Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Rezensionen Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Anarchismus revisited

zu Philippe Kellermanns „Anarchismusreflexionen“

Joachim Hirsch

Angesichts des Zusammenbruchs des Staatssozialismus, der damit zusammenhängenden erneuten „Krise des Marxismus“ und des Scheiterns sozialdemokratisch-etatistischer Reformpolitik müsste die anarchistische Theorie an sich derzeit Konjunktur haben. Dazu kommt die durch die neoliberale Offensive erzeugte Krise der Repräsentation, weil die liberale Demokratie im Zuge der sogenannten Globalisierung weitgehend zu einer leeren Hülle geworden ist. Das überkommene Parteiensystem zerbröselt und immer weniger machen sich die Menschen Illusionen darüber, was der Staat und staatliche Politik für sie bedeutet und bedeuten kann. Selbstorganisation und direkte Interessenwahrnehmung sind auf der Tagesordnung, von den Stuttgarter „Wutbürgern“ bis hin den Block- und Occupybewegungen. David Graebners Buch „Inside Occupy“ (Frankfurt/Main 2012) hat bis in die Feuilletons hinein einiges Aufsehen erregt und auch John Holloways „Die Welt verändern ohne die Macht zu ergreifen“ (Münster 2002) passte gut in diese politische Landschaft und hatte eine entsprechende Resonanz.

Dennoch spielt Anarchismus in der theoretischen Diskussion zumindest hierzulande keine besondere Rolle. Diese ist allerdings derzeit ganz allgemein in keinem allzu guten Zustand. Dazu kommt, dass in der Geschichte des Anarchismus zumindest teilweise ein gewisser Hang zur Sektenbildung und Selbstisolierung erkennbar ist, was offenen theoretischen und politischen Auseinandersetzungen nicht förderlich ist. Vielleicht trifft auch Eric Hobsbawms auf die zeitgenössischen antikapitalistischen Bewegungen gemünzte Feststellung zu, dass anarchistische Haltungen dann Konjunktur haben, wenn es eine starke gesellschaftliche Unzufriedenheit gibt und zugleich klare theoretische Analysen und strategische Orientierungen abhanden gekommen sind. Selbstisolierung und systematische Nichtachtung gibt es allerdings auch von der anderen Seite her reichlich, z.B. wenn, wie Wolf-Dieter Narr im vorliegenden Band anmerkt, die etablierte Politikwissenschaft von anarchistischer Theorie praktisch keine Notiz nimmt. Das hängt wohl mit dem in der Politologie verbreiteten Selbstverständnis als Hilfswissenschaft der Herrschenden zusammen. Auch „Marxisten“ haben mit dem Anarchismus in der Regel wenig am Hut und sind der Ansicht, dieses Kapitel sei mit der Kritik des Meisters an Bakunin abgeschlossen. Verkannt wird dabei, dass – wie noch einmal Narr betont – eine wirklich kommunistische Gesellschaft anarchistisch sein müsste. In seiner Schrift über die Pariser Kommune hat dies Marx ja auch wenigstens angedeutet. Radikal utopisches Denken ist dem „Marxismus“ allerdings eher fremd, was Anarchisten an ihm zu Recht kritisieren. Auch dies mag zu gegenseitigem Unverständnis beigetragen haben.

„Anarchismus“ ist ein Sammelbegriff, mit dem recht verschiedene theoretische und politische Strömungen zusammengefasst werden: individual-anarchistische, libertäre, anarchokommunistische, anarchosyndikalistische und andere mehr. Eine Rolle spielt auch der sogenannte Post-Anarchismus, d.h. der Versuch, die anarchistische Theorie unter Rückgriff auf poststrukturalistische und postmoderne Theorien zu aktualisieren. Daneben gibt es in vielfältigen Ausprägungen einen „Lifestyle-Anarchismus“, der sich weder theoretisch noch besonders politisch gibt. Bei allen Unterschieden gibt es Gemeinsamkeiten: das Beharren auf der Gleichheit aller Menschen und dem Prinzip von Selbstorganisation, die Ablehnung aller gesellschaftlicher Hierarchien und damit auch des Staates, von Stellvertretungspolitik und politischer Repräsentation. Freie Assoziation, Dezentralität und Föderalismus sind die angestrebten gesellschaftlichen Organisationsformen. Dass der Anarchismus theoretisch wie politisch immer noch bzw. wieder eine Randexistenz hat, hängt indessen und vor allem auch mit einigen seiner theoretischen und politischen Schwächen und Defizite zusammen.

Dies ist der Hintergrund der von Philippe Kellermann herausgegebenen „Anarchismus-Reflexionen“. Er versammelt darin eine Reihe von Gesprächen, die er mit Personen überwiegend aus dem anarchistischen Spektrum geführt hat und die sich – natürlich – mit Selbstrechtfertigung, aber auch recht nachhaltig mit Selbstkritik beschäftigen. Natürlich zieht sich durch die Gespräche eine Auseinandersetzung mit Marxscher Theorie hindurch, allerdings mit dem Bemühen, diese nicht nur allgemein zu kritisieren, sondern sie ernst zu nehmen und auch zu realisieren, dass es neben dem orthodoxen Marxismus auch „libertäre“ Strömungen gibt.

Die Selbstkritik bezieht sich auch auf den Hang zur Mythologisierung und Heroisierung des spanischen Anarchismus und seiner Rolle im Bürgerkrieg, den etwa Martin Baxmeyer einer recht harten Kritik an der politischen, den eigenen Idealen oft widersprechenden Praxis unterwirft. Ähnliches gilt für Siegbert Wolfs Blick auf die anarchistische Praxis in der Münchner Räterepublik nach dem ersten Weltkrieg. Schwerpunkte der in dem Buch versammelten kritischen Reflexionen sind die deutlichen Defizite des Anarchismus in Bezug auf die Ökonomie- und Staatstheorie. Das gilt insbesondere für die Schwierigkeiten, die aktuellen Transformationsprozesse des Kapitalismus zu begreifen sowie hinsichtlich Reduktion des Staates auf einen Repressionsapparat – ohne zu berücksichtigen, dass dieser ein recht komplexes soziales Verhältnis darstellt. In der Tat ist staatlich-politische Herrschaft kaum zu begreifen, wenn man nicht auf Gramscis Hegemonie-, Foucaults Macht- oder Bourdieus Habitustheorie zurückgreift. Nicht zuletzt wäre Nicos Poulantzas‘ Hinweis zu berücksichtigen, dass der Staat als institutionelle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse zu begreifen ist und den Individuen nicht äußerlich gegenübersteht. Einen weiteren Schwerpunkt stellt die „Organisationsfrage“ dar, einmal dahingehend, wie revolutionäre Prozesse praktisch, z.B. hinsichtlich politischer Bündnisse zu denken sind, zum anderen hinsichtlich der Gestaltung einer freien Gesellschaft, wenn man davon ausgeht, dass soziale Konflikte und allgemeine gesellschaftliche Angelegenheiten institutionell bewältigt und geregelt werden müssen, man also von dem im Anarchismus öfter feststellbaren naiven Glauben an das Gute im Menschen und dem ebenso naiven Vertrauen auf gesellschaftliche Spontaneität Abstand nimmt. Angeschnitten wird auch das Verhältnis des Anarchismus zum Neoliberalismus, mit dem er zumindest vordergründig radikalen Individualismus und Staatsfeindschaft gemeinsam hat. Und schließlich richtet sich der Blick darauf, dass auch dem Anarchismus in der Praxis Sexismus und Rassismus nicht ganz fremd sind.

In Bezug auf eine gesellschaftliche und politische Theorie auf der Höhe der Zeit bleibt auch im anarchistischen Feld allerdings noch einiges zu tun. Ein Symptom ist die recht fraglos positive Aufnahme, die das Buch von John Holloway beispielsweise in dem Beitrag von Peter Seyferth findet. Die Kritik an ihm beschränkt sich darauf, dass er im Kern Anarchist sei, sich selbst aber davon distanziere. Von den theoretischen Problemen des Hollowayschen Ansatzes sowie von seinem ebenfalls etwas naiven Romantizismus ist dabei keine Rede.

Die versammelten Beiträge zeichnen sich durch eine große Offenheit und nicht zuletzt dadurch aus, eigene Wahrnehmungen und Erkenntnisse grundsätzlich in Frage zu stellen. Wichtig ist auch der Blick darauf, dass es in konkreten Situationen, im politischen Handgemenge oft schwerfällt, die Praxis mit den eigenen Prinzipien in Übereinstimmung zu bringen. Das alles schafft eine gute Voraussetzung für eine Debatte weit über den engeren Umkreis des Anarchismus hinaus. Theoretische Schwachstellen und politische Orientierungsprobleme gibt es schließlich nicht nur bei diesem. Eine Auseinandersetzung mit dem Anarchismus böte immerhin die Gelegenheit, über Vergesellschaftungsformen jenseits von Staat und kapitalistischer Ökonomie nachzudenken

Philippe Kellermann (Hg.), Anarchismusreflexionen. Zur kritischen Sichtung des anarchistischen Erbes. Gespräche. Verlag Edition AV, Lich, 258 Seiten.

© links-netz August 2013