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„Eliten“: dumm oder korrupt?

Über Albrecht Müllers „Machtwahn“

Joachim Hirsch

„Eliten“ sind wieder in, und „Elitenförderung“ ist zur nicht mehr hinterfragten Leitlinie der Bildungspolitik quer durch alle politischen Lager geworden. Indessen kann man an deren Sinnhaftigkeit gewisse Zweifel bekommen, selbst wenn man zeitgeistgemäß gesellschaftliche Gleichheitspostulate in die historische Mottenkiste getan hat. Jedenfalls sind die sich selbst so nennenden „Eliten“ hierzulande eher das Problem als seine Lösung. Die Qualität des politischen und wirtschaftlichen Leitungspersonals lässt, was Weitsicht, Durchblick und Können angeht, einiges zu wünschen übrig und man fragt sich immer wieder, welches die Gründe dafür sind, dass „Nieten in Nadelstreifen“ nicht nur in Konzernzentralen, sondern auch in der Politik auffallend häufig anzutreffen sind. Kaum ein politisches Vorhaben, das nicht am Ende schief geht, keine „Reform“, die nicht das Gegenteil des angeblich Beabsichtigten zur Folge hat und auf jeden Fall alles noch schlimmer macht. Sind also die Verhältnisse selbst für Hochbegabte zu kompliziert geworden? Oder die Blockierer einfach zu mächtig? Liegt es an der Globalisierung oder doch an der Ausbildung, die die Begabten zu wenig fördert? Oder ganz simpel an den Karrieremechanismen, etwa am allseitigen Wirken des Peter-Prinzips? Albrecht Müller hat auf diese hochaktuelle Frage eine recht plausible Antwort.

Ursprünglich sollte die Bezeichnung „dumm oder korrupt“ im Titel des Buches stehen, das sich mit der deutschen „Führungselite“ befasst. Dem Verlag war diese Formulierung jedoch zu anstößig. Zu den gemachten Aussagen hätte sie allerdings besser gepasst – und irgendwie auch eher der Realität entsprochen. Der Autor, der Nationalökonomie studiert hat und Redenschreiber für Wirtschaftsminister Schiller war, danach unter den Regierungen Brandt und Schmidt als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt und 1987 bis 1994 Bundestagsabgeordneter der SPD fungiert hat, kann in gewissem Sinne als Insider gelten, der weiß wovon er spricht. Den neoliberalen Schwenk der SPD hat er nicht mitgemacht, sondern ist alten sozialdemokratischen Grundsätzen treu geblieben – zweifellos genügend Anlass für eine gewisse Verbitterung über die politischen Zustände hierzulande.

Unter „Eliten“ versteht Müller etwas pauschal diejenigen, die die öffentliche Meinung und die politisch-wirtschaftlichen Entscheidungen wesentlich bestimmen. Also vor allem Menschen aus dem Feld der Politik, sich öffentlich positionierende oder als Berater auftretende WissenschaftlerInnen, die diversen Beraterkategorien, Medienleute und natürlich Manager großer Konzerne. Seine Ausgangsfrage ist, weshalb in Deutschland seit nunmehr 25 Jahren eine der neoliberalen Angebotsökonomie verpflichtete Politik praktiziert und als alternativlos propagiert wird, obwohl die dadurch angeleiteten „Reformen“ zu katastrophalen Ergebnissen geführt haben. Entgegen aller notorisch wiederholten Versprechungen sind die Arbeitslosenzahlen immer weiter gestiegen, die Masseneinkommen gesunken, die Sozialversicherungssysteme ausgeblutet und die Infrastruktur rottet vor sich hin. Der einzig bezifferbare „Erfolg“ der Wirtschaftspolitik besteht darin, dass ein Exportrekord den anderen jagt, während im Inneren die Armut steigt. Müller verzichtet darauf, das üblich gewordene Globalisierungsargument zu bemühen. Für ihn sind es nicht irgendwelche objektive Gegebenheiten, sondern fehlerhaftes menschliches Handeln, das für die dargelegte Entwicklung maßgebend ist. Das politische Versagen führt er darauf zurück, dass das herrschende Führungspersonal sich zu einem eng verflochtenen, weitgehend abgeschotteten, sich gegenseitig bestätigenden, in seiner ideologischen Bornierung Realitäten kaum mehr wahrnehmenden und ausschließlich an persönlichen Karriereinteressen orientierten Machtkartell zusammengeschlossen habe, das strukturell lernunfähig sei (13f.). Sein Ziel ist es, dieses Machtkartell und seine Funktionsweise zu beschreiben.

Zunächst einmal referiert Müller die Ergebnisse einer so genannten „Reform“-Politik, die er als systematische und über Jahrzehnte hingezogene Konkursverschleppung charakterisiert. Dabei wird einiges von dem wiederholt, was er in seinem zuvor geschriebenen Bestseller „Die Reformlüge“ ebenso pointiert wie treffend beschrieben hatte. Warum es zu der ökonomischen und gesellschaftlichen Miesere kommen konnte, wird mit einer ganzen Reihe von Argumenten begründet. Dazu gehört, dass die auf betriebswirtschaftliche Kalküle reduzierte neoliberale Wirtschaftstheorie – nicht zuletzt infolge einer entsprechenden Berufungspolitik der Universitäten – wie kaum anderswo eine praktisch unangefochtene Vormachtstellung erringen und gewissermaßen zur Leitwissenschaft werden konnte, während in den Regierungsetagen nüchterner makroökonomischer Sachverstand kaum mehr anzutreffen sei. Charakteristisch für die herrschende Wirtschaftswissenschaft sei die Haltung, von der Realität nachhaltig widerlegte Theorien unverdrossen weiter zu propagieren. Kontroverse wissenschaftliche Diskussion und Analyse werde durch das Verkünden von Glaubenswahrheiten ersetzt. Für besonders bedeutungsvoll wird die Tätigkeit eines eng verflochtenen Netzwerks von unternehmensfinanzierten, aber als „neutrale“ Wissenschafts- und Beratungseinrichtungen auftretenden Propagandaorganisationen gehalten, die Politik und Öffentlichkeit maßgebend beeinflussen. Die den öffentlichen Diskurs bestimmende Ökonomisierung des gesellschaftspolitischen Denkens sei ganz wesentlich von dieser neoliberalen Propagandaapparatur vorangetrieben worden und habe nicht nur die Köpfe der PolitikerInnen, sondern auch weite Kreise politisierender Intellektuellen vernebelt und in den Redaktionen fast aller maßgebenden Presseorgane Einzug gehalten.

Als ein entscheidendes Antriebsmoment für diese Entwicklung sieht Müller die Medialisierung der Politik, wobei eine wesentliche Rolle spielt, dass die Funktionsmechanismen der Privatmedien immer stärker auch das Verhalten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bestimmen. Was zählt, ist das Event und sich permanent widersprechende Verlautbarungen stören so lange nicht, als man auf das kurze Gedächtnis des informationsüberfluteten Publikums vertrauen kann. Wenn Medienwirkung für das politische Personal zum entscheidenden Erfolgskriterium und wichtigstem Karrierevehikel wird, spielen komplexere Sachargumente und praktische Politikergebnisse eine untergeordnete Rolle. Schlagworte, die erfolgreich im medialen Diskurs verankert worden sind, werden einfach nachgeplappert und gewinnen durch permanente Wiederholung den Charakter undiskutierbarer Wahrheiten. Der politische Diskurs dreht sich sozusagen in sich selbst. Auf Begründungen kann verzichtet werden, wenn alle dasselbe sagen. Abweichungen vom ideologischen Mainstream führen zu einer schlechten Presse, die Anglifizierung der Sprache, womit Aufgeschlossenheit und Kompetenz suggeriert werden soll, verdeckt die Banalität der Aussagen. Die Folge sei, dass „die gesamte meinungsbildende (und -findende) Elite in hohem Maße gedanklich eingepfercht ist; sie steht an der Grenze des Gedankenspektrums wie eine Herde von Schafen am Gatter. Sie ist oft ohne eigenes sicheres Urteil, sie hat den Bezug zu dem, was die normalen Leute umtreibt, verloren, sie hat nur ein Ohr für die Einflüsterungen einer mächtigen Lobby – oder sie hat sich durch Beratungsverträge oder Nettigkeiten auf die Seite von Konzernen und Interessenorganisationen ziehen lassen, härter gesagt: sie ist politisch bestochen und – einer ganzen Reihe ist das schon gerichtlich attestiert worden – schlicht korrupt“ (202f.). Der Autor beschreibt recht einleuchtend, wie es zur Etablierung des „Einheitsdenkens“ (Bourdieu) kommen konnte, das die Redaktionsstuben, die Wissenschaftler- und Poltikerköpfe beherrscht. Man kann das auch „zivilgesellschaftlichen Totalitarismus“ nennen.

Die Liste publizistisch und beratend tätiger Wirtschaftsprofessoren, die von Privatunternehmen bezahlt werden, ist dementsprechend durchaus eindrucksvoll (287ff.). Für das politische Führungspersonal zieht das indessen einige „Vermittlungsprobleme“ nach sich. Es fällt halt nicht leicht, den Leuten die Sinnhaftigkeit einer Politik zu verdeutlichen, vor der die große Mehrzahl nur Nachteile hat. Dem wird mit massiver Meinungsmanipulation zu begegnen versucht. Dabei spielten in Orwellscher Manier vorgenommene Begriffsverkehrungen eine wichtige Rolle. Müller führt dazu eine Reihe recht schlagender Beispiele an, so etwa die Umdeutung des Gleichheits- und Gerechtigkeitsbegriffs. Dazu kommen die notorisch falsche Berechnungen der Staatsverschuldung und ihrer Wirkungen oder die propagandistische Verwendung demografischer Daten, die – insbesondere in der Rentendebatte – den Interessen der Versicherungskonzernen in die Hände spielt.

Eine besondere Stärke des Buchs liegt darin, dass das Netzwerk der neoliberalen Propagandaorganisationen recht genau beschrieben, Namen genannt, personelle Verbindungen aufgezeigt und Geldgeber identifiziert werden (303ff.). Die Liste ist lang. Dazu gehört das von Reinhard Miegel betriebene „Institut für Wirtschaft und Gesellschaft“ (IWG), das mit dem der Deutschen Bank nahestehenden „Deutschen Institut für Altersfürsorge“ (DIA) verbunden ist und die Rentendebatte im Interesse der Versicherungsunternehmen aufheizt. Ähnlich funktionierten die auf Betreiben der Metallarbeitgeber gegründete und unternehmensfinanzierte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, der „BürgerKonvent“, „berlinpolis“, „Klarheit in der Politik“, „Stiftung liberales Netzwerk“, „Stiftung Marktwirtschaft, „Aufbruch jetzt“, „Konvent für Deutschland“ (neuerdings mit Ex-Wirtschaftsminister Clement bestückt), „Aktionsgemeinschaft Deutschland“ oder die von großen Werbeagenturen getragene Kampagne „Du bist Deutschland“. Die Aufzählung ist damit nicht beendet. Alle schmücken sich mit bekannteren PolitikerInnen, Wissenschaftsvertretern und sonst renommierten Personen der öffentlichen Lebens. Ihr gemeinsames Ziel ist die Propagierung des „schlanken Staates“, von Privatisierung und Deregulierung.

Von besonderem Interesse sind dabei die Bertelsmann- und die Bosch-Stiftung, die, mit erheblichen Finanzmitteln und Expertise ausgestattet, zu zentralen politischen Konzeptionalisierungs- und Beratungsagenturen geworden sind. Die Bertelsmann-Stiftung war wesentlich an der Ausarbeitung und Durchsetzung der „Agenda 2010“ und der Hartz-„Reformen beteiligt. Sie finanziert auch das „Centrum für Hochschulentwicklung“ (CHE), das ebenso beharrlich wie erfolgreich an der Privatisierung der Hochschulen arbeitet. Die Bosch-Stiftung tut Entsprechendes auf dem Gebiet der Familien-, Gesundheits- und Sozialpolitik. Müller stellt fest, dass damit die Gesetzesinitiative und -formulierung in wichtigen Bereichen an Privatfirmen übergegangen sei. Nicht besonders überraschend ist, dass eine große Zahl von Journalisten die Äußerungen der dort versammelten Experten nachbetet. Die Verflechtung zwischen den neoliberalen think tanks und den Medien ist eng, bis hin zu der Tatsache, dass Privatfirmen Fernsehbeiträge und Presseartikel liefern und ihre Botschaften erfolgreich in diversen Seifenopern platzieren. Müller nennt das treffend „Ideologieplacement“.

Müllers Buch macht also recht gut deutlich, wie erfolgreich in Deutschland ein neoliberales Hegemonieprojekt verwirklicht worden ist. Gleichzeitig verwahrt sich der Autor allerdings gegen verschwörungstheoretische Unterstellungen. Viel eher handle es sich um die Herausbildung eines organisatorisch untermauerten ideologischen Machtkomplexes, bei dem mehrere unabhängige Akteure kooperieren und sich gegenseitig in die Hände spielen.

Das Buch ist eine Streitschrift. Es zielt auf politische Intervention. Deshalb sucht man vergeblich nach einer Erörterung der Ursachen für die dargestellten Entwicklungen. Dazu wäre es notwendig gewesen, dem Rekrutierungsmodus und die Funktionsbedingungen der verschiedenen „Eliten“, etwa die Arbeitsbedingungen in den Medien oder die Karriereverläufe in Parteien differenzierter und genauer zu durchleuchten. Ein zentraler Mangel liegt darin, dass Müller strukturtheoretische Argumentationen strikt ablehnt und deshalb ungewollt in die Nähe von Verschwörungstheorien gerät. Sicher ist die Wirksamkeit einzelner Akteure bedeutungsvoll. Wenn aber die ihr Handeln bestimmenden gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen unberücksichtigt bleiben, entsteht ein schiefes Bild der Zusammenhänge. Der Autor hätte sich auf jeden Fall fragen müssen, was in den siebziger Jahren zur Krise der keynesianisch-staatsreformistischen Regulationsweise geführt hat. Sie ist schließlich an ihren eigenen Widersprüchen zerbrochen. Erst die Krise des Fordismus und das damit verbundene Scheitern des sozialdemokratischen Politikprojekt hat schließlich den Siegeszug des Neoliberalismus – nicht nur bei den „Eliten“, sondern in gewissem Grade bei der Bevölkerung allgemein – möglich gemacht. Erst dadurch erhielt die neoliberale Propaganda ihre materielle Basis. Die Wende der SPD hängt ganz wesentlich damit zusammen und lässt sich nicht allein mit der Inkompetenz und Korruptheit ihrer Funktionäre erklären. „Globalisierung“ wird bei Müller zu einem bloßen ideologisches Konstrukt. Der sicherlich höchst schwammige Begriff bezieht sich jedoch auch auf die Realität eines durchgreifend veränderten Akkumulationsmodus und tiefgreifend umgewälzter Klassenverhältnisse. Für Müller bedeutet die Krise des fordistischen Kapitalismus keinen historischen Bruch, sondern markiert nichts anderes als eine nicht weiter ernst zu nehmende Modifikation der alten Verhältnisse. Weil dem nicht so ist, erscheint der Appell, einfach zu alten sozialdemokratischen Konzepten zurückzukehren, nicht nur praktisch in den Wind geschrieben. Er zielt auch in die falsche Richtung.

Beim Lesen stört erheblich, dass das offenbar sehr schnell geschriebene Buch schlecht redigiert ist. Auch das Layout ist höchst mangelhaft. Publizistische Schnellschüsse gehören eben auch zum Bild der gewendeten Medienlandschaft. Mit einer etwas verwirrenden Ansammlung von Materialien und Argumenten, gespickt mit häufigen Wiederholungen, scheint es der Autor den LeserInnen überlassen zu wollen, die Grundstruktur seiner Argumentation ausfindig zu machen.

Davon abgesehen handelt es sich aber um ein informatives und lesenswertes Buch, das das Elend der herrschenden Politik nicht nur beschreibt, sondern sehr viel zu dessen Erklärung beiträgt. Über theoretische Mängel muss man hinwegsehen. Eine kritische Auseinandersetzung mit Müllers Schrift ist auf jeden Fall lohnenswert.

Albrecht Müller: Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet. Droemer Verlag München 2006, 364 Seiten, 19.90 EURO.

© links-netz Juni 2006