Home Archiv Links Intern Editorial Impressum
 
 
Neue Texte
 

Schwerpunkte

Sozialpolitik als Infrastruktur
Ende der Demokratie?
 

Rubriken

Deutsche Zustände
Neoliberalismus und Protest
Bildung
Krieg und Frieden
Biomacht und Gesundheit
Kulturindustrie
Theorie: Empire, Kommunismus und andere Angebote
Rezensionen
 
 

Anzeige

Deutsche Zustände Übersicht

 

  Text in eigenem Fenster anzeigen    rtf-Datei herunterladen    pdf-Datei herunterladen 

Warum eigentlich noch eine Wahl kommentieren?

Anmerkungen zu einem Dilemma linker Publizistik

Joachim Hirsch

Anlass für diesen Beitrag war eine Diskussion in der Redaktion von links-netz, bei der es darum ging, weshalb es eigentlich noch Sinn machen sollte, kritische Kommentare zu aktuellen Ereignissen, z.B. Wahlen und Volksabstimmungen zu machen, wenn zu vermuten ist, dass man nur schreibt, was eigentlich alle schon wissen.

Es gehört zu den Aufgaben links-alternativer Publikationen, Zeitereignisse zu kommentieren, kritisch zu durchleuchten, Hintergründe aufzudecken, Zusammenhänge deutlich zu machen, also in einem umfassenderen Sinne zu informieren. Das scheint irgendwie überflüssig geworden zu sein. Nehmen wir einmal die zurückliegende Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Das einzig Interessante dabei war der Neuwahl-Coup, den Schröder im Anschluss daran landete. Womit er sich nicht nur erneut als geschickter Machttaktiker erwies, sondern auch für die Fortsetzung der neoliberalen Politik über 2006 hinaus sorgte. Entweder er gewinnt der Bundestagswahl erneut als vermeintlich kleineres Übel oder er verschafft sich einen eleganteren Abgang als es der schleichende Zerfall der Regierung wäre. Auf jeden Fall wird damit verhindert, dass sich an die Politik der SPD etwas ändert, worüber die sogenannten „Linken“ in der Partei denn auch recht sauer sind. Das Wahlergebnis selbst, mit dem eben diese Politik abgestraft wurde, war dann kaum noch wichtig. Sicher war das so etwas wie eine „Schicksalswahl“ für die rotgrüne Koalition, aber eher in den Dimensionen parlamanterischer Rentenansprüche. Was bedeutet es schon, ob Schröder oder Merkel, Clement oder Stoiber in der Berliner Regierung sitzen. Da die Parteien ideologisch-programmatisch austauschbar geworden sind, sich letztendlich tatsächlich zu einer „virtuellen Einheitspartei“ (Agnoli) gemausert haben, kann ein möglicher Regierungswechsel nur noch beschränktes Interesse wecken. Zwischendurch wurde uns ein Lagerwahlkampf angedroht, wobei allerdings schwer auszumachen ist, was die Lager eigentlich unterscheidet. Man darf auf jeden Fall wieder mit einer Inszenierung populistischer Manöver rechnen. Allerdings konnte schon die angebliche Kapitalismuskritik Münteferings keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken.

Skandale, die früher einmal öffentliche Debatten geschürt haben, gibt es zuhauf. Beinahe jeden Morgen sind die Zeitungen voll davon, seien es die Selbstbedienungs-Tricksereien der politischen Klasse, die ausufernde Korruption, die mafösen Geldverschiebungen wie kürzlich zwischen Krankenkassen und Apothekern. Das wird durchaus öffentlich gemacht, rührt aber keine(n) mehr. Und dass eine Hauptbeschäftigung der Regierungen darin besteht, darüber nachzusinnen, wie den Unternehmern noch mehr Geld zugeschoben werden kann, gilt als selbstverständlich. Die Proteste gegen Hartz IV – abgeflaut. Was sollen Demonstrationen nützen, wenn die da oben ohnehin machen, was sie wollen?

Der Charakter von Ideologie hat sich verändert. Es wird nicht mehr verschleiert, sondern die Fakten liegen auf dem Tisch, für jedermann zugänglich. Ideologie ist, dass es so ist, wie es ist. Die Wirklichkeit ist zur Ideologie geworden. „There is no alternative“, wie es Margaret Thatcher, die Vorkämpferin der neuen Regierungsweise, formuliert hat. Die „Krise der Repräsentation“, d.h. die Tatsache, dass die Regierenden in freundschaftlicher Verbundenheit mit dem Kapital nur noch ihre eigenen Interessen vertreten und sich um das „Volk“ einen Dreck scheren, wird damit beantwortet, dass man von ihnen auch nichts mehr erwartet. Das macht ihnen ihr Geschäft durchaus leichter. Einst hatte linke Kritik die Zerstörung der Staatsillusion zum Ziel, also der Vorstellung, der Staat sei die Verkörperung des Gemeinwohls und durch demokratische Prozesse ließen sich gesellschaftliche Veränderungen durchsetzen. Das ist offensichtlich überflüssig geworden. Als illusionär gilt, über das Bestehende hinaus zu denken.

Die penetrante Arroganz der politisch Herrschenden, die sich mit einer kaum noch zu überbietenden Unverschämtheit der ökonomischen Machthaber paart, verbindet sich mit einer erstaunlichen Inkompetenz. Nieten in Nadelstreifen bevölkern nicht nur die Vorstandsetagen, sondern auch Kabinettstische und Parlamentsflure. „Handwerkliche Fehler“ der Regierung sind alltäglich geworden. Manchmal hat es den Anschein, die Dinge seien einfach zu kompliziert, die Zusammenhänge zu verwickelt geworden, um vom regierenden Personal noch gehandhabt werden zu können. Da ist sicher etwas daran, erklärt aber zu wenig. Dass die Osterweiterung der EU Probleme für den hiesigen Arbeitsmarkt bringen würde oder dass Steuersenkungen das Finanzaufkommen des Staates nicht eben vergrößern, muss eigentlich jeder und jedem einleuchten. Es ist auch kaum wahrscheinlich, dass es keine ministerialen Experten gab, die das finanzielle Desaster von Hartz-IV voraussehen konnten. Diese Inkompetenz hat mit einer spezifischen Form von Realitätsverlust zu tun. Die Kenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge ist in den neoliberalen Vorstellungswelten auf das Weltbild einer versimpelten Betriebswirtschaftslehre zusammengeschrumpft. Politische Richtschnur ist ein Katechismus, der wie alle Glaubenslehren einer Realitätsprüfung nicht zugänglich ist. Der Prozess der Politikformulierung hat sich verändert. Bürokratischer Sachverstand wird anscheinend immer mehr durch neoliberal durchwirkte Beratergremien ersetzt. Und so wird zum Beispiel trotz ständig wachsender Exportüberschüsse eine profitsteigernde Standortpolitik verfolgt, obwohl auf der Hand liegt, dass die Ursache der wirtschaftlichen Stagnation bei der „inneren Nachfrage“ liegt, die infolge der laufenden Senkung der Masseneinkommen und einer verbreiteten materiellen Unsicherheit dauerhaft lahmt.

Die Inkompetenz der PolitikerInnen ist auch eine Folge des herrschenden Rekrutierungs- und Sozialisationsmodus. Je mehr „Ideologiefreiheit“ und Pragmatismus zur Karrierevoraussetzung werden, desto mehr trübt sich der Blick auf weiterreichende Zusammenhänge. Prinzipienfester Opportunismus kann zwar dem kurzfristigen Machterhalt nützlich sein, blendet aber die längerfristigen Folgen des politischen Handelns systematisch aus. Die Orientierung an politischen Grundsätzen hatte einst dazu gedient, komplexe Zusammenhänge überschaubar zu machen und generelle politische Handlungsleitlinien bereit zu stellen. Geht sie verloren, dann bleibt nur ein politisches Durchwursteln, das notorisch mehr Probleme schafft als löst.

Es ist ein grundlegendes Merkmal des postfordistischen, auf internationale Standortoptimierung ausgerichteten „Wettbewerbsstaats“, dass Politik immer stärker gegen die Interessen von Bevölkerungsmehrheiten durchgesetzt werden muss. Das „Volk“ gilt weniger denn je als demokratischer Souverän, sondern im wesentlichen als Störfaktor. Es ist dumm, uneinsichtig und weiß nicht, was ihm gut tut. Dass sich die Regierung ein besseres Volk wählt, wie Bertolt Brecht einmal anregte, ist allerdings kaum mehr nötig. Es muss nur verhindert werden, dass es sich überhaupt äußert, siehe z.B. die Abbügelung jeder öffentlichen Diskussion oder gar einer Volksabstimmung über die EU-Verfassung. Der Bundestag hat dieses neoliberale Machwerk debattenlos durchgewinkt und eine Volksabstimmung mit wahrscheinlich negativem Ergebnis abgelehnt. Das macht deutlich, was heute Repräsentation heißt. Es gehört in diesem Lande zur festen Tradition, Verfassungen besser nicht dem Volk zur Genehmigung vorzulegen. Das galt schon für die Entstehung des Grundgesetzes und wurde bei der Inszenierung der so genannten deutschen Einheit fortgesetzt. Nach der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden wurde unisono verkündet, sich keineswegs beirren zu lassen und den Ratifizierungsprozess weiter zu betreiben. EU-Kommissar Verheugen meinte, irgendwann kämen die Leute doch noch zur Einsicht. Man lässt halt abstimmen, bis das Ergebnis stimmt.

Damit soll nicht gesagt sein, dass Regierungen mit ihrer Politik jederzeit demografischen Mehrheiten folgen sollten. Zu politischer Führung gehört auch, dass hin und wieder aus Rationalität und Weitsicht Entscheidungen gegen Stimmungen in der Bevölkerung durchgesetzt werden. Demokratische Qualität erhält dies, wenn dahinter ein plausibles und letzten Endes für Mehrheiten überzeugendes Konzept von Gesellschaftsgestaltung steht, Politik also einen hegemonialen Charakter hat. Genau dies ist inzwischen nicht mehr der Fall. Der Eindruck wird stärker, die WählerInnen seien um Einiges vernünftiger als die politische Klasse.

Resultat des veränderten Rekrutierungsmodus des politischen Personals ist auch, dass die PolitikerInnen im allgemeinen Bewusstsein ganz offensichtlich zu Menschen wie Du und ich geworden sind: auf den eigenen Vorteil bedacht, mit keinen besonderen Fähigkeiten ausgestattet und ein wenig zur Kleinkriminalität neigend. Von beiden Seiten ist der Respekt verloren gegangen, der ein Bestandteil demokratischer Kultur sein müsste. Wenn im September gewählt wird, ist unabhängig vom Resultat nur eines sicher: dass es so weiter geht wie bisher. Demokratischer Respekt hieße, dass man Interessen, Ängste und alltägliche Probleme ernst nimmt. Alles andre heißt, Demokratie zu ruinieren.

Wenn es keinen Respekt gibt, dann hilft nur die Macht. Und die kann angesichts der herrschenden Zustände kaum mehr über das System der politischen Institutionen ausgeübt werden. Darüber besteht hierzulande allerdings kaum ein Bewusstsein. Als die französische Regierung den Pfingstmontag den Unternehmern als unbezahlten Arbeitstag offerierte, blieben die Leute kurzerhand zu Hause. In vieler Hinsicht kann man von Frankreich lernen. Dass da einst eine Revolution stattgefunden hatte, wirkt immer noch nach. Als in Deutschland vor einigen Jahren aus ähnlichen Gründen der Buß- und Bettag als gesetzlicher Feiertag abgeschafft wurde, war außer einigen lauen Protesten nichts zu hören. Solange sich daran nichts ändert, bleibt selbstverschuldete Unmündigkeit.

© links-netz Juni 2005