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Neoliberalismus und Protest Übersicht

 

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Occupy....!

Die neueste Protestbewegung

Joachim Hirsch

Nach den Protesten in Italien, Spanien und den USA gibt es nun auch hierzulande eine Art Bewegung, die sich gegen die Zumutungen richtet, mit denen uns die immer ungenierter als Handlanger des Kapitals agierenden Regierungen konfrontieren und bei denen kein Ende abzusehen ist. In mehreren Städten gab es inzwischen größere Demonstrationen und vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt wurde ein Protestcamp errichtet – mit Genehmigung des Ordnungsamts. Auf den ersten Blick erstaunlich ist dabei, dass das Echo aus der Politik und in den Medien – bis hin zur FAZ – äußerst wohlwollend war. Für die Journalisten gab es endlich etwas zu berichten, das interessanter ist als Berliner Koalitionsquerelen, das Geschwätz sogenannter Wirtschaftssachverständiger oder die Machenschaften der Anzugträger. Allenthalben wurde Verständnis gezeigt, nicht nur von Merkel und sogar von einigen Bankern, sondern auch von Seiten der Polizei, die die Demonstranten gelegentlich geradezu „lieb“ fand. Die Bevölkerung spendet Getränke und Gebäck und eine Good Bank soll sogar Duschen zur Verfügung gestellt haben. Das Geld für die Toilettenhäuschen und die Müllbeseitigung müssen die Okkupanten allerdings selber aufbringen. Das allgemeine Wohlwollen hat sicher damit zu tun, dass die Bewegung nicht nur ziemlich bunt ist, sondern sich auch weder besonders links noch radikal gibt. Was sie auszeichnet, ist erst einmal Empörung über die sich häufenden Ungerechtigkeiten und die Transparente erinnern gelegentlich eher an einen Kirchentag. Ziel der Proteste sind die Banken und die Regierungen, weniger das System, dessen Bestandteil sie sind und dessen Regeln sie folgen. Es geht darum, den Kapitalismus zu verbessern, gerechter und sozusagen wieder volksnaher zu machen. Insgesamt erscheint die Bewegung jedenfalls eher harmlos und hat auf jeden Fall wohl selbst für den Innenminister nichts mit Terrorismus zu tun. Griechische oder römische Zustände sind hierzulande kaum zu erwarten.

Es scheint tatsächlich ein neues Phänomen in der politischen Landschaft aufgetaucht zu sein, dessen Eigenheit darin besteht, nach traditionellen Maßstäben insgesamt eher „unpolitisch“ zu wirken. Das hat allerdings viel damit zu tun, dass der Verdruss über die etablierten Formen von Politik und insbesondere über die Parteien allgemein geworden ist. Diesem Umstand ist auch der erstaunliche Höhenflug der „Anti-Partei“ der „Piraten“ in den Umfragen und bei den Berliner Wahlen geschuldet. Diese profitiert nicht zuletzt von der Enttäuschung über die GRÜPNEN und die Linkspartei. Deshalb auch immer wieder die Forderung, auf den Demonstrationen sollen die Transparente von Parteien und anderen etablierten Organisationen verschwinden. Politisch gesehen scheint hier eine neue Generation am Werk zu sein, was im Übrigen keine Altersfrage ist. Zunächst einmal ist man empört, trachtet aber keineswegs nach einem Aufstand. Auch wenn von der Straße her Druck zu machen versucht wird, hält man sich an die Regeln.

Allerdings: ob harmlos oder nicht, das Wohlwollen, das den Protestierenden nicht nur aus der Bevölkerung, sondern auch von den Regierenden entgegen gebracht wird, könnte damit zu tun haben, dass ihre Aktionen sich durchaus auch als Legitimationsvehikel für letztere eignen könnten. Angesichts der Tatsache, dass in der Bevölkerung der Frust über die herrschende Politik und ihre Folgen bisher kaum gekannte Ausmaße angenommen hat und die Politik in einer offenkundigen und inzwischen auch das Parteiensystem aufmischenden Legitimationskrise steckt, kann es nützlich erscheinen, wenn es Orte gibt, an denen die Wut der BürgerInnen ein Bisschen abgelassen werden kann – sofern dabei gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Wir verstehen Euch ja, können die Regierenden sagen. Wir hören auch auf Euch, aber die Lage ist eben schwierig und wir tun unser Bestes. Wichtiger ist jedoch, dass es unvermeidlich geworden ist, dass die Politik dem Kapital einige Konzessionen abringt, wenn das angerichtete Schlamassel nicht endgültig in einer Katastrophe enden soll. Es wird daher einige der im Interesse der globalen Finanzindustrie immer wieder aufgeschobenen Finanzmarktregulierungen geben müssen. Auch eine – freiwillige!! – Beteiligung der Banken an der Abwertung der Schrottschuldenpapiere, an denen sie bisher wunderbar verdient haben, wurde inzwischen vereinbart. Dafür werden sie dann allerdings vom Steuerzahler wieder irgendwie entschädigt werden. Wie sich in den vergangenen Jahren gezeigt hat, ist die Finanzindustrie inzwischen so mächtig, dass eine weiter gehende Regulierung des Finanzsektors und eine Beteiligung der Krisenprofiteure an den Kosten derselben im normalen parlamentarischen Verfahren kaum noch durchsetzbar ist. Da ist für die Regierung eine nicht allzu radikale, aber medienwirksame Protestbewegung im Rücken durchaus hilfreich, sowohl gegenüber der Finanzindustrie als auch bei den Querelen zwischen den EURO-Staaten (hinter denen ebenfalls divergierende Finanzinteressen stehen). Auch andere Kapitalfraktionen sehen es nicht besonders gerne, dass den Banken ständig Geld nachgeschmissen wird, ohne dass sich strukturell etwas ändert. Den tatsächlichen ökonomischen Machthabern kann signalisiert werden, dass es politisch gesehen auch für sie schlimmer kommen könnte.

Noch ist allerdings ungewiss, was aus den Protesten werden wird. Ist eine Mobilisierung möglich, die weiter greift als den üblichen Parteien, Gruppen und Sekten ein Betätigungsfeld zu liefern und die über gelegentliche Demonstrationen und von der Polizei genehmigte Platzbesetzungen hinausgeht? Auch ist es ziemlich fraglich, ob via Facebook tatsächlich eine alternative politische Öffentlichkeit herstellbar ist oder flash mobs stabilere organisatorische Strukturen ersetzen können. Die Tatsache, dass Frust und Empörung inzwischen sehr weite Bevölkerungskreise erfasst haben, spricht dafür, dass der Protest dauerhafter sein und zunehmen, also wirklich zu einer Bewegung werden könnte. Genau so gut aber kann es sich um ein Strohfeuer handelt, das wie bereits andere Protestbewegungen der letzten Zeit schnell wieder erlischt.

Aber selbst wenn sie dauerhafter und stärker werden sollte, könnte sie das Dilemma der Bewegungen teilen, die schließlich auch als Vehikel gedient haben, dem Kapital und den ihm hörigen Regierungen einige Konzessionen abzuringen, nämlich Regelungen, die für das Überleben des kapitalistischen Systems notwendig sind und die diese in ihrer Borniertheit aus eigener Kraft nicht zustande bringen. Es ist bekannt, dass das Kapital und der „freie Markt“ die Neigung haben, die sozialen, ökonomischen und natürlichen Grundlagen des kapitalistischen Systems zu untergraben. Historisch gesehen waren es immer wieder soziale Bewegungen, die sich aus unhaltbaren Zuständen heraus entwickelt und dem entgegen gewirkt haben. Das hat den Kapitalismus gelegentlich vor seiner Selbstzerstörung gerettet, heutzutage jedenfalls mehr als beispielsweise auf immer neuen Finanzblasen beruhende „Rettungsschirme“. Das gilt für die Arbeiterbewegung ebenso wie für die Ökologiebewegung. Diese haben Wesentliches verändert, was die Lebens- und Arbeitsbedingungen oder das gesellschaftliche Naturverhältnis angeht, aber zugleich haben ihre Erfolge auch bewirkt, das bestehende ökonomische System überlebensfähig zu halten.

Ob die neue Protestbewegung mehr sein wird als ein kurzfristig aufscheinendes Legitimationsvehikel, ist offen. Dass dies eher unwahrscheinlich ist, liegt schon deshalb nahe, weil ihre Perspektiven zumindest derzeit noch einigermaßen kurz greifen. Natürlich sind die Regierungen unfähig, mit der Krise fertig zu werden und die globale Finanzindustrie ist insgesamt zu einem Abzockerunternehmen geworden, das sich um die längerfristige gesellschaftliche Stabilität einen Dreck schert. Die eigentlichen Ursachen der Krise liegen allerdings nicht bei den Banken oder dem Staat. Diese haben sie nur eskalieren lassen und damit der den Kapitalismus strukturell kennzeichnende Krise der Akkumulation eine spezifische Form verliehen. Nach der erfolgreich durchgesetzten neoliberalen Restrukturierung und der damit verbundenen radikalen Verschiebung der Einkommensverteilung zu Lasten der Bevölkerung findet das Kapital immer weniger Anlage- und Verwertungsmöglichkeiten im produktiven Sektor und damit verlagert sich das Profitmachen immer stärker auf das Feld der Finanzspekulation, auf dem freilich kein Mehrwert und damit auch kein realer Profit, sondern eben nur Blasen entstehen, die dann wieder zu Lasten der Bevölkerung beseitigt werden müssen – ein sich immer weiter drehender Zirkel. Gegenwärtig tritt der dem kapitalistischen Verwertungsprozess generell zugrunde liegende Widerspruch in dieser Form zutage, nämlich in Gestalt der „Finanzialisierung“ des Kapitalismus, platzenden Schuldenblasen, „Bankenrettungsaktionen“ und die darauf folgenden Krisen der Staatsfinanzen. Es bleibt die Frage, wie damit umzugehen ist, dass der Kapitalismus grundsätzlich krisenhaft ist und die gegenwärtige Misere nur eine spezifische Form ist, in der diese Krisenhaftigkeit zum Ausdruck kommt. Eine bessere Regulierung, auf die die Forderungen der Protestierenden letztendlich hinauslaufen, wird daran nichts ändern. Sie wird nur dazu führen, dass die Krise in neuen Formen zum Ausdruck kommt und einiges deutet darauf hin, dass deren Abfolge immer schneller wird. Vorstellungen über wirkliche gesellschaftliche Alternativen sind bei der neuen Protestbewegung bisher kaum zu erkennen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

© links-netz November 2011