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Wem gehört die Zukunft?

Joachim Hirsch

Das ist der Titel des neuesten Buches von Jaron Lanier, der 2014 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhält. Es geht dabei um die Frage, wie die Gesellschaft aussehen wird, wenn sich die internetbasierte Informations-, Kommunikations- und Datenverarbeitungstechnik auf den gleichen Pfaden wie bisher und in zunehmend rasantem Tempo weiter entwickelt. Nach Laniers Ansicht sieht diese Zukunft nicht gut aus, wenn keine grundlegenden Veränderungen technischer Art durchgesetzt werden.

Der Autor ist ein bemerkenswerter Mensch: IT-Experte, Musiker und Komponist, als Gründer mehrerer start-ups zeitweise auch selbständiger Unternehmer, Wissenschaftler und Berater. Er bezeichnet sich selbst recht zutreffend als „digitalen Idealisten“ (15). Zur Zeit arbeitet er in der Forschungsabteilung von Microsoft. Er ist also ein intimer Kenner dessen, was er untersucht und beschreibt. Die New York Times hat ihn 2010 zu den hundert einflussreichsten Personen gezählt. Aufsehen hat er nicht zuletzt durch seine vehemente Kritik an der Open-Source-Bewegung erregt.

Die seiner Ansicht nach heute entscheidenden Machtzentren befinden sich bei denen, die über von ihm so genannte „Sirenenserver“ verfügen. Das sind hochleistungsfähige Rechner, die in der Lage sind, Daten aus allen anderen Servern zu sammeln – zumeist kostenlos. Diese „werden mit den leistungsfähigsten Computern analysiert, die von Spitzenkräften gewartet werden. Die Ergebnisse der Analysen werden geheim gehalten, aber dazu genutzt, die übrige Welt zum eigenen Vorteil zu manipulieren“ (88). Über solche Sirenenserver verfügen große Handels-, Finanz- und Börsenunternehmen, Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Versicherungen und natürlich die Geheimdienste. Die gesellschaftliche Entwicklung wird immer stärker durch Machkämpfe um die Kontrolle über die digitalen Netzwerke bestimmt (222). Das ganze System ist durch starke Monopolisierungsprozesse bezeichnet, auch wenn das von Dave Eggers in „Der Circle“ vorgestellte und alles umfassende Gesamtmonopol eher in den Bereich der Science Fiction gehört. Mittel dazu sind trickreiche Kundenbindungen und Verdrängungswettbewerb, wie von Amazon meisterhaft praktiziert, oder der Kauf innovativer Unternehmen, um die eigene technische Leistungsfähigkeit zu verbessern. So hat z.B. Facebook eine gigantische Summe für den Kauf von WhatsApp ausgegeben. Gab es ursprünglich noch die Vorstellung, das Internet bedeute einen qualitativen Sprung bei der Selbstermächtigung der Menschen durch verbesserte Information und Kommunikation, so habe sich dies inzwischen in das Gegenteil verkehrt.

Lanier konzentriert sich auf zwei Folgen, die diese Entwicklung hat. Die eine ist, dass das Ausspionieren der Internetnutzer zum Primärgeschäft der Informationsökonomie geworden sei. Die Lieferanten dieser Daten, also die Nutzer scheinbar kostenloser Dienste wissen in der Regel nicht, welches Datenmaterial von ihnen erhoben und wie es verwandt wird. Interessant ist dabei, dass die so gesammelten Daten sehr oft ungenau, falsch oder gefälscht sind, aber dennoch profitbringend eingesetzt werden können, solange an sie geglaubt wird und die Menschen sich entsprechend verhalten. „Menschen passen sich Informationssystemen an, ob bewusst oder unbewusst, und auch unabhängig davon, ob das Informationssystem so funktioniert wie erwartet oder nicht“ (156). Auf der Strecke bleibe das, was man als freien Willen bezeichnen könnte. Die durch die Sirenenserver modellierten Menschen müssen berechenbar sein, wenn die Daten nutzbar sein sollen. Das geschieht dadurch, dass ihr Handeln auf mechanische Reaktionen innerhalb der eingebauten Optimierungssysteme reduziert wird (223). Ihre Dominanz und ihre Bindungskraft gewinnen die Sirenenserver durch ein System von belohnenden und bestrafenden Effekten. Die Belohnungen bestehen aus dem Nutzen, z.B. bei Facebook sich selbst präsentieren oder „Freunde“ gewinnen zu können, die Bestrafung kann darin liegen, dass bei einer Kündigung ein wichtiger sozialer Zusammenhang verloren geht oder dass man dazu gebracht wird, wichtige Daten auf dem Server zu speichern, die dann verloren gehen. Eine besondere Eigenheit der Sirenenserver besteht darin, dass sie alle Risiken, also z.B. durch Verletzung von Urheberrechten mit ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen auf die Nutzer abwälzen, Geschäftsbedingungen, die in der Regel nicht gelesen werden – wobei sich dies ohnehin kaum lohnt, weil sie permanent verändert werden (242ff.). Risikovermeidung ist eine Grundstrategie der Datensammler, etwa wenn Versicherungen Kunden ausschließen, deren Daten ein erhöhtes Krankheitsrisiko signalisieren.

Die zweite wichtige Folge ist das, was Lanier „Zerstörung der Mittelschicht“ nennt. Übersetzer verlieren ihren Job durch automatische Übersetzungsmaschinen, Musiker ihr Einkommen durch das kostenlose Kopieren ihrer CDs. Durch die IT-Technologien sei eine jetzt erst noch in den Anfängen stehende Rationalisierungswelle zu erwarten, die viele Arbeiten überflüssig und Berufe nutzlos mache und damit Einkommensmöglichkeiten vernichte. Das gelte auch für den Bereich der Wissenschaft und Forschung, der Bildung oder bei den Pflegeberufen (Pflegeroboter!). 3D-Drucker könnten künftig Produktionsarbeiten ersetzen, automatisierte Fahrzeuge die Fahrer. Also drohe Massenarbeitslosigkeit. Das betreffe weite Teile dessen, was Lanier Mittelschicht nennt. Damit werde nicht nur eine wichtige Säule der Demokratie ins Wanken gebracht. Darüber hinaus untergrabe dies nicht nur die Geschäftsgrundlagen der Server-Monopole, sondern den Kapitalismus insgesamt. Wenn die Leute nichts mehr kaufen können, lohnt sich auch Werbung nicht mehr und die durch Rationalisierung anschwellende Warenfülle finde keinen entsprechenden Absatz.

Ein zentrales Argument des Autors ist, dass es aussichtslos sei, dieser Entwicklung mit den gleichen technischen Mitteln entgegenzutreten. Er kritisiert die Open-Source-Bewegung mit ihrer Forderung nach einem „offenen“ Internet und nach kostenloser Information, weil genau diese das Mittel einer immer weiter ausufernden Überwachung, Manipulation und Kontrolle sei (271ff.). Dadurch gehe die Verfügung über die eigenen Daten verloren und dies führe in Wirklichkeit zu einer Schwächung der Oppositionellen. Die von Lanier vorgeschlagene Lösung impliziert das genaue Gegenteil, nämlich dass alle über die Netzwerke verbreiteten Informationen bezahlt werden müssen. Das Grundrecht auf Eigentum gelte für alle Produkte, auch immaterielle. Es müsse eine Informationsökonomie entwickelt werden, „in der Informationen nicht kostenlos sind, aber jeder sie sich leisten kann. Anstatt bestimmte Informationen unzugänglich zu machen, hätte man eine Situation, in der die entscheidenden Informationen zum ersten Mal zugänglich wären. Die rohen Informationen über sich selbst würden den Menschen auch selbst gehören“ (277). Die enteignete „Mittelschicht“ würde für ihre Leistungen bezahlt werden. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen: Übersetzungsprogramme werden dadurch entwickelt und optimiert, dass im Netz kostenlos vorhandene Übersetzungen gesammelt, verglichen und neu zusammengefügt werden (45f.). Die Lieferanten dieser Daten bleiben dabei ohne Bezahlung für ihre Arbeit. Würden sie dafür bezahlt, hätten sie auch weiter ihr Einkommen. Vor allem wäre es möglich, festzustellen, wer die eigenen Daten für welche Zwecke nutzt. Die Überwachungs- und Manipulationssysteme würden transparent. Lanier hält nicht viel von einem Datenschutz, der auf gesetzlichen Kontrollen und Verboten beruht. Es setzt stattdessen auf Durchsichtigkeit. In der Tat wäre es schön zu wissen, wem Facebook seine Daten für welche Zwecke zur Verfügung stellt und genauso vorteilhaft wäre es, wenn man wüsste, welche Geheimdienste was über einen wissen. Wären alle Informationen zu bezahlen, läge dies offen. Den Schutz der Privatsphäre sieht Lanier nicht durch deren Abschottung, sondern durch umfassende Transparenz gewährleistet.

Notwendig wäre dafür allerdings eine grundlegende Umgestaltung des Internet. Der aktuelle HTML-Modus mit seinen eingleisigen – sozusagen baumförmigen – Verbindungen wäre durch ein maschenförmiges Zweiwege-Netzwerk zu ersetzen, bei dem offen liegt, welche Knoten miteinander verbunden sind. „Das würde bedeuten, dass Sie alle Websites kennen, die auf Ihre Website verweisen, ...dass Sie alle Investoren kennen, die Ihre Hypothek ausgenutzt haben...und es würde bedeuten, dass Sie alle Videos kennen, in denen Ihre Musik eingesetzt wird“ (298). „Zweiwege-Verlinkung würde gewährleisten, dass der Kontext sichtbar bleibt. Es ist nur eine kleine, einfache Veränderung in der Art, wie man Informationen im Netz speichern sollte, die aber größte Auswirkungen auf Kultur und Wirtschaft hätten“ (298). Es wäre einfach, herauszufinden, welche Knotenpunkte für ein Thema relevant sind. Man bräuchte kein Google, um etwas im Netz zu finden. Alle diese Informationen wären keine Geheimnisse mehr. Man könnte leicht Nutzer finden, die die eigenen Interessen teilen. Facebook würde eigentlich überflüssig, weil es dazu geschaffen wurde, die Verbindungen wiederherzustellen, die über Bord geworfen wurden, als das jetzt existierende Netz geschaffen wurde (298). Die Frage ist allerdings, wie man die Zeit aufbringen sollte, die nötig wäre, um alle diese Verbindungen im Netz ständig zu kontrollieren. Lanier schwebt vor, man könnte damit spezielle Firmen beauftragen, was wiederum eine Verdienstmöglichkeit für die „Mittelschicht“ bringen würde.

Dass sich der HTLM-Modus durchgesetzt hat, betrachtet der Autor als Zufall. Man könnte immerhin auch der Frage nachgehen, ob bestimmte Interessen dahinter standen. Immerhin diente das Internet zunächst militärischen Zwecken. Eine Zweiwege-Neukonfigurierung des Internet betrachtet Lanier als technisch nicht ganz einfach, aber machbar. Ob das gegen die Macht der Profiteure des jetzigen Zustands durchzusetzen wäre, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt.

Durch die neue, wie der Autor meint „humane“ Netzwerkökonomie, die sozusagen eine neue materielle Basis für die „Mittelklasse“ abgeben soll, erwartet Lanier nichts Geringeres als eine Versöhnung von Kapitalismus und Demokratie (317ff.). Von „Sozialismus“ hält er dagegen wenig. Jede(r) soll für sich selbst sorgen und dies auch können. Immerhin bedarf es durchaus staatlicher Interventionen. Interessant im Zusammenhang mit den Diskussionen im links-netz ist sein Hinweis, dass es sich bei einem derart neu gestalteten Internet um einen Bestandteil der sozialen Infrastruktur handle, die vom Staat garantiert werden müsse. Es wäre auch zu überlegen, ob der Staat einem jeden ausreichende Rechnerleistungen und Speicherplätze zur Verfügung stellen sollte (325). Der Staat soll auch diejenigen unterstützen, deren Informationsverkäufe nicht ausreichen, um ihre notwendigen Ausgaben zu decken. Ein bedingungsloses Grundeinkommen dagegen lehnt er seinen Prinzipien getreu ab, weil es nur dazu diene, die aus dem Produktionsprozess ausgegrenzten und durch die digitale Ökonomie Verarmten ruhig zu stellen (467).

Das Buch enthält eine Fülle von Informationen, die der intimen Kenntnis des Autors auf dem Feld der Informationstechnologie zu verdanken sind. Manches, was als Zukunftsszenario beschrieben wird, erscheint oft noch spekulativ, aber durchaus als möglich. Ein Beispiel ist, dass den Besitzern von Smartphones permanent ihr CO2-Fußabdruck mitgeteilt wird, um sie zu entsprechenden Verhaltensänderungen zu veranlassen. Dazu wäre es allerdings notwendig, alle ihre Lebensäußerungen zu überwachen. Technisch machbar wäre das. Interessant sind auch die Einblicke, die er in die Gedanken- und Vorstellungswelt der globalen Silicon-Valley-Bewohner vermittelt. Das bezieht sich nicht nur auf den gar nicht so abseitigen Vergleich zwischen Facebook und der Katholischen Kirche (251ff.). Es ist eine Welt, in der Gurus (wie Steve Jobs), der Ashram und New Age eine wichtige Rolle spielen, die sakral anmutenden Apple-Stores als Tempel fungieren und „Selbstverwirklichung“ eine quasi religiöse Konnotation erhält (279ff.). Technisch hergestellte Unsterblichkeit ist hier eine durchaus real existierende Zukunftsvision (407ff.) – ein Beispiel dafür, wie technische Rationalität und obskure Mythologien oft zusammen gehen: Dialektik der Aufklärung eben.

Obwohl es Lanier darum geht, den Kapitalismus von seiner Selbstzerstörung zu retten, sind seine Ökonomiekenntnisse von eher bescheidender Art. Dass er das Geld nur als Informationssystem sieht, dürfte hinter den Stand der ökonomischen Wissenschaft einigermaßen zurückfallen (57ff.). Und dass er die augenblickliche Krise darauf zurückführt, dass die Finanzmärkte falsch vernetzt seien (87), ist wohl dem etwas beschränkten Blick des IT-Experten geschuldet. Die Frage, was die Verselbständigung des Finanzsektors hervorgerufen hat und welche ökonomischen Krisenmechanismen dahinter stehen, stellt sich ihm gar nicht. Zweifelhaft bleibt auch, ob die von ihm unterstellten Rationalisierungsprozesse tatsächlich den behaupteten Umfang haben werden. Es müsste zumindest untersucht werden, in welchen wirtschaftlichen Sektoren sie greifen könnten. Dass, wenn die lebendige Arbeit aus dem Produktionsprozess weitgehend verschwände, der Kapitalismus keinen Bestand mehr haben würde, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Sehr vage bleibt auch was unter der „Mittelschicht“ zu verstehen ist, die er retten will. Offensichtlich hat er nur die Teile im Auge, die Informationen verkaufen können. Eine etwas differenzierte und halbwegs empirische haltbare Begründung findet man nicht. Genau genommen schwebt Lanier eine Gesellschaft kleiner Eigentümer – in diesem Fall von Informationen – vor, d.h. er orientiert sich sozusagen am Rousseauschen Demokratie-Ideal. Mit den strukturellen Dynamiken einer kapitalistischen Gesellschaft ist dies allerdings kaum vereinbar. Wenn man so will, ist Laniers Weltbild also von einer Art kleinbürgerlichem Neoliberalismus bestimmt. Sein Technikoptimismus ist beeindruckend, wenn auch nicht überraschend. Für alles, auch für die negativen Folgen der technischen Entwicklung, gibt es eine technische Lösung, vorausgesetzt dass die richtigen politischen Entscheidungen getroffen werden. Wenn die Erde vergiftet oder übervölkert ist, wird eben der Mond besiedelt. Eine Naturgrenze des ökonomischen Wachstums gibt es für ihn nicht.

Literarisch gesehen ist das Buch nicht unbedingt ein Glanzstück. Wer es liest, hat einige Mühe damit, die sehr unübersichtlichen Argumentationsfäden zu entwirren. Wiederholungen sind häufig. Vielleicht kommt das daher, dass der IT-Experte gewohnt ist, in Textbausteinen zu denken. Ein Kurs in kreativem Schreiben hätte ihm auf jeden Fall gut getan. Aber abgesehen davon, dass es nicht nur sehr informativ und interessant ist, sind auch die vorgestellten Überlegungen bisweilen überraschend vernünftig. Am Schluss spricht er von der Gefahr, dass das sich Bewegen im digitalen Netzwerk zu einer Besessenheit werden kann, „die eine authentischere, spontanere Lebensweise verhindert“ (453). Es gehe darum, „nicht den Kontakt zu jenem Kern des Erlebens zu verlieren, der nicht in die digitalisierbaren Aspekte der Realität passt“, der Bedrohung des Ausgestoßenwerdens zu widerstehen, die damit verbunden ist, dass man sich aus den Netzwerken ausklickt (455). Wenn sich gesellschaftliche Erfahrung auf das Surfen im Netzwerk reduziert, droht Verarmung. Sein Rat ist: „Ziehen sie sich für ein halbes Jahr aus allen kostenlosen Internetdiensten zurück...und schauen Sie, wie es Ihnen dabei geht.... Sie werden wahrscheinlich Dinge über sich selbst, Ihre Freunde, die Welt und das Internet erfahren, die Ihnen sonst entgangen wären“ (455f.). Kein schlechter Rat für diejenigen, denen das Smartphone inzwischen zum Lebensmittelpunkt geworden ist.

Jaron Lanier, Wem gehört die Zukunft? Hamburg: Hoffmann und Campe, 2. Auflage 2014, 480 Seiten.

© links-netz August 2014