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Wir bezahlen für die Krise!

Joachim Hirsch

Der Slogan „wir bezahlen nicht für Eure Krise“ klingt zwar gut, ist aber unzutreffend. Erstens ist es nicht eine Krise, die irgendwelche Banker oder Finanzhaie verursacht haben. Sie haben sie mit ihren aberwitzigen Manipulationen nur ausgelöst und möglicherweise verschärft. Krisen entstehen nicht durch das Fehlverhalten einzelner Personen, sondern gehören zum Wesen des Kapitalismus, haben also systemischen Charakter. Unzutreffend ist auch der immer wieder gebrauchte Begriff „Finanzkrise“, der suggeriert, es handle sich dabei um eine Fehlentwicklung in Finanzsektor, die sich dann irgendwie auf die „Realwirtschaft“ auswirke. Dabei wird unterschlagen, dass Produktions- und Finanzsektor eng zusammenhängen und die scheinbare Verselbständigung des letzteren nicht anderes als eine schon lange sichtbare Krisenerscheinung des neoliberalen Kapitalismus war. Vor allem aber: bezahlen werden „wir“, d.h. die Masse der Bevölkerung dafür durchaus. Auch das liegt in der Logik des Kapitalismus und der ihm eigenen gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Beim Bezahlen geht es im Übrigen nicht nur um Geld. Noch schwerer wiegt, dass nun in breiter Front halbwegs vernünftige gesellschaftliche Verhältnisse zur Disposition gestellt werden.

Nach Schätzungen der Brüsseler EU – Kommission werden allein die Bankenrettungsaktionen die europäischen Staaten mindestens 800 Milliarden, im schlimmsten Fall 1,8 Billionen Euro kosten. Diese kaum mehr begreifbare Summe beläuft sich auf ein bis zwei Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung Deutschlands. Nimmt man die diversen anderen Rettungsaktionen und Konjunkturprogramme hinzu, so bedeutet das für die nächsten Jahre einen gigantischen Anstieg der Staatsverschuldung, weil infolge der Krise auch die Steuereinnahmen absacken. Kommt es nicht zu Staatsbankrotten, die man sich nicht wünschen kann, müssen diese Schulden beglichen werden. Angesichts der herrschenden Machtverhältnisse wird dies durch eine erhebliche Anhebung der Massensteuern und durch eine ebenso drastische Kürzung bei Sozial- und Infrastrukturleistungen geschehen. Möglich ist auch, dass das in die Wirtschaft gepumpte Geld zu einer massiven inflationären Geldentwertung führt. Dadurch würde der Realwert der Staatschulden sinken, allerdings wiederum vor allem zu Lasten der kleinen Leute.

Diese Situation ist mehr oder weniger für alle entwickelteren kapitalistischen Staaten kennzeichnend und die Folgen für die Peripherie sind noch kaum absehbar. Deutschland wird indessen wegen seiner Exportabhängigkeit – die Folge einer jahrzehntelang durchgesetzten „Lohnzurückhaltung“ – von der Krise besonders stark getroffen. Die Lage ist deshalb dramatisch, weil die Art und Weise, wie Regierungen und Unternehmen auf die Krise reagieren, keines der strukturellen Probleme löst, die ihre Ursache sind. Dass die so genannte Abwrackprämie für Autos viel Geld kostet, aber konjunkturpolitisch völlig nutzlos ist und bestenfalls ein paar Automobilfirmen dient, könnte man vielleicht noch als unvermeidliches Wahlgeschenk hinnehmen. Gravierender ist, dass darauf verzichtet wird, den gesamten Finanzsektor einer stärkeren politischen Kontrolle zu unterwerfen. Banker und sonstige Unternehmer können daraus die Lehre ziehen, dass sie für ihre Fehler auch in Zukunft nicht werden einstehen müssen und weiter machen dürfen wie bisher. Inzwischen ist es gewissermaßen zur Mode geworden, dass in Schwierigkeiten geratene Unternehmen mit dem Hinweis auf die Sicherung von Arbeitsplätzen vom Staat Geld verlangen. So wird mit noch kaum absehbaren Kosten Opel „gerettet“, was keineswegs zum Abbau der weltweiten Überkapazitäten im Automobilbau beiträgt. Man könne durchaus überlegen, ob es nicht sinnvoller wäre, die betroffenen Arbeitskräfte einfach direkt zu bezahlen und ihnen damit sinnvollere Beschäftigungen zu ermöglichen statt private Profite zu garantieren und damit die nächste Rettungsaktion vorzuprogrammieren. Die auf motorisierten Individualverkehr zielende Verkehrspolitik mit ihren Folgen für Landschaft und Umwelt wird unbeirrt weiter geführt und damit nicht nur den Interessen einer mächtigen Industriebranche Rechnung getragen. Bedient und gestärkt wird damit auch der Autofetischismus, der ein zentrales ideologisches Bindemittel dieser Gesellschaft darstellt und in dem sich deren Wahnsinn am deutlichsten manifestiert. Nicht einmal ansatzweise wird versucht, die Krise zum Anlass zu nehmen, einen auf mehr Nachhaltigkeit zielenden industriellen Umbau einzuleiten. Die gefährliche Exortabhängigkeit der deutschen Wirtschaft durch eine Umorientierung auf den Binnenkonsum abzubauen scheitert allerdings schon daran, dass gleichzeitig die Löhne immer weiter gesenkt werden. Die wachsende Ungleichheit der Einkommensverteilung, die die derzeitige Krise hauptsächlich verursacht hat, wird weiter vorangetrieben. Schon jetzt lässt sich auch absehen, dass eine stärkere ökonomische Regulierung auf internationaler Ebene nicht zustande kommen wird. Dies schon deshalb, weil die ökonomische Stärke der USA und Großbritanniens wesentlich vom Fortbestand der Deregulierung ihrer „Finanzplätze“ abhängt. Mit anderen Worten: die herrschende Politik ist bemüht, bereits jetzt die Grundlagen für die nächste Krise zu legen. Die bestehenden Machtverhältnisse gebieten dies und die politische Demoralisierung, die die Folge einer jahrzehntelangen ideologischen Hegemonie des Neoliberalismus ist, lässt es zu.

In Deutschland wird die Quittung für die Krise nach der Bundestagswahl präsentiert werden. Das gegenwärtige Steuer-Hickhack der Parteien ist ein Scheingefecht. Steuererhöhungen wird es geben, und zwar vor allem bei der Mehrwertsteuer und anderen Verbrauchssteuern, wodurch die ärmeren Teile der Bevölkerung besonders stark getroffen werden. Man braucht nur einmal auszurechnen, was eine Verdoppelung des Mehrwertsteuersatzes auf Lebensmittel für Hartz IV-Empfänger bedeuten würde. Auch die jetzt vom Bundestag abgegebene Rentengarantie wird nach der Wahl kassiert werden. Auf eine Anhebung der Einkommenssteuern oder gar auf die Wiedereinführung der Vermögenssteuer wird natürlich verzichtet, weil das angeblich die Konjunktur abwürgt, vor allem aber die „Leistungsträger“ – also die, die das aktuelle Debakel verursacht haben – geschont werden müssen.

Wenn man sich nicht von den Glaubenssätzen der herrschenden Wirtschaftswissenschaft den Kopf vernebeln lässt weiß man, dass die kapitalistische Wirtschaft deshalb periodisch in die Krise gerät, weil strukturell eine Überakkumulation von Kapital stattfindet und dieses sich dadurch nicht mehr profitabel genug verwerten kann. Die daraus folgende Krise führt zu einer massiven Kapitalvernichtung, und schafft damit die Grundlage für eine neue Akkumulations- und Wachstumsphase. Die derzeitige Krise hat genau diese Funktion, und mit der Kapitalvernichtung findet zugleich eine massive Monopolisierung statt. Damit die Kapitalisten dabei mit einem blauen Auge davon kommen, wird diese Reichtumsvernichtung dadurch kompensiert, dass der ärmere Teil der Bevölkerung noch ärmer gemacht wird. Dass dies ganz unverschämt und offen gemacht werden kann, ist darauf zurückzuführen, dass den Regierenden und den sie tragenden Parteien nichts mehr anderes einfällt, als den krudesten Kapitalinteressen zu folgen. Minister schielen vor allem nach lukrativen Posten in der Industrie und Abgeordnete, die nichts mehr durchschauen, lassen es zu, dass immer mehr Gesetze von privaten Anwaltskanzleien oder sonstigen von der „Wirtschaft“ bezahlten „Experten“ formuliert werden. Dies wiederum können sie sich leisten, weil die liberale Demokratie längst zu einer Formalie verkommen ist und Wahlen so gut wie nichts bewirken.

Wahrscheinlich wird auch die jetzige Krise erst mal wieder halbwegs überwunden werden können, auch wenn das nicht schnell gehen wird. Ihre Folgen werden dennoch dramatisch bleiben, nicht nur wegen der sozialen Zerrüttungen, die sie verursacht, sondern weil ökonomische Strukturen befestigt werden, deren Irrationalität und Krisenhaftigkeit ganz offenkundig ist. Die ökonomisch und politisch Herrschenden lassen sich dadurch nicht irritieren und machen entschlossen weiter wie bisher. Wer auch sollte sie daran hindern? Wir sitzen in einem Zug, der dem Abgrund entgegenfährt.

Die Bundestagswahl wird wahrscheinlich eine konservativ-rechtsliberale Koalition an die Regierung bringen. Ihre Politik wird sich von der der großen Koalition nicht sehr unterscheiden. Vom anbrechenden Wahlkampfgetöse sollte man sich also nicht beirren lassen. Die Sozialdemokratie hat sich bei ihren WählerInnen nicht nur längst politisch desavouiert, sondern erscheint auch deshalb als überflüssig, weil die Konservativen inzwischen selbst auf einen massiven Staatsinterventionismus setzen – zugunsten des Kapitals natürlich. Auch als „Steigbügelhalter des Kapitals“ ist die Zeit der Sozialdemokraten abgelaufen. Die Transformation der liberalen Demokratie in einen autoritären Etatismus schreitet weiter voran und in den Parteien sind nicht einmal ansatzweise Vorstellungen darüber vorhanden, wie die Gesellschaft vernünftiger und nachhaltiger eingerichtet werden könnte. Zu medialen Stimmenmaximierungsapparaten verkommen, fehlt ihnen schon das intellektuelle Potential dazu. Deshalb ist die Parlamentsfixierung gefährlich, die gerade von der Linkspartei paradigmatisch vorgeführt wird. Es wäre höchste Zeit, sich von der herrschenden politisch-ideologischen Apparaturen nicht mehr den Kopf vernebeln zu lassen, radikal über das Bestehende hinaus zu denken, grundlegende gesellschaftliche Alternativen anzuvisieren, andere Orte und Formen der Politik ins Auge zu fassen und praktisch zu machen. Das wird nicht möglich sein, ohne die Kapitalismusfrage zu stellen. Geschieht dies nicht, wird die gesellschaftlich-ökonomische Krise mit ihren verheerenden Folgen zum Dauerzustand werden. Wer aber sollte dies in welchen Zusammenhängen tun? Das ist die Frage.

© links-netz Juli 2009