Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Neoliberalismus und Protest Übersicht

 

  Nur Text    rtf-Datei    pdf-Datei 

„Lexit“

Linke EURO-Austritts-Initiativen und rechter Populismus. Anmerkungen zu einem komplexen Verhältnis

Joachim Hirsch

Das britische Votum für den EU-Austritt hat den Rechtspopulisten in Europa einigen Auftrieb verschafft. Der FPÖ-Präsidentschaftskandidat hat versucht, den Austritt Österreichs zum Wahlkampfthema zu machen und die polnische Regierungschefin hat kaum verhohlen mit Ähnlichem gedroht, wenn die EU-Kommission an ihrem Ultimatum wegen der dortigen Rechtsstaatsverletzungen festhalten sollte. Ganz ernst zu nehmen ist das allerdings nicht, weil sie wohl kaum auf die europäischen Subventionen für ihr Land verzichten wird. Fast gleichzeitig wurden auf der linken Seite Initiativen lauter, die ebenfalls einen Austritt – zumindest aus dem EURO – fordern. Im Netz finden sich entsprechende Aufrufe, z.B. von der „Initiative Eurexit“ oder dem „Lexit Network“ („Lexit“ steht für „Left Exit“). Beide Aufrufe sind von linken Intellektuellen aus mehreren europäischen Ländern unterzeichnet, darunter sind bekannte Namen wie Heiner Flassbeck, Peter Wahl und Oskar Lafontaine, dazu Gewerkschafter sowie Funktionäre und Mandatsträger der Linkspartei. In den linken Medien haben sie ein beachtliches Echo gefunden.

Betrachtet man das linke politische Spektrum, so scheint inzwischen eine Kontroverse darüber zu bestehen, ob eine grundlegende Reform der EU und eine demokratische Überwindung des sie kennzeichnenden neoliberalen Konstitutionalismus möglich sind, oder ob die Notwendigkeit besteht, den EURO abzuschaffen und ganz neue Formen der Integration auf europäischer Ebene anzuvisieren. Derartige Überlegungen sind selbstverständlich erst einmal nicht deswegen zurückzuweisen, weil sie in die Nähe zu rechtspopulistischen Forderungen geraten. Sie könnten aber dazu beitragen, diesen zusätzlichen Schwung zu verleihen, also die Bestrebungen nach einem „Rexit“ zu fördern, welche die diversen rechtspopulistischen Strömungen und Parteien einen. Zumindest was die europapolitischen Strategien angeht, wird es also etwas schwerer, rechts und links zu unterscheiden, auch wenn die jeweiligen Ziele letztlich sehr unterschiedlich sind. Abgesehen davon sollte man sich jedoch vor allem genauer damit beschäftigen, was die Folgen eines derartigen Schritts wären.

Zunächst einmal ist die linke Kritik an der EU und dem EURO ebenso allgemein bekannt wie zutreffend. Die neoliberal gewendete Europäische Union hat das mit der kapitalistischen Globalisierung verbundene Demokratiedefizit zweifelsohne verschärft und die Einführung der Gemeinschaftswährung hat dazu geführt, die bestehenden ökonomischen Ungleichgewichte insbesondere zwischen Nord- und Südländern zumindest zu befestigen. Allerdings greift die Kritik etwas kurz, wenn man alle aktuellen Miseren der EU und dem EURO anlastet – auch dies ein Argumentationsmuster der Rechtspopulisten. Die gravierenden ökonomischen Ungleichheiten innerhalb Europas haben schon zuvor bestanden, ebenso wie die deutsche Dominanz gewiss nicht allein dem EURO geschuldet ist. Vergessen wird dabei auch, dass das Projekt Europa anfänglich von dem Motiv getragen wurde, in Zukunft verheerende Kriege zu verhindern, die den Kontinent im 20. Jahrhundert zweimal in die Katastrophe geführt hatten. Das immerhin ist gelungen und bedeutet nicht wenig. Wenn von deutscher Dominanz geredet wird, dann wäre daran zu erinnern, dass der EURO ursprünglich gegen den Willen der deutschen Regierung vor allem auf Druck Frankreichs eingeführt wurde. Das damit verbundene Ziel, die Vormachtstellung Deutschlands mit seiner D-Mark zu brechen, wurde indessen verfehlt. Vieles was dem EURO angelastet wird, resultiert im übrigen aus den innenpolitischen Verhältnissen der Bundesrepublik, wo es gelungen ist, die neoliberale Austeritätspolitik mit Lohn- und Sozialkürzungen besonders erfolgreich durchzusetzen und damit die „Wettbewerbsfähigkeit“ im Kontext des europäischen Markts nicht nur zu Lasten der Südländer zu verbessern. Vielleicht wäre es sinnvoll, da anzusetzen.

Ziel der Exit-Strategien ist, durch einen geregelten Ausstieg zumindest einiger Länder aus dem EURO dort die nationale wirtschafts- und sozialpolitische Souveränität und damit demokratische Verhältnisse wieder herzustellen. Diese Länder oder auch Ländergruppen könnten dann durch Abwertung der Währung ihre internationale Konkurrenzposition verbessern und damit ökonomisch aufholen. Die dann zu erwartende starke Aufwertung der deutschen Währung beförderte dies weiter. Das ist allerdings erst einmal eine Hoffnung. Es geht jedoch nicht nur darum, wie realistisch derartige Erwartungen sind, sondern was die Folgen einer derartigen Operation wären. Es käme jedenfalls zu einer strukturellen Re-Nationalisierung der Politik mit all ihren Konsequenzen. Auch die ökonomischen Ungleichgewichte innerhalb der EU würden durch die Reduzierung der Eurozone auf einen Block ökonomisch starker Staaten kaum beseitigt. Die Befreiung der Südländer vom Spardiktat verschaffte diesen die Möglichkeit, sich wieder stärker zu verschulden. Damit wäre es auch leichter, offenkundige Defizite ihrer politischen Systeme wie Korruption, Klientelismus oder schlecht funktionierende öffentliche Verwaltungen weiter zu übertünchen. Es ist in vielerlei Hinsicht sehr fraglich, ob eine Rückkehr zu den Zuständen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine tragfähige Zukunftsperspektive bietet.

Die Existenz der EU stände mit der damit einsetzenden ökonomischen und politischen Dynamik wohl überhaupt in Frage. Die AutorInnen der Aufrufe sehen dies natürlich und plädieren deshalb für die Errichtung eines neuen europäischen Währungssystems, das zu einer währungspolitischen Kooperation verpflichten und rein nationalstaatliche Politiken verhindern soll. Wie dieses aussehen sollte, bleibt allerdings im Dunkeln. Ebenso im Dunkeln bleibt, wie den Mechanismen des kapitalistischen Marktes begegnet werden sollte, die eben dies verhindern. Eine Mobilisierung der zwischenstaatlichen Konkurrenz durch ökonomische Re-Nationalisierung wäre dem letztgenannten Ziel nicht gerade förderlich. Gut gemeinte politische Absichten können an den objektiven Gegebenheiten der kapitalistischen internationalen Ökonomie schnell scheitern, oder wie schon Marx sagte, Ideen blamieren sich regelmäßig , wenn sie mit den materiellen Verhältnissen zusammenstoßen.

Eine Zerschlagung des bestehenden europäischen Regimes zöge mit hoher Wahrscheinlichkeit heftige ökonomische und politische Verwerfungen und Krisen mit gravierenden gesellschaftlichen Konsequenzen nach sich. Das könnte einen weiteren Nährboden für rechtspopulistische Bewegungen und Parteien abgeben. Das Auseinanderbrechen der EU in eine Ansammlung krisengeschüttelter nationaler Wettbewerbsstaaten würde wohl kaum eine demokratische und soziale Perspektive eröffnen und nicht eben eine günstige Konstellation für solidarische Kooperation darstellen. Großbritannien führt das gerade vor, indem eine starke Abwertung des Pfundes toleriert wird und zudem Überlegungen kursieren, das Land zu einem Steuerparadies zu machen. Die Vorschläge der Exit-Befürworter mögen also gut gemeint sein, zeichnen sich aber durch eine gewisse Blauäugigkeit aus. Vor allem aber könnten sie mit ihren zu erwartenden praktischen Konsequenzen auf genau das abzielen, was die Rechtspopulisten wollen.

Auf der anderen Seite steht allerdings, dass eine Demokratisierung der EU, d.h. die Entwicklung einer wirklichen politischen Union, genau genommen also eines europäischen Staates bislang kaum zu erkennen ist. Bekanntlich besteht ein zentraler Konstruktionsfehler des EURO-Regimes darin, dass es nur funktionieren könnte, wenn es eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik gäbe, die auch ökonomische Ausgleichsmechanismen zwischen den einzelnen Staaten beinhaltet. Die Errichtung einer derartigen Union ist nicht zuletzt daran gescheitert, dass es eine demokratische Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene bestenfalls ansatzweise gibt. Immer noch stehen nationale Interessen und Orientierungen im Vordergrund. Dass die europäische Integration als ein Elitenprojekt von oben durchgesetzt wurde, das von den Bevölkerungen toleriert wurde so lange es keine größeren Krisen gab, hat erheblich dazu beigetragen. Daraus ergibt sich die Frage, ob linke Initiativen eher in diese Richtung, nämlich auf politische Kooperation, Aufklärung und Bewusstseinsbildung jenseits der staatlichen Ebene zielen sollten. Ist wirklich alles gesagt, wenn beispielsweise die Initiative Exit Network lapidar feststellt, dass es eine europäische Zivilgesellschaft halt nicht gäbe und damit diesbezügliche politische Überlegungen für überflüssig erklärt? Auch das bedeutet strategische Re-Nationalisierung. Man könnte im übrigen die Erkenntnisse der materialistischen Staatstheorie in Erinnerung rufen, die besagen, dass staatliche Strukturen immer der Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse sind, dass also deren Veränderung und nicht zuallererst alternative Staatskonstruktionen das vorrangige Ziel sein müssten. Das ist allerdings ein schwierigeres Geschäft als staatsadministrative Blaupausen zu entwerfen.

Zweifellos ist eine grundlegende Reorganisation des europäischen politischen Regimes dringend notwendig und es bezeichnet ein dramatisches Versagen der herrschenden Politik, dass diese aus Anlass des Brexit nicht einmal ansatzweise ins Auge gefasst wird. Offenkundig ist es so, dass nicht nur Großbritannien, sondern auch einige osteuropäische Staaten von der EU nichts anderes erwarten oder erwartet haben als eine Freihandelszone, gegebenenfalls verbunden mit finanziellen Transfers, die möglichst geringe Kosten verursachen. Eine europäische politische Union widerspricht ihren nationalistischen Interessen und daher widersetzen sie sich ihrem Ausbau nachdrücklich. Eine Lösung wäre, dass die Staaten, deren gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse es gestatten, auf dem Weg zu einer politischen Union weiter voranschreiten und der Rest sich ihnen eben in Form einer lockereren Assoziierung anschließt. Die Osterweiterung der EU, die jenseits aller ökonomischen und politischen Vernunft aus rein geostrategischen Gründen – die Einkreisung Russlands – erfolgt ist, hat dies mehr als schwierig gemacht. Daran wurde kaum Kritik laut, zumindest nicht von links. Jetzt ist es etwas spät.

© links-netz August 2016