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Fetisch „Märkte“

Über die politische Funktion von Begrifflichkeiten

Joachim Hirsch

Kaum eine Nachrichtensendung oder Politikerrede, in der nicht die „Märkte“ beschworen werden. Sie gelten mittlerweile als die Angelpunkte des Weltgeschehens. Das klingt nach fernen Gottheiten oder zumindest nach dunklen Schicksalsmächten und hat auf jeden Fall etwas Beschwörendes an sich. Natürlich ist dabei nicht die Rede von dem Super- oder Wochenmarkt nebenan. Es geht um die Finanzmärkte, also die, auf denen Geld-, Kapital- und Finanzprodukte gehandelt werden, weltweit und grenzenlos. Im Gegensatz zu Äpfeln und Bananen sind diese nicht sichtbar, sondern verbergen sich hinter komplizierten Zahlen- und Datenansammlungen. Zu diesen Märkten hat der gemeine Mensch nur über Börsenmakler oder Bankberater Zutritt, die einem in der Regel faule Produkte andrehen. Das trägt dazu bei, dass die Märkte als eine höhere Macht erscheinen, der Opfer gebracht werden müssen, um sie gnädig zu stimmen. Seit sich die marktgängige ökonomische Wissenschaft in eine etwas atavistisch anmutende Glaubenslehre verwandelt hat und ziemlich stark dem Totemismus anhängt, ist diese quasi religiöse Vorstellungswelt nicht eigentlich verwunderlich.

Nun sind Märkte, dem würden wohl auch noch Ökonomen zustimmen, keine mit eigenem Willen begabte Subjekte mit Gefühlen und Befindlichkeiten (scheu, verunsichert, enttäuscht usw.). Sie sind vielmehr gesellschaftliche Einrichtungen, in denen durchaus konkrete Menschen verkehren. Diese Institutionen beruhen auf Eigentums- und Rechtsverhältnissen, die gewaltförmig – durch den Staat – gesichert werden. Die Personalisierung, die in der üblichen Verwendung des Begriffs mitschwingt, soll eben dies verschleiern. Waren müssen, wie schon Marx feststellte, zum Markt getragen werden. Finanzprodukte ebenfalls. Auch auf den Finanzmärkten wird das getan, um Kapital zu verwerten und Profite zu machen. Man könnte diejenigen, die die „Märkte“ bevölkern, durchaus beim Namen nennen. Allerdings wäre das mit dem Risiko verbunden, ihre Verhaltensweisen und Interessen offen zu legen und damit den quasi religiösen Fetisch zu entschleiern. Und man müsste dann vielleicht auch erwähnen, was diese Subjekte anrichten, nämlich nicht nur Finanzkrisen, sondern massive Privatisierungen mit elenden Folgen für die Betroffenen: Arbeitslosigkeit, Zwangsmigration, Lebensmittelspekulationen, Landraub und einiges andere mehr. Eben dieser Marx hat die Kapitalisten einmal als Charaktermasken des Kapitals bezeichnet, womit er ausdrücken wollte, dass sie nur die Rolle spielen, die ihnen das Kapitalverhältnis aufzwingt. Das ist nicht ganz richtig. Zwar müssen die Kapitalisten Profite machen, damit sie selbst und das ganze System nicht untergehen, aber dabei gibt es durchaus Spielräume und Grenzen, z.B. durch staatliche Kontrollen und Regulierungen. Gerade diese haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Ein Grund dafür ist die sogenannte „Globalisierung“ – noch einer dieser Begriffe, mit denen die neoliberale Kapitaloffensive nach der großen Krise der siebziger Jahre verschleiert wird. Dahinter steht die Tatsache, dass es dem zunehmend international operierenden Kapital gelungen ist, sich den Beschränkungen zu entziehen, denen es unterworfen war, als die Nationalstaaten noch eine gewisse Kontrolle ausübten und Regierungen wenigstens ansatzweise demokratisch verantwortlich waren. Die Kontrollen wurden durch die Regierungen selbst abgeschafft und die „Märkte“ haben dann dafür gesorgt, dass es auch mit der Demokratie ziemlich bergab gegangen ist. Die global tätigen Unternehmen brauchen sich daher um das Schicksal der Gesellschaften nicht mehr zu kümmern, die sie als Standorte aussuchen. Dass sie damit auf längere Sicht ihre eigenen Existenzgrundlagen untergraben und soziale Krisen bisher nicht gekannter Art heraufbeschwören, steht auf einem anderen Blatt. In den Vierteljahresbilanzen taucht das nicht auf. Der Rest ist eben auch Schicksal.

Die Regierungen, eben diesen „Märkten“ unterworfen, bemühen sich, diese gnädig zu stimmen, und dies regelmäßig gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit. Jedenfalls sind die „Märkte“ inzwischen wichtiger als Wahlen, die die Züge mehr oder weniger spannender sportlicher Inszenierungen angenommen haben. Wer sie gewinnt, ist ziemlich egal, weil ja letztendlich die „Märkte“ entscheiden. Dass die politische Wissenschaft die herrschenden Zustände inzwischen als „Postdemokratie“ bezeichnet, zeugt immerhin von einer gewissen Erkenntnisfähigkeit. Es sind vor allem die auf den internationalen Finanzmärkten tätigen Unternehmen, die mit Hilfe ihrer Dependancen, wie etwa der von ihnen bezahlten Ratingagenturen, das Sagen haben. Wenn das nicht ausreicht und die Staaten doch einmal nicht nach ihrem Willen funktionieren, werden Regierungen eingesetzt, die „technokratisch“ genannt werden und demokratischer Legitimation überhaupt entbehren. Das Finanzkapital bestückt diese mit ihrem eigenen Personal, wie jetzt im Falle Griechenlands oder Italiens. Offen autoritäre Regime oder gar Militärdiktaturen werden im Zeitalter der „Postdemokratie“ nicht mehr gebraucht. Dass das Führungspersonal internationaler Institutionen wie der Europäischen Zentralbank von Finanzkonzernen gestellt wird, ist ohnehin selbstverständlich. Da braucht auf demokratische Verfahren schon gar keine Rücksicht genommen werden. Goldmann-Sachs und andere richten das.

Angesichts dieser Entwicklung ist des öfteren von einer „Finanzialisierung“ des Kapitalismus die Rede. Auch dieser Begriff verbirgt etwas. Die neoliberale Offensive hat dazu geführt, dass die Masseneinkommen weltweit sanken und die Profite explodierten. Dies wiederum hatte zur Folge, dass sich Investitionen im produktiven Sektor angesichts zunehmender „Marktsättigungen“ nicht mehr so gut lohnen. Die neoliberale Deregulierung hat aber die Möglichkeit eröffnet, dies durch Finanzspekulationen auszugleichen. Nun werden im Finanzsektor allerdings keine Werte geschaffen, die Profite sind also fiktiv. Es sei denn, man lässt die Bevölkerung für die dadurch entstandenen Schuldenblasen bezahlen. Und das geschieht, wenn Banken oder Staaten auf Kosten der Steuerzahler „gerettet“ werden sollen. Die daraus resultierende öffentliche Sparpolitik führt dazu, dass die Krise fortdauert und sich der neoliberale Kreisel weiter dreht.

Es wäre also durchaus hilfreich, wenn statt von „Märkten“ einmal wieder von Kapitalverwertung, Profitinteressen oder internationalen Kapitalverflechtungen und den dabei maßgebenden Akteuren geredet würde. Nicht zuletzt um ins Bewusstsein zu rücken, dass es nicht um geheimnisvolle Mächte oder einen Selbstlauf der Ökonomie geht, sondern um Gewaltverhältnisse und Politik, und dass es darauf ankommt, diese zu verändern. Statt sich von einem Fetisch beherrschen und dumm machen zu lassen. Das geschieht indessen kaum. Man darf ja nicht diejenigen verärgern, von denen man als PolitikerIn abhängig ist oder die einem als JournalistIn den Arbeitsplatz „sichern“. Der Neoliberalismus ist zwar ökonomisch und politisch gescheitert, zumindest was seine anfänglichen Versprechungen angeht. Davon ist inzwischen auch nicht mehr die Rede, weil im allgemeinen Bewusstsein ja nun die „Märkte“ herrschen, eine Tatsache, die alternativlos sei, wie auch die Kanzlerin gerne betont. Die ideologische Macht des Neoliberalismus ist zwar angeschlagen, bleibt aber immer noch wirksam, wie nicht nur der alltägliche Blick in die Nachrichten und die einschlägigen Politikerreden zeigen. Auch das alltägliche Bewusstsein und Handeln wird ganz deutlich davon bestimmt. Die „Märkte“ sorgen ganz „ideologiefrei“ dafür, dass die neoliberale Politik weiter und mit verstärkter Kraft fortgesetzt wird. Die Krise, die ja kein Betriebsunfall und nur der Ausdruck der Widersprüche ist, die dem Kapitalverhältnis grundsätzlich innewohnen, wird also weitergehen. Das ist der Effekt, den „Rettungsschirme“ und Ähnliches haben.

Vgl. dazu auch den Beitrag von Heinz Steinert Krise? welche Krise? wessen Krise? – Metaphern und Modelle und was daraus folgt, Dezember 2010.

© links-netz Mai 2012