und wir verfügen derzeit auch über kein überzeugendes Modell gesellschaftlicher Regulierung, das ohne Privateigentum und Marktwirtschaft auskommt. Deshalb bleibt Lohnarbeit – oder auch selbständige Arbeit für den Markt – notwendig zur Befriedigung von Bedürfnissen, die über die Grundsicherung hinausgehen. Lockerung des Lohnarbeitszwangs heißt, dass die Menschen nicht mehr gezwungen sein sollen, jede Arbeit unter allen Bedingungen anzunehmen. Das ist ein Anspruch, der angesichts der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung realisierbar ist. Auch unangenehme und schwere Arbeiten werden getan werden, wenn sie ausreichend bezahlt werden. Die Annahme, dass die Menschen nicht mehr arbeiten werden, wenn sie nicht dazu gezwungen sind, bedeutet, dass ein historisch entstandenes Zwangsverhältnis zu einer anthropologischen Konstante erklärt wird. Dagegen lässt sich sagen, dass sich Menschen grundsätzlich durch Arbeit verwirklichen wollen, sei es durch Lohnarbeit, sofern sie befriedigend und sinnvoll ist, sei es durch andere Formen von Tätigkeit. Die Lockerung des Lohnarbeitszwangs könnte dazu führen, dass nicht auf die Herstellung von Waren gerichtete „Eigenarbeit“- Subsistenzproduktion im weitesten Sinne – wieder einen größeren Stellenwert erhält, was ein gutes Mittel gegen eine die Umwelt ruinierende Wegwerfgesellschaft wäre. Arbeitsverhältnisse zu schaffen, in denen die Menschen sich freier entfalten und ihre Qualifikationen entwickeln können, würde jedenfalls ein beachtliches gesellschaftliches Innovationspotential frei setzen. Das hätte sogar im kapitalistischen Sinne seine Rationalität.

Einwand 4: Das Konzept beschränkt sich auf die entwickelten kapitalistischen Metropolen und vertieft die globalen Ungleichheiten.

Dieser Einwand ist ernst zu nehmen. Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass die notwendige Veränderung der ökonomischen Weltordnung mit den sie kennzeichnenden Ungleichheits- und Abhängigkeitsverhältnissen auf jeden Fall tiefgreifende Umwälzungen der Produktions- und Lebensweise in den kapitalistischen Metropolen voraussetzt. Solange die Verhältnisse dort so bleiben, wie sie sind, insbesondere wenn die Kommodifizierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Warenförmigkeit der Bedürfnisbefriedigung immer weiter vorangetrieben wird, bleibt der Gedanke an eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung illusionär. Man kann andererseits davon ausgehen, dass eine Veränderung der ökonomisch-sozialen Verhältnisse in den Metropolen auf die Peripherie ausstrahlen wird, und zwar nicht nur als Beispiel, sondern weil dadurch sich auch die ökonomischen Beziehungen zwischen Zentren und Peripherien verändern würden. Nicht ganz stichhaltig ist auch der Einwand, die Standortkonkurrenz in einer globalisierten Wirtschaft würde einzelstaatliche Anstrengungen von vorneherein zunichte machen. Einmal ist das Argument der Standortkonkurrenz zu einem wesentlichen Teil ein neoliberales Propagandaargument und zum zweiten sind größere Wirtschaftsräume wie z.B. die Europäische Union, durchaus in der Lage, eigene Wege zu gehen, wenn dies gewollt und politisch durchgesetzt wird. Die neoliberale Globalisierung ist kein Naturgesetz, sondern ein politisch in Gang gesetztes Projekt, das durchaus revidiert oder modifiziert werden kann. Eine Re-Regulierung der Weltwirtschaft steht angesichts ihrer immer deutlicher werdenden Krisenhaftigkeit ohnehin auf der Tagesordnung. Die Frage ist nur, in welchem Interesse sie geschieht. Und dabei spielen die ökonomisch-sozialen Konstellationen und Kräfteverhältnisse in den Metropolen eine entscheidende Rolle. Eine andere Politik des Sozialen müsste eben in diese Richtung zielen.

Einwand 5: Ein solches Konzept ist unter kapitalistischen Bedingungen nicht realisierbar.

Bei diesem Argument ist einige Vorsicht geboten. Sowohl theoretisch wie historisch lässt sich begründen, dass die kapitalistische Akkumulationsdynamik zwar grundlegende Gesetzmäßigkeiten beinhaltet. In welchem Ausmaß und in welcher Form sie wirken, hängt jedoch von einer Vielzahl von Faktoren ab, von kulturellen Normen und Wertvorstellungen sowie von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Solange die Gesellschaft nicht revolutionär umgewälzt wird, muss das Kapital weiter Profite machen können, wenn die ökonomische Reproduktion nicht zusammenbrechen soll. Dies kann aber unter gesellschaftlich kontrollierteren Bedingungen geschehen.

Was mit den Überlegungen zum Ausbau der sozialen Infrastruktur also angezielt wird, ist ein „radikaler Reformismus“. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass eine grundlegende Veränderung der Vergesellschaftungsverhältnisse, d.h. der Form der Arbeit und Arbeitsteilung, der Geschlechterverhältnisse, der Konsumweisen u.v.a.m. angestrebt wird. Dies ist nur als schrittweiser Prozess vorstellbar, weil es auch um die Veränderung von Wertvorstellungen und Verhaltensroutinen geht. Die Verwirklichung eines derartigen Konzepts würde deshalb scheitern, wenn versucht würde, es „von oben“, über die Köpfe der Menschen hinweg durchzusetzen. Es bedarf also einer sozialen Bewegung, die nicht nur politische Kraft entfaltet, sondern alltagspraktisch wirksam wird. Es geht uns also nicht um Regierungsberatung, sondern darum, konkreter auszubuchstabieren, dass solche Veränderungen notwendig und möglich sind. Ob und wie sie Wirklichkeit werden, hängt davon ab, dass sich in der Gesellschaft selbst neue Denkhorizonte und neue Formen sozialer Praxis durchsetzen.

Literatur:

Gorz, André: Auswege aus der Misere, in: H.-P. Krebs/H. Rein (Hg.), Existenzgeld. Kontroversen und Positionen, Münster 2000, 170-187

Hans-Peter Krebs/Harald Rein (Hg.): Existenzgeld. Kontroversen und Positionen, Münster 2000

Kunstreich, Tim: Die soziale Frage am Ende des 2o. Jahrhunderts. Von der Sozialpolitik zu einer Politik des Sozialen, in: Widersprüche, Jg.19, H.74, 1999, 135-155

© links-netz Februar 2004