Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Deutsche Zustände Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

Kindersegen

Joachim Hirsch

Man kennt das aus dem „Tatort“. Die Frage an die Kommissarin: Haben Sie Kinder? Was sie etwas verlegen verneint. Karrierefrauen, so das herrschende gesellschaftliche Stereotyp, haben keine Kinder. Oder bestenfalls leidlich erwachsene aus einer gescheiterten Ehe, die (wohl deshalb) Probleme bereiten. Keine Kinder zu haben, gilt jedenfalls irgendwie als Mangel, hat etwas mit Egoismus und Verantwortungslosigkeit zu tun. Kindermangel gefährde die Zukunft unserer Gesellschaft, so als hinge diese ausgerechnet von der Geburtenrate und weniger von den bevorstehenden Wirtschafts- und Umweltdebakeln ab. Und natürlich geht es immer wieder auch um die Renten. Dass diese nicht mehr sicher sind, liegt allerdings weniger am Nachwuchsmangel, sondern an einer nur noch als abenteuerlich zu bezeichnenden Wirtschafts- und Sozialpolitik, die systematisch die gesellschaftliche Zukunft verbaut. Man kann im Übrigen die Rechnung auch anders herum aufmachen: Stellt das Bevölkerungswachstum nicht irgendwie auch ein Problem dar, wenn das Kapital eine ständig wachsende Zahl von Menschen als Arbeitskräfte überschüssig macht? Oder wie ist es mit dem Zusammenhang zwischen Klima- und anderen Katastrophen und der rapide wachsenden Erdbevölkerung? Müssen wir uns wirklich immer stärker gegenseitig auf die Füße treten? „Verantwortung“ kann man schon in dieser Hinsicht ziemlich unterschiedlich sehen.

In der politischen Debatte spielen solche Überlegungen indessen keine Rolle. Hier hat die Geburtenrate die Funktion eines Dauerbrenners, der als Lückenfüller der Diskurskonjunkturen nicht zuletzt dazu dient, die wirklichen Probleme zu vernebeln. Der Erfolg der zuständigen und treffenderweise extrem kinderreichen Ministerin wird nicht zuletzt an den Geburtenzahlen gemessen, ganz ungeachtet der Fragwürdigkeit der dafür herangezogenen statistischen Daten. Noch vor einigen Monaten ging die frohe Nachricht durch die Medien, die hierzulande schon länger ziemlich niedrige Rate sei endlich wieder angestiegen. Das war allerdings vorschnell. Vor kurzem ist sie angeblich schon wieder gefallen. Das wird als Menetekel gehandelt und der Ministerin Erfolglosigkeit vorgeworfen. Maßnahmen wie die Einführung des Eltern- oder die Erhöhung des Kindergelds haben die Gebärfreudigkeit offensichtlich nicht erhöht. Man kann sich fragen, was die ganze Debatte eigentlich bezweckt.

Sucht man eine Antwort darauf, stößt man zunächst auf einen ziemlich trüben Sumpf von Biologismen. Da gibt es zuerst einmal die natürliche Bestimmung der Frau als Mutter. Diese Zuschreibung hat immer schon dazu hergehalten, ihre gesellschaftliche Unterdrückung zu begründen und zu legitimieren. Und dann geht es um das „deutsche Volk“, dem angeblich das Aussterben droht. Man könnte auch der Auffassung sein, der Welt wäre es besser bekommen, wenn dieser Vorgang vor einiger Zeit tatsächlich stattgefunden hätte. Schließlich spielt auch platter Sozialdarwinismus eine Rolle. Genau genommen kommt es nämlich nicht eigentlich auf die Geburtenrate als solche an. Diejenige der Menschen mit „Migrationshintergrund“ gilt sogar als irgendwie problematisch. Es geht vielmehr um die der Besserverdienenden, gerne auch als „Elite“ oder „Leistungsträger“ bezeichnet. Deren Nachkommen gelten nämlich als intelligenter und wertvoller. Zum Beispiel wenn sie als Börsenjongleure Milliarden verbrennen. Dieser Logik folgt auch die Konstruktion des Elterngelds, das eben diese Elite-Kinder ebenso begünstigt wie es die steuerlichen Kinderfreibeträge tun. Dazu passt im Übrigen auch der von unseren Leistungsträgern zäh geführte Kampf gegen eine Einheitsschule, womit verhindert werden soll, dass die Kinder der Wohlhabenden mit denen der „Unterschicht“ in Berührung kommen. Die klassenmäßige Selektivität des Bildungssystems ist eines ihrer zentralen Anliegen und Bildung wird, wie die FDP als deren Anwältin plakatiert hat, tatsächlich zum Bürgerrecht – aber eben nur für die „Bürger“.

Sucht man nach einem rationalen, sagen wir einmal ökonomischen Grund für die Gebärpropaganda, so könnte dieser darin liegen, dass sich das Kapital angesichts der für die Migration dicht gemachten Grenzen auf längere Sicht um den Arbeitskräftenachschub sorgt. Bekanntlich ist die Existenz einer menschlichen Reservearmee unabdingbar für den Kapitalprofit. Oder „Kinder statt Inder“, wie es ein deutscher Ministerpräsident auszudrücken beliebte. Der ideologische Sumpf nährt insoweit schlichte ökonomische Interessen. Gleichzeitig nimmt es nicht wunder, dass angesichts sinkender Löhne, Sozialstaatsabbau, Unsicherheit und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse die Neigung abnimmt, Nachwuchs in die Welt zu setzen. Immerhin lebt in Deutschland inzwischen jedes siebte Kind in Armut. Man könnte dem entgegenwirken, indem man dieses alles abstellt und dazu übergeht, eine soziale Infrastruktur zu schaffen, die allen ein menschenwürdiges Leben sichert, ob mit oder ohne Kinder. Der Ausbau von Ganztagesschulen und der Kinderbetreuung oder die Verstärkung der Schulsozialarbeit dabei würde sicherlich einiges helfen. Genau das Gegenteil ist aber die Absicht der Regierenden. Bei den schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen stand die Erhöhung des Kindergeldes und der Kinderfreibeträge ganz oben auf der Tagesordnung. Gegen jede auch ökonomische Logik soll wieder einmal die Klientel der Besserverdienenden bedient werden. Beachtlich und in der öffentlichen Diskussion weitgehend unbemerkt ist die Tatsache, dass in Deutschland die durch das Eltern- und Kindergeld sowie die Steuerfreibeträge anfallenden Kosten etwa genau so hoch sind wie die Ausgaben für das öffentliche Schulsystem insgesamt – ein Umstand, der seit Jahren sogar bei OECD-Experten Stirnrunzeln hervorruft. Auch das hat freilich seine Logik. Mit den Staatszuschüssen kann man die eigenen Kinder auf Privatschulen schicken, während das öffentliche Schulwesen immer mehr verrottet. Das zum „gesellschaftlichen Zusammenhalt“, von dem der Koalitionsvertrag schwadroniert.

Eine vernünftige Politik wäre, die soziale Infrastruktur so auszubauen, dass Kinder unabhängig vom sozialen Status der Eltern einigermaßen gesicherte Lebens-, Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten haben. Dann könnte das Kinderkriegen endlich zur Privatangelegenheit werden. Dies jedoch widerspricht dem herrschenden neoliberalen Credo, das auf eine radikale Privatisierung gesellschaftlicher Risiken abzielt. Die Privatisierung von Verantwortung im herrschenden Gebärdiskurs entspricht diesem. Das ist genau das Gegenteil von gesellschaftlicher Verantwortung.

© links-netz Oktober 2009