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Kinder, Kinder!

Joachim Hirsch

Kinder sind der politische Hit der Saison. Seit einiger Zeit drehen sich die öffentlichen Debatten vornehmlich um sie. Da können endlich alle mitreden. Die Tatsache, dass Innenminister Schäuble entschlossen an der Etablierung eines totalitären Staates arbeitet, beschäftigt dagegen bestenfalls einige Datenschützer. Endlich sind mal die richtigen Prioritäten gesetzt, denn Kinder sind schließlich unsere Zukunft! Und wenn es um Kinderkrippen, Familienidylle und Zeugungsverhalten geht, sieht diese doch ganz rosig aus. Gegenüber den Klimakatastrophen, dem Globalisierungsdesaster, den allenthalben angezettelten Kriegen und den permanent an die Wand gemalten Terrorgefahren fühlt man sich eher hilflos. Hier hingegen kann endlich selbst etwas getan werden: für Nachwuchs sorgen eben. Aus dem Kinderthema ist längst mehr geworden als die Personalityshow einer vor allem medial kompetenten Familienministerin. Die ARD (immerhin eine ganze Woche lang) und natürlich die Kirchen, vor allem aber die Bertelsmann-Stiftung und die von der Industrie finanzierte „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ haben sich jetzt seiner angenommen. Statt „Du bist Deutschland“ wird es wohl bald „Du bist Eltern“ heißen. Den Papst, der wir ja schließlich auch sind, wird es erfreuen. Wenn die wichtigsten neoliberalen Propagandaapparate tätig werden, wird die Sache allerdings ernst. Offensichtlich handelt es sich um eine gesteuerte ideologische Offensive. Die „Zivilgesellschaft“ tritt mal wieder in Aktion.

Von den Problemen der Überbevölkerung ist dabei keine Rede, und ebenso wenig von der rasant wachsenden Kinderarmut, ganz zu schweigen von der familiären Gewalt gegen Kinder, die die immer mal wieder der Boulevardpresse zu Schlagzeilen verhilft. Stattdessen wird ein Moraldiskurs geführt, ganz ähnlich wie bei der gleichzeitig ablaufenden Anti-Raucher-Kampagne. Allerdings mit einer umgekehrten Wendung: Raucher sind böse, Kinder gut. Ganz so wie der putzige Eisbär Knut. Die Botschaft ist: die Leute selbst sind an den Problemen schuld, ob sie nun rauchen oder zeugungsresistent sind. Wie immer stehen bei Moraldiskursen handfeste Interessen dahinter. In diesem Fall ist das Interessengeflecht freilich höchst komplex, zum Teil widersprüchlich und jedenfalls nicht einfach zu entziffern.

Da spielt zunächst einmal die Demografie eine Rolle, ein Thema, das sich besonders gut dazu eignet, Kapital- und Herrschaftsinteressen zu unterstützen. Mehr Kinder werden angeblich gebraucht, um unsere Renten zu sichern, was freilich nicht daran hindert, letztere gleichzeitig immer weiter zusammenzustreichen. Dass dabei mit fehlerhaften Rechnungen und Begründungen gearbeitet wird, ist längst bekannt. Wie sicher die Renten sind, hängt weniger von der Bevölkerungsentwicklung als von den künftigen Beschäftigungsmöglichkeiten, der Arbeitsproduktivität und der Gestaltung der Staatsfinanzen ab. Würden die Unternehmenssteuern nicht gegen Null gesenkt, bliebe auch für die Rentner etwas übrig. Massenhaft produzierte Arbeitslose sichern jedenfalls keine Renten. Mit dem Demografiethema verbindet sich des Weiteren ein handfester Rassismus. Arbeitswillige gibt es in der Welt nämlich genug. Da aber Zuwanderung auf – nicht zuletzt systematisch produzierte – Akzeptanzprobleme stößt, müssen deutsche Kinder her. Dann kann man auf längere Sicht auch die Grenzen dicht machen.

Und es geht noch um etwas anderes. Nicht nur die angeblich ungünstige Bevölkerungspyramide im allgemeinen ist das Problem, sondern die Zukunft des deutschen Volks. Dieses droht nämlich auszusterben. Angesichts dessen, was diese Kulturnation an Gutem über die Welt gebracht hat, wäre das wirklich schlimm. Also sind nicht irgendwelche Kinder erwünscht, sondern die blonden, die allenthalben die Familienvans bevölkern.

Mit dem Kinderthema verbindet sich auch ein Elitendiskurs. Die irgendwie problematisch erscheinende „Unterschicht“ soll nämlich besser nicht weiter wachsen. Daher sind es vor allem die „Besserverdienenden“, die mehr Kinder zeugen sollen. Diese tun es angeblich zu wenig, was allerdings der Statistik widerspricht. Die prekäre „Unterschicht“ kommt nämlich angesichts wachsenden Arbeitszwangs und der permanenten Senkung ihrer Löhne sowieso nicht so recht dazu. Für diese Form der Elitenförderung wird bereits einiges getan. Etwa mit der Einführung des Elterngeldes, das vor allem die Reichen begünstigt. Dasselbe gilt für das von CDU und CSU neuerdings in die Diskussion gebrachte Kinder-Splitting bei der Einkommensteuer.

Und dann geht es natürlich auch um Frauenemanzipation – eine in diesem Zusammenhang besonders vertrackte Angelegenheit. Der Ausbau der Kinderkrippen soll es ermöglichen, dass mehr Frauen Lohnarbeit leisten können. Hier gilt es im internationalen Vergleich in der Tat einen erheblichen Rückstand aufzuholen. Ursula von der Leyen hat diesbezüglich bei ihrer Ankündigung erst mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn weder der Bund noch die Länder wollen so richtig dafür bezahlen. In gewissem Sinne wäre der Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung sicher ein Fortschritt, auch wenn es dabei zu berücksichtigen gilt, dass derlei Maßnahmen auch darauf abzielen, dem Kapital mehr billige – eben weibliche – Arbeitskräfte zu verschaffen. Ganz abgesehen davon, dass bei immer weiter zurück gehenden Löhnen der Doppelverdienst zur existenziellen Notwendigkeit wird. Und nicht nur das: auch eine nationale Reserve des Dienstpersonals für die Besserverdienenden stünde damit reichlicher zur Verfügung.

Für die, die den Platz der Frauen immer noch in Heim und Herd sehen, ist diese Vorstellung allerdings des Teufels. Ein bayerischer Bischof hat sich diesbezüglich deshalb enorm ins Zeug gelegt. Eine Rettung aus diesem Konflikt hat der ebenfalls bayerische Stoiber ersonnen: er will den Familien, die ihre Kinder zu Hause aufziehen, eine extra Prämie zahlen. Damit die Kinderkrippen nicht zu voll und die Familien seiner Vorstellung nach intakt bleiben.

Überhaupt die Familien. Dass eine zentrale Wurzel von Frauendiskriminierung und
-unterdrückung in der bestehenden Familienstruktur liegt, ist längst kein öffentliches Thema mehr. Die Familie ist schließlich die Grundlage des Staates und damit der bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse. So soll es bleiben und sie gilt es zu retten, auch wenn das angesichts der Auswirkungen der neoliberalen „Reformen“ etwas schwierig wird. Über die Folgen einer immer weiter vorangetriebenen Zwangsmobilität wird indessen nicht geredet, genauso wenig über Arbeitszeitverlängerung und Arbeitskraftbereitstellung rund um die Uhr. Über die familiäre Abwesenheit der Väter wird häufiger geklagt. Verkäuferinnen, die angesichts verlängerter Ladenöffnungszeiten kaum mehr Zeit für ihre Kinder haben, sind dagegen kein Thema. Aber um die, die davon hauptsächlich betroffen sind, geht es in Wirklichkeit ohnehin nicht. Man sorgt sich um die „Eliten“.

Mit der postfordistischen Umstrukturierung des Kapitalismus ist hierzulande ein neoliberal-konservativer Diskurs beherrschend geworden. Das Kinderthema ist ein neuer Bestandteil dieses ideologischen Projekts. Es zielt darauf ab, den neoliberalen Umbau der Gesellschaft und die damit verbundenen Spaltungen mit konservativen Vorstellungen von Familie und Geschlechterbeziehungen in Einklang zu bringen. In diese Diskursstrategie fließen viele und zum Teil recht unterschiedliche Interessen ein – kapitalistische, rassistische und reaktionär-ideologische. Manchen, die dabei mitmachen, fehlt auch schlicht nur der Durchblick auf das, was dabei gespielt wird. Das schafft vielerlei Konflikte. Ob die Strategie im demografischen Sinne letztlich erfolgreich sein wird, kann man bezweifeln. Die ideologische Wirksamkeit liegt indessen auf der Hand. Was aber auf jeden Fall gelingt, ist das systematische Ablenken von den immer desaströser werdenden gesellschaftlichen Zuständen.

© links-netz Mai 2007