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Neoliberalismus und Protest Übersicht

 

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Die Nutznießer der Krise

Joachim Hirsch

Oftmals waren ökonomische Krisen der Ausgangspunkt tiefer gehender, bisweilen auch emanzipativer gesellschaftlicher Veränderungen. So etwa die Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, der immerhin der Übergang zum fordistischen und in gewisser Weise „sozialen“ Kapitalismus folgte, gekennzeichnet durch staatliche Einkommens- und Vollbeschäftigungspolitik sowie einem allmählichen Ausbau der sozialen Sicherungssysteme. Der Weg dahin führte allerdings über Faschismus und Krieg. In der aktuellen Krise werden häufig Parallelen zu der Situation damals gezogen. Das gilt zweifellos für das Ausmaß des ökonomischen Debakels, aber ebenso gewiss nicht für die gesellschaftlichen und politischen Folgen.

In der politischen und medialen Öffentlichkeit wird eine Krisenrhetorik zelebriert, die vor allem darauf zielt, ein umfassendes Kapitalsanierungsprogramm zu Lasten der Bevölkerung zu rechtfertigen. Die mit der neoliberalen Offensive im globalen Maßstab durchgesetzte Umverteilung zugunsten des Kapitals ist eine wesentliche Ursache für die aktuelle Krise. Diese Politik, die zu einem ökonomischen Desaster geführt hat, wird praktisch fortgeführt. Neoliberalismus und Marktradikalismus sind keinesfalls tot. Sie wirken in modifizierter Form weiter. Das neoliberale Credo bekommt sozusagen eine staatliche Facette. Da der Markt wieder einmal versagt hat, obliegt es eben dem Staat, diesen wieder funktionsfähig zu machen, was heißt, die Kapitalverwertungsbedingungen zu verbessern. Darauf reduziert sich momentan die allseits beschworene „Wiederkehr des Staates“. Der postfordistische Marktradikalismus verwandelt sich also sozusagen in einen staatsmonopolistisch gemanagten.

Die von Politikern, Unternehmern und deren wissenschaftlichen Wasserträgern vorgetragene Krisenrhetorik hat ein eigenartiges Doppelgesicht. Auf der einen Seite heißt es, man habe die Krise eigentlich im Griff und der Aufschwung sei nur eine Frage der Zeit. Auf der anderen Seite werden gleichzeitig deren katastrophale Ausmaße beschworen. Das hat eine Logik: das eine dient dazu, die Bevölkerung zu beruhigen und ihr weiszumachen, dass der Kapitalismus durchaus funktionsfähig und Krisen zwar unvermeidlich, aber beherrschbar seien; das andere soll weitere Einschnitte in die Masseneinkommen und die sozialen Sicherungssysteme rechtfertigen. Von vielen und nicht zuletzt von den für die Moral zuständigen BischöfInnen beider Konfessionen wird gerne die „Gier“ mit ihren angeblich ruinösen Folgen beklagt – als sei die permanente Suche nach Extraprofiten nicht ein grundlegendes Strukturmerkmal eben des Wirtschaftssystems, das man nun wieder „ethischer“ und „verantwortlicher“ gestalten möchte. Gleichzeitig wird den Leuten aber klar gemacht, dass die Rettung darin liege, dass sie ihren Gürtel noch enger schnallen. Offenbar sind sie diejenigen, deren Ansprüche zu zügeln sind. Während sie also verzichten sollen, werden Banken und andere „systemrelevante“ Unternehmen mit Abermilliarden saniert. Ihre „Gier“ soll folgenlos bleiben, sieht man einmal von der Scheindebatte über die Begrenzung von Managergehältern ab. Die Deutsche Bank meldet bereits wieder eine Kapitalrendite von 25% und Ackermann, diese Symbolgestalt der hemmungslosen Bereicherung, bekommt seinen Vertrag verlängert. Also auch hier Kontinuität.

Die Krisenrhetorik sorgt dafür, dass Massenentlassungen zur Selbstverständlichkeit werden. Sie sind ein probates Druckmittel, um mit dem Verweis auf eine allerdings keinesfalls gewährleistete Sicherung der Arbeitsplätze die Löhne weiter zu senken. Diese sollen in diesem Jahr um zweieinhalb Prozent sinken, real also um fast vier. Und da die Renten an diese gekoppelt sind, stehen auch diese zur Debatte, die allerdings bis nach der Wahl verschoben werden soll. Eine Rentenkürzung würde noch weitere in die Armut treiben. Nachdem die Unternehmen ihre prekär Beschäftigten, insbesondere die Leiharbeiter hinausgeworfen haben, übernimmt der Staat das Kurzarbeitergeld für die noch Beschäftigten, d.h. für diejenigen „Kernbelegschaften“, die für die Unternehmen ohnehin unverzichtbar sind und daher gar nicht entlassen werden könnten. Die Automobilindustrie hatte infolge ihrer Überkapazitäten schon lange vor dem offenen Ausbruch der Krise sinkende Absatzzahlen verzeichnet. Diese Überkapazitäten sind struktureller Natur, hierzulande noch dadurch verschärft, dass sich die Industrie auf die Produktion besonders spritfressender und umweltverschmutzender „jurassic cars“ konzentriert hat. Damit sich daran nichts ändert, wird eine Abwrackprämie bezahlt, die wiederum Milliarden kostet und die Probleme bestenfalls auf die kommenden Jahre verschiebt. Ein probates Wahlgeschenk ist das indessen allemal. Es wird jedoch zurückgezahlt werden müssen, unter anderem auch von denen, die sie jetzt kassieren. Überhaupt: die infolge der Kapitalsanierungsmaßnahmen gigantisch ansteigende Staatsverschuldung muss verzinst und irgendwann getilgt werden. Das geschieht aus Steuern. Wer diese aufbringen wird, ist klar. Jedenfalls nicht die Unternehmen, die ja keinesfalls belastet werden dürfen, weil das dem Aufschwung schadet. Abgesehen davon wird das derzeit in die Wirtschaft gepumpte Geld auf längere Sicht erhebliche inflationäre Wirkungen haben. Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass die Politik des leichten Geldes, die nach herrschender Meinung zur Krise geführt hat, nun als Mittel zu ihrer Behebung verstärkt weitergeführt wird. Immerhin aber mindert eine Inflation die reale Staatsverschuldung. Das geht indessen zu Lasten derer, die über kein Realvermögen verfügen. Auf eine Vermögenssteuer hat selbst die SPD in ihrem Wahlprogramm verzichtet. Man muss ja in Richtung Mitte koalitions- und damit regierungsfähig bleiben.

Um die Mitte des letzten Jahrhunderts hatte der Übergang zum fordistischen Kapitalismus, auch „soziale Marktwirtschaft“ genannt, zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise geführt. Keynesianische Wirtschaftspolitik stand auf der Tagesordnung, wobei allerdings der Anteil des kriegswirtschaftlichem Rüstungskeynesianismus nicht vergessen werden darf. Diese Entwicklung lag keinesfalls in der Logik des Kapitalismus, sondern war gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen geschuldet. Sie wurden nicht zuletzt durch die Ost-West-Systemkonkurrenz bestimmt, aber auch durch das damals noch wache Bewusstsein über den Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus. Das Kapital war deshalb genötigt, sich etwas ziviler und demokratischer zu geben und gewisse materielle Zugeständnisse zu machen. Dies und die kriegsbedingte Kapitalvernichtung schuf die Grundlage für den lang anhaltenden ökonomischen Nachkriegsboom. Heute sind die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse vollkommen anders. Nach dem Untergang des Staatssozialismus und dem „Sieg“ des Kapitalismus spielt die Frage einer anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung praktisch keine Rolle mehr. Zugeständnisse des Kapitals sind aus diesem Grunde nicht mehr notwendig. Die als „Globalisierung“ bezeichnete neoliberale Transformation des Kapitalismus und die damit mobilisierte Standortkonkurrenz haben dazu geführt, dass die liberale Demokratie zu einer Formalie verkommen ist. Staatliches Handeln ist kaum mehr ein Ergebnis demokratischer Prozesse, sondern folgt ganz unverblümt den Imperativen der Kapitalverwertung, die als unbeeinflussbar dargestellt werden. Das Ergebnis ist eine verbreitete politische Apathie. Dies ist wohl ein Grund dafür, dass die von den Herrschenden befürchteten sozialen Unruhen bislang ausgeblieben sind. Möglicherweise spielt auch eine Rolle, dass im Land des ehemaligen Wirtschaftswunders der ökonomische Wunderglaube immer noch verbreitet ist. Was ansonsten bleibt, ist die Hoffnung, dass „die da oben“, deren Handeln sich ohnehin nicht beeinflussen lässt, es irgendwie hinkriegen werden und es für einen selbst nicht ganz so schlimm kommt. Der tief ins allgemeine Bewusstsein eingesunkene Neoliberalismus hat zur Folge, dass die Lösung gesellschaftlicher Probleme in das Private verschoben wird. Man muss halt selbst schauen, dass man irgendwie durchkommt. Margaret Thatchers Spruch, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur Individuen, ist zum Allgemeingut geworden.

Die Krise erweist sich also zunächst vor allem als Chance für das Kapital. Die Politik, die zu ihr geführt hat, wird entschlossen fortgesetzt. Das bedeutet, dass der Krisenprozess praktisch auf Dauer gestellt wird. Dessen gesellschaftliche Folgen sind mehr als einschneidend. Es ist bekannt, dass die Dynamik des Kapitalverwertungsprozesses dazu führt, dessen ökonomische und soziale Voraussetzungen zu ruinieren, wenn es nicht zu politischen und gesellschaftlichen Gegenbewegungen kommt. Diese sind momentan kaum zu sehen. Daher sehen die längerfristigen Aussichten auch für das Kapital nicht besonders rosig aus. Die politischen Systeme haben sich gegen gesellschaftliche Interessen weitgehend abgeschottet. Die herrschenden Parteien und Regierungen sind nicht viel mehr als Büttel des Kapitals, die sich bestenfalls in Wahlkampfzeiten mit einigen Populismen garnieren. Für die Entstehung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, die die der kapitalistischen Gesellschaft innewohnende selbstzerstörerische Entwicklung bremsen könnten, sind das keine guten Voraussetzungen. Etwas mehr „soziale Unruhe“ wäre deshalb durchaus hilfreich, sofern sie nicht eine – von der herrschenden Politik geförderte - reaktionäre Wendung nimmt. Eine Überwindung der desaströsen Zustände ist nur möglich, wenn das Bewusstsein davon wächst, dass es so nicht weiter gehen kann, dass ganz andere Formen von Wirtschaft und Gesellschaft gefunden und erkämpft werden müssen. Der in Aussicht stehenden Dauerkrise kann nur begegnet werden, wenn die Kapitalismusfrage wieder auf die Tagesordnung kommt. Auch wenn es danach im Moment nicht aussieht: bekanntermaßen stirbt die Hoffnung zuletzt – und vielleicht doch nicht erst nach dem endgültigen Rückfall in die Barbarei.

© links-netz Mai 2009