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Ökonomisierung des Gesundheitswesens

Rezension zu Manzei/Schmiede: 20 Jahre Wettbewerb im Gesundheitswesen

Joachim Hirsch

Während die neoliberalen Versprechungen bezüglich der wohltuenden Wirkungen von Markt- und Konkurrenzregulierung inzwischen in vielen gesellschaftlichen Bereichen in Frage gestellt werden, bestimmt das Ökonomisierungsparadigma immer noch weitgehend ungebrochen und nicht nur hierzulande die Gesundheitspolitik. Der von Alexandra Manzei und Rudi Schmiede herausgegebene Sammelband „20 Jahre Wettbewerb im Gesundheitswesen“ beschäftigt sich mit den Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen dieser Entwicklung. Die inzwischen zentral auf der gesundheitspolitischen Agenda stehende Einführung marktökonomischer Steuerungsverfahren soll bewirken, dass das Gesundheitswesen sowohl qualitativ besser als auch wirtschaftlicher wird. Dies führt allerdings dazu, dass medizinische und pflegerische Wertorientierungen, Handlungsmaximen und Entscheidungskriterien immer stärker durch betriebswirtschaftliche Kalküle überlagert (14ff.) und ursprünglich nicht betriebswirtschaftlich organisierte Handlungsfelder dadurch „kolonisiert“ werden (20). Die Herausgeberin und der Herausgeber weisen in ihrer Einleitung darauf hin, dass zwar in den Medien immer häufiger auf die negativen Konsequenzen dieser Politik hingewiesen wird, die Ergebnisse der einschlägigen Forschung aber sehr uneinheitlich und vielfach umstritten sind. Das sei nicht nur darauf zurückzuführen, dass wissenschaftliche Untersuchungen immer interessengeleitet sind, vielmehr vor allem auch darauf, dass sie der Komplexität des Untersuchungsfeldes, d.h. der Vielzahl der bestimmenden Ursachen und Variablen nicht genügend Rechnung tragen. Der Auseinandersetzung mit diesem Problem und der Skizzierung alternativer Forschungsansätze ist der vorliegende Band gewidmet.

Alexandra Manzei, Manfred Schnabel und Rudi Schmiede beschäftigen sich einleitend mit dem Problem, wie „Wettbewerb“ überhaupt untersuchungstechnisch operationalisiert werden kann, was darunter zu verstehen ist und welche Formen er annimmt (13ff.). Dazu kommen Überlegungen dazu, wie mit dem Problem der Komplexität umzugehen ist (21ff.). Die Prozesse im Gesundheitswesen werden durch eine Vielzahl zunächst extern erscheinender Faktoren bestimmt, wie etwa demografische Entwicklungen, die Veränderung von Krankheitsbildern und Familienstrukturen, neue Informations- und Kommunikationstechnologien, Professionalisierungs- und Deprofessionalisierungstendenzen. Diese Faktoren müssen mit einbezogen werden, wenn die Auswirkungen der Ökonomisierung ermittelt und beurteilt werden sollen, und dies erfordere den Einsatz qualitativer und interpretativer Verfahren, die zumindest in Deutschland gegenüber den scheinbar objektiveren quantitativen Methoden immer noch ein Schattendasein fristen. Daraus resultiert das Vorhaben, „diese >qualitative Lücke< in der deutschen Begleitforschung zur Implementierung von Wettbewerb im Gesundheitswesen zu füllen“ (24).

Die Beiträge des ersten Abschnitts beschäftigen sich mit den allgemeinen gesundheitspolitischen Entwicklungen seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Thomas Gerlinger gibt dazu einen sehr instruktiven Überblick, beginnend mit der strategischen Neuorientierung der Gesundheitspolitik im Gefolge der Fordismus-Krise, die auf Kostendämpfung unter Beibehaltung der herrschenden Strukturen abzielte und deren Wirkungen begrenzt waren (35ff.). Dass das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich teuer und nur wenig effizient ist, hat sich dadurch – wie auch durch die folgenden Reformen – nicht geändert. Ein grundlegender Wandel zeichnete sich zu Beginn der 90er Jahre ab und manifestierte sich in dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1993, das unter dem Eindruck von Globalisierung und verschärfter Standortkonkurrenz die Etablierung eines staatlich regulierten Wettbewerbs zwischen den beteiligten Akteuren und eine wachsende Privatisierung der Gesundheitsversorgung eingeleitet hat. Damit sollten vor allem die Unternehmen von Sozialabgaben entlastet und nicht zuletzt dem Kapital neue Verwertungsfelder eröffnet werden. Dies hatte unter anderem die Folge, dass die Gesundheitskosten zugunsten der Arbeitgeber stärker auf die Versicherten verlagert wurden und der Anteil der Steuerfinanzierung anstieg, somit also die Grundmerkmale des Bismarckschen Krankenversicherungsmodells erodierten. Verbunden war dies mit einem Zurückdrängen des bis dahin herrschenden korporativistischen Regulierungsmodus und einer starken Ausweitung der Staatsintervention. Diese Strukturreform erzeugte allerdings neue Fehlsteuerungen, die zu immer weiteren, von den wechselnden Regierungskoalitionen bei unveränderter Zielrichtung fortgeführten Anpassungen führten. Auffallend dabei sei, dass der Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern ganz wesentlich durch die rot-grüne Bundesregierung vorangerieben wurde.

Anja Hartmann und Sebastian Becker untersuchen in Ergänzung dazu den Einfluss der Europäischen Union auf die gesundheitspolitische Gesetzgebung in Deutschland (71ff.). Unter der Ägide der europäischen Binnenmarktpolitik sei es zu einer nicht offiziell deklarierten, aber faktischen Ausrichtung des Gesundheitswesens an Markt- und Wettbewerbsstrukturen gekommen. Obwohl nach den europäischen Verträgen Sozialpolitik eine Angelegenheit der Einzelstaaten ist, habe dies zu einer „schleichenden Europäisierung“ der Gesundheitspolitik unter wettbewerbsökonomischen Vorzeichen geführt. Interessant ist, wie einzelstaatliche und europäische Politiken sich dabei gegenseitig verstärkt haben.

Die folgenden Abschnitte enthalten Analysen, die sich mit den Auswirkungen der Ökonomisierungsstrategien auf einzelne Felder des Gesundheitssystems beschäftigen. In Bezug auf die medizinische und pflegerische Versorgungsqualität kommen die AutorInnen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Bernhard Braun zieht den Schluss, dass die Einführung von Fallpauschalen und DRGs (diagnosis related groups) in der Krankenhausfinanzierung, die zu einer Senkung der Ausgaben für die stationäre Versorgung führen sollte, durch eine Verschlechterung in der Qualität der Patientenbehandlung erkauft wurde, was vor allem durch die starke relative Verminderung des Pflegepersonals zurückgeführt wird (91ff.). Gerd Glaeske kommt in Bezug auf die Auswirkungen von Ökonomisierungsprozessen auf die Qualität der Arzneimittelversorgung zu einem etwas anders gelagerten Ergebnis. Die ursprünglich eingeführten Rationalisierungsstrategien wie Rabattverträge, Budgetierungen und Zuzahlungen (mit denen die „Eigenverantwortlichkeit“ der Patienten gefördert werden sollte) hätten sich nicht als sonderlich wirksam erwiesen und für die Patienten viele Nachteile nach sich gezogen. Eine bessere Lösung sieht er in der Entwicklung eines Qualitätswettbewerbs auf der Basis unabhängiger Kosten-Nutzen-Analysen, was mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz und der Errichtung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen eingeleitet worden sei. Er setzt also auf mehr Wettbewerb, der allerdings staatlich gestaltet und kontrolliert sein müsse (115ff.). Melanie Schnee untersucht die Auswirkung von Ökonomisierungsstrategien auf die ambulante Versorgung und stellt fest, dass die Steuerung durch mehr Eigenbeteiligung der Patienten zu deren finanziellen Mehrbelastung ohne erkennbaren Nutzen geführt habe. Nicht zuletzt werde auch das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten beeinträchtigt. Auch sie setzt auf einen geregelten Wettbewerb, der mehr auf Qualität denn auf Kosteneffizienz beruhen sollte und bewertet dabei neue Versorgungsformen wie Disease-Management-Programme oder hausärztliche Versorgungsmodelle positiv (141ff.).

Ein größerer Abschnitt des Bandes ist den Ökonomisierungsprozessen in der Pflege gewidmet, einem von der Forschung bisher eher vernachlässigten Bereich. Michael Simon untersucht die Veränderungen bei den Krankenhaus-Pflegediensten. Er stellt fest, dass die Ökonomisierung nicht nur die Konkurrenz zwischen den Krankenhäuern verschärft, sondern auch innere Verteilungskämpfe mobilisiert hat. Diese gingen zu Lasten des Pflege- und zu Gunsten des ärztlichen Personals und hatten erhebliche Stellenkürzungen und Einkommensverluste bei den Pflegenden zur Folge, mit entsprechenden Folgen für die Qualität der Pflege (157ff.). Eva-Maria Krampe stellt in einem theoretisch und methodisch sehr reflektierten Beitrag die Ergebnisse einer Analyse des Professionalisierungsdiskurses in der Pflegewissenschaft vor (179ff.). Die Etablierung einer eigenständigen Pflegewissenschaft sei vor allem durch eine Anpassung an die herrschenden Ökonomisierungslogiken gelungen, Während die Absolvierung von Pflegestudiengängen für einen Teil der Pflegenden die Chance eröffnete, der unmittelbaren Arbeit am Krankenbett zu entkommen und Leitungs- oder Managementfunktionen zu übernehmen, war von den Promotorinnen der Professionalisierung keineswegs beabsichtigt, alle in der Pflege Tätigen höher zu qualifizieren. Eine stärkere Hierarchisierung der Pflegeberufe ist die Folge. Interessant ist dabei, in welcher Weise die Ökonomisierung von den Pflegewissenschaftlerinnen als nicht eben dominante Akteure zwecks Wahrnehmung ihrer Statusinteressen mit vorangetrieben wurde – ein Beispiel dafür, wie Hegemonie funktioniert. Lukas Slotala beschäftigt sich schließlich mit den Auswirkungen der Ökonomisierung für die ambulante Pflege – ein Sektor, der in den letzten Jahren insbesondere im privatisierten Bereich enorm angewachsen ist. Mit der Aufgabe des Bedarfsdeckungsprinzips ging eine strukturelle Unterfinanzierung der Langzeitpflege einher und die Konkurrenz zwischen den auf private Zuzahlungen angewiesenen Anbietern führte dazu, dass betriebswirtschaftliche Rationalisierungskalküle dominant wurden. Das hat nicht nur erhebliche Auswirkungen für die Qualität der Pflege, sondern konfrontiert die dort Arbeitenden mit dem Widerspruch zwischen betriebswirtschaftlichen Anforderungen und beruflichen Standards (199ff.).

Alexandra Manzei und Werner Vogl analysieren schließlich auf der Basis umfangreicher empirischer Untersuchungen die Auswirkungen der betriebswirtschaftlichen Ökonomisierung auf das Krankenhaus. Manzei widmet sich den Auswirkungen der Einführung neuer Informations- und Datenverarbeitungstechniken und zeichnet nach, wie die Digitalisierung die ärztlichen und pflegerischen Entscheidungen beeinflusst (219ff.). Sie kommt zu dem Schluss, dass diese Entwicklung keineswegs notwendig zu einer besseren Versorgungsqualität führt, aber kaum vorhersehbare Folgewirkungen zeitigt. Eine wichtige Konsequenz sei, dass die ärztlich und pflegerisch Handelnden dazu veranlasst seien, digitale Dokumentationen zu erstellen, die mit dem realen Geschehen wenig zu tun haben. Insbesondere die Pflegenden seien gezwungen, die Folgen der betriebswirtschaftlichen Rationalisierung durch Mehrarbeit und Arbeitsverdichtung zu kompensieren, was das „Krankheitserleben“ der Patienten erheblich beeinflusst. Sie stellt abschließend fest, dass „die Einführung von Marktmechanismen im Gesundheitswesen weder die Versorgungsqualität verbessert noch zu einer besseren Effizienz und Wirtschaftlichkeit führt“ (237). Werner Vogl untersucht die Auswirkungen des DRG-Systems auf das Handeln der Klinikärzte (241ff.). Diese seien gezwungen, der wachsenden Formalisierung der Medizin in der Praxis mit informellen Strategien zu begegnen, um medizinischen Kriterien noch gerecht werden zu können. Faktisch komme es zu einer Unterscheidung zwischen komplizierten und Routinefällen, die vom ärztlichen Personal nur noch oberflächlich untersucht würden. Dazu komme die Tendenz, ärztliche und pflegerische Aufgaben in den ambulanten Bereich oder in nachsorgende Einrichtungen zu verlagern. Auch hier wird festgestellt, dass die Ökonomisierung ärztliche und pflegerische Rationalitäten nicht einfach aushebelt, aber deutlich überformt und dass zwischen der formalisierten Dokumentation und der Praxis große Lücken klaffen. Die Bedeutung der ärztlichen Profession und damit ihre Macht werde damit deutlich größer (260).

Den Abschluss des Bandes bilden drei Erfahrungsberichte von niedergelassenen ÄrztInnen, worin die in den analytischen Teilen formulierten Aussagen recht eindrücklich bestätigt werden. Hervorgehoben wird, dass die Regelung der Leistungsentgelte tendenziell dazu führt, dass sich die Behandelnden auf lukrative PatientInnengruppen konzentrieren, der Zwang zur Wirtschaftlichkeit also eine Risikoselektion nach sich zieht. Dies wirkt sich vor allem für die PatientInnen negativ aus, die auf umfangreichere Behandlungen und größere Zuwendung angewiesen sind, ganz abgesehen davon, dass die Arbeitskraft der ÄrztInnen in starkem Maße durch bürokratische Anforderungen absorbiert wird.

Die in dem Band versammelten Beiträge geben einen recht guten und durch umfangreiche empirische, nicht nur auf formalisierte und quantitative Analysen gestützten Einblick in die Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens unter den Bedingungen von Ökonomisierung, betriebswirtschaftlicher Rationalisierung und Vermarktlichung. Generelles Ergebnis ist, dass die dabei anvisierten Ziele – mehr Kosteneffizienz bei zugleich besserer Versorgung – nicht erreicht wurden, vielmehr die Versorgungsqualität sich insgesamt verschlechtert hat.

Etwas nachteilig ist, dass einige Beiträge in einer expliziten Fachsprache gehalten sind, was sie für Nichtexperten nicht eben leicht lesbar macht. Hier zeigt sich ein Problem, das die Diskussion in diesem Bereich insgesamt kennzeichnet: ihre Beschränkung auf von der allgemeinen Öffentlichkeit relativ abgeschottete ExpertInnenzirkel. Auffallend ist, dass über eine Kritik des herrschenden Gesundheitssystems hinausgehende Überlegungen weitgehend fehlen, zumal die Frage nicht thematisiert wird, ob es nicht an der Zeit wäre, es ganz grundlegend neu zu gestalten, etwa im Sinne des Ausbaus einer allgemeinen, staatlich finanzierten und demokratisch kontrollierten sozialen Infrastruktur, wie sie vom links-netz vorgeschlagen wird. So bleibt es bei den von zwei AutorInnen gemachten Vorschlägen zu mehr Wettbewerb, der allerdings qualitativ orientiert und staatlich kontrolliert sein soll. Auf die damit verbundenen Probleme wird allerdings kaum eingegangen. Es bleibt die Frage, ob das bestehende System wirklich dadurch verbessert werden kann, dass an einigen seiner Stellschrauben gedreht wird. Die vorgelegten Untersuchungen weisen eher auf das Gegenteil hin.

Alexandra Manzei, Rudi Schmiede (Hg.): 20 Jahre Wettbewerb im Gesundheitswesen. Theoretische und empirische Analysen zur Ökonomisierung von Medizin und Pflege. Unter Mitarbeit von Matthias Brünett. Wiesbaden: Springer VS 2014, 321 Seiten.

© links-netz Dezember 2014