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„Europadämmerung“

Rezension zu Ivan Krastev

Joachim Hirsch

Der Verfasser des etwas melodramatisch so betitelten Buches, Ivan Krastev ist Philosoph und Politikwissenschaftler und arbeitet in mehreren internationalen wissenschaftlichen Institutionen. Seiner bulgarischen Herkunft ist es zu verdanken, dass sein Blick auf die Europäische Union Aspekte deutlich macht, die sonst eher weniger berücksichtigt werden.

Dieser Hintergrund begründet auch das „Déjà-vu“, mit dem er sein Essay einleitet, nämlich der Untergang des Habsburger Reiches als Vielvölkerstaat, der die Geschichte des Kontinents im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt hat. Dessen Zerfall erscheint ihm als Menetekel für das praktisch als unausweichlich angesehene Schicksal der EU. Es werde deutlich, dass ethnisch oder religiös codierter Nationalismus trotz des Geredes vom Ende des Nationalstaats immer noch eine entscheidende Triebkraft der Weltpolitik darstellt. Das Scheitern der EU bedeute nicht, dass es auf europäischer Ebene keine politische, kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit mehr geben würde, aber „dass wir unsere naiven Hoffnungen und Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Gestalt Europas und der Welt begraben müssen“ (16). Hoffnungen also, die sich auf ein Europa als Modell für eine zukunftsweisende Gestaltung des politischen Zusammenlebens jenseits nationalstaatlicher Grenzen und als von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten geprägte „Wertegemeinschaft“ beziehen. Stattdessen entstehe eine sich abschottende „Festung Europa“ mit verminderter weltpolitischer Bedeutung.

Zentrale These ist, dass diese Entwicklung vor allem dadurch verursacht werde, dass die Flüchtlingszuwanderung den Charakter demokratischer Politik auf einzelstaatlicher Ebene grundlegend verändert habe. Krastev bezeichnet die Migration als „neue Revolution des 21. Jahrhunderts“, „keine Revolution der Massen, sondern eine vom Exodus getriebene“ (21). Eine Revolution, die nicht mehr von zukunftsweisenden Utopien, sondern von schlichten Überlebensnotwendigkeiten angetrieben wird. Grund dafür ist, dass es angesichts des Zustands der Welt für immer mehr Menschen nicht mehr darum geht, die Regierung zu wechseln, sondern das Land. Wie jede Revolution rufe auch diese eine Gegenrevolution hervor, die „bedrohte Mehrheiten zu einer wichtigen Kraft in der europäischen Politik“ werden lässt (22). Die Folge sei ein populistischer Aufstand gegen das Establishment. Demokratie funktioniere damit immer deutlicher als Instrument des Ausschlusses, d.h. ihre liberale Form werde grundsätzlich in Frage gestellt, und der politische Autoritarismus bis hin zu faschistischen Tendenzen stehe wieder auf der Tagesordnung. Nicht die Wirtschaftskrise oder wachsende soziale Ungleichheit, sondern das Versagen bei der Bewältigung des Migrationsproblems seien die Ursache für diese Entwicklung. Der Liberalismus gehe an seinem eigenen Widerspruch, nämlich seinem Universalitätsanspruch und der weltweiten Ungleichheit der Lebensverhältnisse zugrunde. Die Beschränkung wirksamer Menschenrechte auf wenige wohlhabende Regionen sei auch eine Ursache für die Krise der linken Parteien, deutlich an der Abwanderung ihrer WählerInnen nach rechts. Es sei dieser Konflikt, der inzwischen den traditionellen Klassengegensatz weitgehend überlagere.

So weit ist die Analyse zwar pointiert vorgetragen, aber nicht unbedingt neu. Interessanter ist dagegen die Suche nach den Ursachen, die zur wenn nicht Entstehung, doch jedenfalls Verstärkung der Ost-West-Spaltung der EU im Zuge der „Flüchtlingskrise“ geführt haben. Diese Spaltung entwickle sich zwischen denen, die nach dem Untergang der Sowjetunion „Zerfall aus eigener Anschauung und jenen, die ihn nur aus Lehrbüchern kennen“ (18). Diese unterschiedlichen Erfahrungen führten zu sehr voneinander abweichenden Kriseninterpretationen in West und Ost. Die Frage ist, weshalb in Osteuropa massive und von Mehrheiten getragene Ressentiments gegen Flüchtlinge mobilisierbar sind, obwohl die dortigen Bevölkerungen jahrhundertelange Erfahrungen mit Aus- und Einwanderung verfügen. Die „Flüchtlingskrise“ habe deutlich gemacht, „dass Osteuropa gerade jene kosmopolitischen Werte als Bedrohung empfindet, auf denen die Europäische Union basiert“ (58). Die historische Erfahrung habe bewirkt, dass die dunklen Seiten multikultureller Gesellschaften dort deutlicher im Bewusstsein seien. „Während in der westlichen Hälfte Europas das Vermächtnis der Kolonialreiche die Begegnung mit der außereuropäischen Welt prägte, gingen die mitteleuropäischen Staaten aus dem Zerfall von Reichen – Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland – und den nachfolgenden ethnischen Säuberungen hervor“ (18f.). Die Dominanz ethnisch begründeter Vorstellunen von Nation speise sich aus diesen Erfahrungen. Dazu kommen die Erfahrungen mit den politischen Verwerfungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Menschen sähen sich durch die Migration in ihrer Hoffnung enttäuscht, der Beitritt zur EU bedeute den Beginn eines für alle von Wohlstand und Sicherheit geprägten Lebens. Damit entstehe das Gefühl, von den europäischen Politikern betrogen zu werden. Die Haltung gegenüber der Migration verbinde sich mit einer verbreiteten Kritik an der neoliberalen Restrukturierung von Ökonomie und Politik, die dazu geführt hat, dass eine Demokratie ohne Wahlmöglichkeiten, eine Souveränität ohne Bedeutung und eine Globalisierung ohne Legitimation durchgesetzt wurden.

Zugleich bedeute die massenhafte Auswanderung junger und gut ausgebildeter Menschen nach Westen eine ernsthafte Bedrohung der ökonomischen, politischen und sozialen Existenz dieser Länder. Das Misstrauen gegen globalisierte, lokal nicht verbundene Eliten nähre den nationalistischen Populismus. Nationale Referenden wie im Falle des Brexit entfalten auf dieser Grundlage ihre zerstörerische Wirkung. Gerade der Versuch, durch demokratische Verfahren die politische Legitimität der EU zu stärken, könne diese in den Untergang treiben. Volksabstimmungen würden zur Waffe bei ihrem Selbstmord (112). Um trotz dieses düsteren Szenarios etwas optimistischer zu enden, führt der Verfasser einige Gründe dafür an, dass diese Entwicklungen zwar sehr wahrscheinlich, aber nicht unumkehrbar seien. Die Suche danach ist ihm allerdings recht schwer gefallen. Krisen könnten auch Gemeinschaftsgefühle stärken. Die EU verfüge über Flexibilitätspotentiale, die einen pragmatischen und schrittweisen Umgang mit ihren Problemen erlauben. Dazu gehöre nicht zuletzt der Schutz ihrer Außengrenzen und die Erkenntnis, dass freier Handel nicht allen nützt. Die Sicherung ihrer Überlebensfähigkeit könnte eher als institutionell-demokratische Verfahren zu ihrer Legitimationsquelle werden. Dass dabei weniger auf strukturelle und institutionelle Veränderungen denn auf die Fähigkeiten und Ambitionen politischer Führer wie den französischen Präsidenten Macron gesetzt wird, überrascht dann doch etwas.

Krastevs Text ist sehr gut geschrieben und bietet sehr interessante Einblicke, gerade was die Situation in Osteuropa angeht. Er ist allerdings keineswegs widerspruchsfrei. So bleibt unklar, wie Sicherung der europäischen Außengrenzen mit der behaupteten Universalität der Menschenrechte vereinbar sein soll. Falsch ist die Feststellung, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sei die geopolitische Begründung für die EU verschwunden. Die Aufnahme der ökonomisch, gesellschaftlich und kulturell vom westeuropäischen Standard sehr verschiedenen osteuropäischen Staaten hat ebenso wie die Osterweiterung der NATO einiges mit dem Bestreben nach einer Eingrenzung Russlands zu tun. Schließlich hat eben diese geostrategisch begründete Osterweiterung einige der aktuellen Probleme der EU erzeugt Insofern hat sich mit dem Untergang der SU gar nicht so viel geändert.

Etwas naiv ist auch die Behauptung, die EU sei von ihrem Ursprung her auf Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gegründet, eine Qualität, die nun bedroht erscheint. Damit verkennt Krastev die Wirtschafts- und Machtinteressen, die ihrer Gründung und Entwicklung bestimmt haben und die den Begriff der „Wertegemeinschaft“ eher zu einem Gegenstand von Sonntagsreden machen, Bedingungen also, die ihre aktuelle Krise zumindest mitverursacht haben. Fatal ist es auch, die Migrationsbewegungen als deren entscheidende Ursache zu deklarieren. Krastev übernimmt damit auf eine etwas merkwürdige Art die rechtspopulistische Argumentationsfigur. Er verkennt dabei, dass die „Flüchtlingskrise“ erst durch die Folgen der neoliberalen Offensive – Entdemokratisierung, Sozialstaatsabbau, Gesellschaftsspaltung und ökonomische Unsicherheit – ihre politische Brisanz erhalten hat. Diese Faktoren sind gewiss nicht so nebensächlich, wie sie im Text behandelt werden.

Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay. Berlin: Suhrkamp, 3. Auflage 2017. Aus dem Englischen von Michael Bischoff, 144 Seiten.

© links-netz November 2017