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Schwerpunktthema: Ende der Demokratie?

 

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Das Ende der liberalen Demokratie

Joachim Hirsch

Der Begriff Demokratie hat historisch sehr Unterschiedliches bedeutet, von der antik-griechischen Herrschaft der vereinigten Sklavenhalter bis zu den modernen bürgerlich-kapitalistischen Formen. Der staatssozialistische Pleonasmus „Volksdemokratie“ verrät, dass es dabei mit der Volksherrschaft immer schon ein Problem gab. Da politische Herrschaftsformen sehr wesentlich mit den jeweils vorhandenen ökonomischen Strukturen und Klassenbeziehungen zusammenhängen, verändern sie sich mit diesen, und somit auch das, was unter Demokratie verstanden wird. Die mit der neoliberalen „Globalisierung“ verbundenen ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungen bewirken, dass sie liberalkapitalistische Demokratie, so wie sie sich im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet hat, den Charakter eines Auslaufmodells erhält. Wie einige Zeitdiagnostiker meinen, befinden wir uns bereits im Zeitalter der „Post-Demkratie“.

Zwischen der Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und der Durchsetzung der liberalen Repräsentativdemokratie besteht ein enger Zusammenhang. Mit der Auflösung feudaler Abhängigkeiten und ständischer Strukturen setzten sich Markt- und Vertragsverhältnisse durch, die den Ideen von allgemeiner Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung eine materielle Grundlage verschafften. Zugleich entstanden mit dem modernen Territorialstaat räumlich einigermaßen klar abgegrenzte Gesellschaften, relativ geschlossene ökonomische Reproduktionszusammenhänge und damit schließlich ein politisch definiertes, einer Zentralgewalt unterworfenes und mit gewissen staatsbürgerlichen Rechten ausgestattetes Volk. Dies stellt zusammen mit der Existenz einer handlungsfähigen, damit verantwortlichen und kontrollierbaren Regierung eine wesentliche Voraussetzung für die moderne Form der liberalen Repräsentativdemokratie dar. Diese musste allerdings erst mühsam erkämpft werden und blieb durch die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse in ihrer Reichweite strukturell beschränkt. Weil sich in der bürgerlichen Demokratie ökonomischer Despotismus in der Wirtschaft mit formeller politischer Gleichheit und Freiheit verbindet, wird sie durch einen grundsätzlichen Widerspruch geprägt und dieser als institutionalisierter Klassenkampf erscheinende Widerspruch bewirkt eine eigene Dynamik der politisch-sozialen Konflikte und Kämpfe. Der enge Zusammenhang von modernem Nationalstaat und bürgerlicher Demokratie bewirkt, dass sich demokratische Verhältnisse bislang nur auf einzelstaatlicher Ebene herausbilden konnten. Liberale Demokratie hat daher nie umfassende Selbstbestimmung des Volkes bedeutet, sondern beschränkte sich auf gewisse Mitwirkungsrechte kleinerer und privilegierterer Teile der Weltbevölkerung an den sie betreffenden Entwicklungen und Entscheidungen. Unter den Bedingungen der neoliberalen Transformation des Kapitalismus und des Staatensystems steht diese politische Form wieder einmal zur Disposition. Entscheidende Grundlagen demokratischer Institutionen und Verfahren sind in Frage gestellt. Angesichts der Tatsache, dass Politik immer stärker dem Diktat ökonomischer Sachzwänge unterworfen worden ist, muten Begriffe wie „demokratische Selbstbestimmung“ oder „Volkssouveränität“ heute tatsächlich einigermaßen antiquiert an.

Diese Sachzwänge sind allerdings keine Naturgesetzlichkeiten, sondern das Ergebnis politischer Strategien. Der Prozess der sogenannten „Globalisierung“ ist im Kern ein Angriff auf die demokratischen Errungenschaften, die im 19. und vor allem im Laufe das zwanzigsten Jahrhunderts erkämpft worden waren. Zu diesen gehören die Verallgemeinerung des Wahlrechts, die parlamentarische Kontrolle der Exekutive und die Durchsetzung einiger sozialer Sicherungen, ohne die reale Demokratie selbst im liberalkapitalistisch beschränkten Sinn kaum funktioniert. Neben der allmählich erstarkenden Arbeiterbewegung war es vor allem der Druck der Systemkonkurrenz nach der russischen Oktoberrevolution, der die Herrschenden zu einigen politischen und sozialen Zugeständnissen gezwungen hatte. Der auf diesem Kräfteverhältnis beruhende fordistische Kapitalismus brachte für eine Zeit lang die Vereinbarkeit von profitabler Massenproduktion, Massenkonsum und sozialer Reformpolitik. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ging diese Phase zu Ende. Die im fordistischen Sozialstaat institutionalisierten sozialen Kräfteverhältnisse erwiesen sich zunehmend als Schranke des Kapitalprofits. Es folgte die große Weltwirtschaftskrise der siebziger Jahre und mit ihr die neoliberale Gegenoffensive. Der Zusammenbruch des staatssozialistischen Lagers machte deren Erfolg komplett. Das Ziel des neoliberalen Projekts, nämlich die Schaffung eines politisch-ökonomischen Systems, das um eine Reihe demokratischer Störfaktoren bereinigt ist, war erreicht. Was nach 1989 als Beginn eines neuen demokratischen Zeitalters gefeiert wurde, erweist sich in vieler Hinsicht als das Gegenteil. Etabliert wurde ein weltweites System des neoliberalen Konstitutionalismus, d.h. ein Geflecht von internationalen politischen Institutionen, Regeln und Verfahren, die vor allem der Sicherung des Privateigentums, der Investitionsfreiheit und der Marktöffnung dienen und die der in den einzelnen Staaten institutionalisierten demokratischen Einflussnahme praktisch entzogen sind. Es hat den Anschein, als zerbreche die historische Verbindung von Kapitalismus und liberaler Demokratie mit dessen globaler Durchsetzung.

Der neoliberal transformierte Kapitalismus ist durch eine massive Tendenz zur Internationalisierung des Staates und zur Privatisierung der Politik gekennzeichnet. Dadurch wurde die traditionelle Gestalt des relativ geschlossenen Nationalstaats beseitigt und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft verschoben. Politik unterliegt sehr weitgehend dem Diktat der wettbewerbsstaatlichen Standortoptimierung und hat sich stark in den Bereich internationaler Organisationen und Verhandlungssysteme verlagert. Umfangreiche Privatisierungsprozesse und die vergrößerte Unabhängigkeit internationaler Unternehmungen vergrößern den Einfluss nichtstaatlicher Akteure, zu denen auch die demokratisch nicht kontrollierten sogenannten Nichtregierungsorganisationen gehören. An die Stelle parlamentarischer Gesetzbebungs- und Entscheidungsverfahren sind kaum durchschau- und kontrollierbare staatlich-private Verhandlungssysteme getreten. Die Politikwissenschaft, die verharmlosende Begriffe liebt, bezeichnet dies als „verhandelnden Staat“. Dadurch verwandelt sich die einzelstaatliche demokratische Apparatur – Parteien und Parlamente – in eine Instanz, die bereits feststehende Entscheidungen zu bestätigen und gegenüber den dadurch Betroffenen durchzusetzen und zu legitimieren hat. Insbesondere die Verlagerung politischer Entscheidungsprozesse auf die internationale Ebene ist ein Mittel der Entdemokratisierung. Ein Beispiel dafür ist die Europäische Union, die mit den Maastricht-Verträgen und ihrer gerade im Entstehen begriffenen Verfassung die liberalkapitalistische Wirtschaftsordnung festschreibt und demokratischer Willensbildung entzieht. Dadurch laufen die demokratischen Institutionen auf einzelstaatlicher Ebene zunehmend leer. Nicht der Staat, wie oft behauptet wird, sondern die liberale Repräsentativdemokratie wird ausgehöhlt. Die Folge ist eine Tendenz zur autoritären Verselbständigung der Staatsapparate.

Zugleich sind die sozialen Ungleichheiten durch die neoliberale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft sowohl im globalen wie im einzelstaatlichen Maßstab erheblich angestiegen. Dies wiederum treibt Migrations- und Fluchtbewegungen an und abnehmende staatlichen Spielräume für materielle soziale Integration führen zu wachsenden gesellschaftlichen Fragmentierungs- und Spaltungsprozessen. Dadurch wird die Zugehörigkeit zu einem „Staats-Volk“, d.h. der Besitz bestimmter sozialer und politischer Rechte, prekärer und umkämpfter. Somit werden zwei wesentliche Grundvoraussetzungen der liberalen Demokratie, ein in seinen Lebensumständen und Rechten relativ gleiches „Volk“ und eine verantwortliche und kontrollierbare Regierung in Frage gestellt.

Der Charakter der politischen Systeme verändert sich dadurch grundlegend. Die politisch durchgesetzte Einschränkung einzelstaatlicher Handlungsspielräume dient als Legitimationshintergrund für eine Politik der Sachzwänge, zu der scheinbar keine Alternativen bestehen. Politische Gestaltung reduziert sich auf die Anpassung an ökonomisch vorgegebene Bedingungen. Die Transformation des Staates zieht eine Internationalisierung des Legitimationsdiskurses mit sich, der die globalen ökonomischen Prozesse und die von Regierungen im Kontext internationaler Organisationen getroffenen Entscheidungen für das maßgebend erklärt, was auf einzelstaatlicher Ebene geschieht. Politische Verantwortlichkeit wird durch diese Form der „Mehrebenenpolitik“ bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Zugleich werden Alternativen zu den herrschenden Zuständen immer wirksamer ausgeblendet. Es hat sich ein „Einheitsdenken“ durchgesetzt, das das den status quo der herrschenden gesellschaftlichen Strukturen und Tendenzen für unabänderlich erklärt und politische Gestaltungsmöglichkeiten nicht mehr wahrnimmt. In dieser ideologischen Durchdringung der Gesellschaft bis in ihre kleinsten Verästelungen hinein liegt ein entscheidender Erfolg des neoliberalen Projekts.

Mit der Transformation des Staates hat sich insbesondere die Struktur des Parteiensystems erheblich verändert. Das für den Fordismus charakteristische System der „Volksparteien“, die beanspruchten, breit gestreute gesellschaftliche Interessen zu bündeln und in den politischen Entscheidungsprozessen zur Geltung zu bringen, gehört der Vergangenheit an. Die Parteien haben sich von Instanzen gesellschaftlicher Interessenartikulation und Interessenvermittlung zu medial operierenden Apparaten entwickelt, deren vorrangige Funktion es ist, politische Entscheidungen den Betroffenen zu vermitteln. Die Durchsetzung der neoliberalen Ideologie und die Transformation des Parteiensystems stehen im Zusammenhang eines mit dem Vordringen der privaten Medienindustrie und der Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechniken verbundenen Strukturwandels der Öffentlichkeit. Kommerzielle Kalküle bestimmen die verbreiteten Inhalte, die Welt- und Gesellschaftsvorstellungen immer durchgängiger. Informationsvermittlung und Kommunikation werden der Dynamik eines monopolistisch kontrollierten Markts unterworfen. Der Kampf um werbetechnisch wichtige Einschaltquoten bestimmt das Verhalten der Medien, selbst soweit sie einen formell öffentlich-rechtlichen Status behalten haben. Politische Information wird daher tendenziell zum „Infotainment“. Politische und kommerzielle Werbung gleichen sich an.

Angesichts beschränkter Spielräume für materielle Integration und der wachsenden Fragmentierung der Gesellschaft wird es für die Parteien zugleich schwieriger, sich auf spezifische soziale Gruppen und sozial-kulturelle Milieus zu stützen. Es setzt sich ein Prozess der „Individualisierung“ durch, der von den Parteien selbst weiter vorangetrieben wird. In der Folge zerbröseln Stammwählerschaften, die Mitgliederzahlen schrumpfen, parteipolitische Loyalitäten nehmen ab und Wahlorientierungen werden fluktuierender. Das politische Verhalten der Parteien wird wesentlich von taktischer Stimmaximierung geprägt. Schlagkraft und Konkurrenzfähigkeit beziehen sie vor allem aus medialer und propagandatechnischer Kompetenz. Sie werden sozusagen zum Bestandteil eines kulturindustriellen Komplexes, der durch seine Struktur die bestehenden Zustände ideologisch befestigt. Dadurch wird die aktive Beteiligung der Parteibasis bedeutungsloser und gewinnt, soweit sie überhaupt noch stattfindet, eher den Charakter eines Störfaktors. Die medial aufgerüsteten Apparate verschlingen enorme Geldsummen, die eine wachsende Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung oder von Großspenden erzeugen. Johannes Agnoli hatte schon Ende der sechziger Jahre das fordistische System der „Volksparteien“ als Erscheinungsform einer „virtuellen Einheitspartei“ bezeichnet, die grundlegende Fragen der gesellschaftlichen Ordnung und Entwicklung ausblendet, soziale Antagonismen und Herrschaftskonflikte auf personale Führungsquerelen reduziert, nicht mehr Inhalte, sondern austauschbare Personen zur Auswahl präsentiert. Diese Diagnose istin beachtlichem Maße Realität geworden. Dies wiederum ist eine wesentliche Ursache dafür, dass ein konservativ-neoliberaler Grundkonsens für die gesamte Parteienlandschaft beherrschend geworden ist.

Damit verbindet sich die Herausbildung einer abgehobenen „politischen Klasse“, d.h. einer Kategorie von BerufspolitkerInnen, die über die Parteigrenzen hinweg das Interesse an Karriere-, Positions- und Privilegiensicherung eint, sozusagen eine „Nomenklatura der real existierenden Demokratie“ (Tudyka). Parteikarrieren werden als individuelle Aufstiegswege geplant, eine erhebliche Zahl öffentlicher Ämter unterliegt der Parteipatronage und „prinzipenfester Opportunismus“ (Luhmann) wird zur individuellen Erfolgsvoraussetzung. Der Klassenbegriff hat hier durchaus seine Berechtigung, trifft doch das Kriterium der Gemeinsamkeit in der materiellen Grundlagen und in der „Lebensführung“ im Sinne von Max Weber zu. Die Geschlossenheit dieser Klasse wird durch die verschwimmenden Unterschiede zwischen den Parteien untermauert, ihre Abgehobenheit vom Wahlklientel durch die finanzielle Abhängigkeit von den Apparaten verstärkt. Dies wiederum begünstigt die Ausbreitung vielfältiger Formen der mehr oder weniger offenen Korruption. Je mehr Anpassungsflexibilität und „Ideologiefreiheit“ zum Erfolgskriterium werden, desto leichter fällt den PolitikerInnen das Akzeptieren von „Sachzwängen“. Angesichts der Dominanz bürokratischer Entscheidungsapparate und undurchsichtiger Verhandlungssysteme auf einzelstaatlicher wie internationaler Ebene besteht die Aufgabe der Parteien weniger darin, Politik zu machen, sondern zu verkaufen. Insofern haben sie den Wandel von der „Industrie-“ zur „Dienstleistungsgesellschaft“ nachvollzogen. Ähnlich wie auf den Warenmärkten werden die BürgerInnen zwar zu souveränen Konsumenten erklärt, haben aber faktisch über die Auswahl aus einem monopolistisch kontrollierten Angebot hinaus nicht viel zu sagen. Dieses erschöpft sich in Varianten im Management des status quo. Politisch bestimmend wird das Interesse der politischen Klasse, ihre Monopolstellung als Zugang zu und zur Absicherung von politischen Positionen gegen außerinstitutionelle Formen der Interessenwahrnehmung und gegebenenfalls auch gegen neu aufkommende Konkurrenten aufrecht zu erhalten. Demokratie beschränkt sich auf einen formalen Modus monopolistischer Konkurrenz, der von Selbstbestimmung weiter entfernt ist denn je.

Da wesentliche politische Entscheidungen bei Wahlen nicht zur Disposition stehen und Politik unter dem Diktat der „competitive austerity“ für größere Teile der Bevölkerung die Auferlegung von Opfern bedeutet, kommt es zu einer Veränderung der politische Integrations- und Legitimationsmuster. Im Gegensatz zur massenintegrativen „Volkspartei“ der fordistischen Ära dominiert im System der medialen Apparateparteien ein populistischer Legitimationsdiskurs, der jenseits materieller Interessenlagen an fiktive Gemeinsamkeiten appelliert und oft nationalistische und rassistische Züge aufweist. Insbesondere in den kapitalistischen Zentren verdichtet sich dies zu einem Syndrom, das man als Wohlfahrtschauvinismus bezeichnen könnte, d.h. die notfalls gewaltsame Verteidigung relativer Privilegien in einer zunehmend ungleicher werdenden Welt. Dabei werden die Grenzen zu rechtsextremen Ideologien fließend. Apelliert wird daran, dass es selbst den weniger Privilegierten der kapitalistischen Wohlstandsinseln immer noch besser geht als denen, die außerhalb leben müssen. In diesen Zusammenhang gehört die permanente Proklamation einer nicht näher spezifizierten Terrorismusgefahr ebenso wie kulturalistische Umdeutung rassistischer Stereotype und die Propagierung eines Begriffs von Menschenrechten, der faktisch die metropolitane Lebensweisen mit ihren ökonomischen Grundlagen meint. Bestimmende gesellschaftliche Leitvorstellungen sind nicht mehr staatbürokratisch garantierte soziale Sicherheit, Gleichheit und allgemeine materielle Wohlfahrt, sondern die Mobilisierung sämtlicher gesellschaftlicher Ressourcen im Kampf der Standorte. Dazu bedarf es eines starken Staats, der in der Lage ist, soziale Konflikte wenn nötig mit Gewalt zu befrieden, soziale Intereressen zu neutralisieren und Ansprüche abzuwehren. Ungleichheit gilt als ökonomisches Stimulans, das die darauf zielenden gesellschaftlichen Strukturanpassungsprozesse vorantreibt.

Eine wesentliche Grundlage dieser ideologischen und politischen Entwicklung sind die gesellschaftsstrukturellen Veränderungen, die mit der postfordistischen Transformation verbunden sind. Die sozialen Fragmentierungen, im soziologischen Sprachgebrauch gerne als „Individualisierung“ bezeichnet, haben zur Erosion sozio-kultureller Milieus und Interessenblöcke geführt. Der auf zentraler Ebene in Form sozialpartnerschaftlicher Strukturen institutionalisierte Klassenkompromiss der fordistischen Ära wird durch einen dezentralen und segmentierten Korporatismus auf betrieblicher und sektoraler Ebene ersetzt, der staatliche Bürokratien, Unternehmen, Teile der Belegschaften und fallweise auch die Gewerkschaften einbindet, soweit sie sich zu einem kooperativen Co-Management bereit finden. Dabei geht es nicht mehr um eine umfassende und sozial abgefederte Regulierung der Gesellschaft, sondern im wesentlichen um Standortpolitik in der internationalen Konkurrenz. Die politische Apparatur wird durch die Privatisierung sozialer Risiken von Ansprüchen entlastet, und dies um so mehr, je bestimmender sich individuelles Konkurrenzverhalten ausprägt und je nachhaltiger persönliches Durchsetzungsvermögen zur Leitvorstellung wird. Die Gewerkschaften werden dadurch zusätzlich geschwächt. Je weniger soziale Probleme und Konflikte im politischen Institutionensystem ausgedrückt und bearbeitet werden, desto bedeutsamer werden alltägliche Konkurrenz, Agression und Gewalt. Die Vorstellungen von Emanzipation und Wohlfahrt werden gewissermaßen privatisiert und auf den Möglichkeits- und Wahrnehmungshorizont des Markts zurückgeschnitten. Eingezwängt zwischen ökonomischem Konkurrenzdruck und scheinbar nicht mehr beeinflussbaren Bedrohungen globaler Dimension vollzieht sich eine „Innenwendung“ der Subjekte“ in der so genannten „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze). Brot und Spiele, die ein technisch hochgerüstetes Produktionssystem bereitstellt, ersetzen politische Partizipation. Handys und Computerspiele erscheinen für die persönliche Entfaltung allemal wichtiger als Stimmzettel. An die Stelle kollektiver gesellschaftlicher Gestaltung tritt privatisiertes Konkurrenzverhalten. Dies erklärt nicht zuletzt die Schwäche des Widerstandes gegen die „Reformen“, die einen systematischen Rückbau des Sozialstaates beinhalten. Der Glaube an die Wirksamkeit demokratischer Instrumente – z.B. Wahlen und Demonstrationen – schwindet. Was bleibt, ist politische Apathie oder der Versuch, Strategien des individuellen Durchkommens zu entwickeln.

Insgesamt handelt es sich dabei um eine weitreichende Ökonomisierung von Zivilgesellschaft und Staat. Der Staat erscheint als kaum beeinflussbare Dienstleistungsagentur und der Gegensatz von „Staat“ und „Gesellschaft“, der für die liberale Demokratie grundlegend war, wird eingeebnet. In der traditionellen politischen Theorie bezog sich der Begriff der Zivilgesellschaft auf einen Bereich relativ unabhängiger gesellschaftlicher Selbstorganisation. Heute scheint diese Unterscheidung und mit ihre die Figur des „citoyens“ im Verschwinden begriffen zu sein. Verbunden ist dies mit einer erheblichen Veränderung im Charakter der gesellschaftlichen Subjektivität. Der oder die UnternehmerIn, das sich selbst behauptende, sich autonom fühlende, auf kollektive Sicherungen verzichtende Subjekt wird zur Leitfigur. Marktverhalten durchdringt alle Lebensbereiche, von der Familie bis zu den Schulen und Universitäten. Das Individuum als „Unternehmer seiner selbst“ wird – nicht nur bei der Verwertung der eigenen Arbeitskraft – zur Grundfigur der sozialen Beziehungen.

Damit entwickelt sich eine neue Form der „Regierung“, einer Kombination von „Zwang“ und „Konsens“, die durch eine spezifische Verschiebung der Disziplinierungs- und Kontrolldispositive unter den Bedingungen postfordistischer Subjektivität und damit verbunden durch neue ideologische Legitimierungsstrategien charakterisiert ist. Im Vergleich zum Fordismus ist eine Tendenz zum Übergang von der „Disziplin“- zu einer Selbstdisziplinierungs- und Kontrollgesellschaft festzustellen. Der gesellschaftliche Konsens und Zusammenhalt wird nicht mehr nur durch bürokratische Disziplinierung, Unterwerfung, Moralisierung und repressive Drohung, sondern durch den Appell an Selbstverwirklichung und Selbstgestaltung „unternehmerischer“ Individuen im Rahmen der herrschenden Markt- und Konkurrenzmechanismen hergestellt. Der fordistische Diskurs des passiven, verwalteten Bürgers wird durch den des aktiven, selbstgestaltenden, „autonomen“, d.h. sich selbst kontrollierenden abgelöst, der sich sozusagen aus Eigeninteresse und zwecks Erfüllung seiner unmittelbaren Bedürfnisse den herrschenden Verhältnissen unterwirft. Davon abweichendes Verhalten wird zum Objekt einer Kontrollstrategie, die immer stärker auf „gefährliche“ Räume und Milieus zielt. Es vollzieht sich damit eine Art Entgesellschaftlichung von Gesellschaft. Dies wird, gestützt auf die Entwicklung der Bio- und Gentechnologien und deren propagandistische Verwendung, in Form einer Biologisierung und Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse untermauert. Die Manipulierbarkeit von Körper, Gesundheit, Geschlecht und Alter wird zu einem beherrschenden gesellschaftlichen Fokus. Der Vormarsch biologischer, medizinischer und sportlicher Metaphern zur Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse ist bemerkenswert. Gesundheit gilt weniger als Ergebnis geeigneter gesellschaftlicher Zustände, sondern als Leistung der Pharmaindustrie, für die Konkurrenzgesellschaft fit machender therapeutischer Dienstleistungen und gegebenenfalls geglückter Genmanipulationen – oder eben oder der Verwertung biologischer Ersatzteillager. Geschlechterdifferenzen und -ungleichheiten werden naturalisiert, soziale Ungleichheit zur Naturgegebenheit erklärt. Daraus speist sich auch ein Elitendiskurs, der diametral im Gegensatz zu demokratischen Grundvorstellungen steht. Werte wie „Gleichheit“ oder „Solidarität“ haben weitgehend ausgedient. Persönliches Schicksal wird zur Frage des individuellen Durchsetzungsvermögens und eines kompetenten Umgangs mit einschlägigen Technologien. Existenz und Entwicklung der Menschen erscheinen nicht mehr so sehr als das Produkt sozialer Verhältnisse, sondern als naturhafte und damit auch naturwissenschaftlich-technisch beherrschbare Angelegenheit.

Gesellschaftliche Fragmentierung und Individualisierung im Verein mit Privatisierung und Konkurrenzmobilisierung geht indessen mit einer vergrößerten Unkalkulierbarkeit des sozialen Verhaltens einher. Privatisierung und die Mobilisierung von Konkurrenz verbreiten Unsicherheit und Angst. Dies wiederum speist einen politischen Legitimationsdiskurs, der permanent äußere Bedrohungen konstruiert, die es staatlich zu bekämpfen gilt. Bestandteil der neoliberalen Regierungsweise ist daher ein weiterer Ausbau des Sicherheits- und Überwachungsstaates, der angesichts erweiterter technologischer Möglichkeiten qualitativ neue Dimensionen erhält und dessen Ausbreitung praktisch kaum mehr an rechtsstaatliche und auch nicht an politische Grenzen stößt, soweit er mit der Sicherung der herrschenden Lebensweise legitimiert werden kann. Konnte der Sicherheitsstaat zur Zeit des Fordismus noch wesentlich durch eine „kommunistische Bedrohung“ legitimiert werden, tritt an deren Stelle als Feindbildkonstruktion nun ein komplexes Feld von Gefährdungen und Bedrohungen, das aus Terroristen, organisierten Kriminellen und Ausländern aller Art besteht. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich der Sicherheitsdiskurs von politischer Systemgegnerschaft zu „Kriminalität“ im weitesten Sinne verschoben. Dabei verflechten sich staatliche und private Kontroll- und Überwachungsagenturen auf das Engste. Auch dies ist ein Aspekt der Privatisierung der Politik. Damit wird jedoch nicht das Ende, sondern eher noch eine vergrößerte Wirksamkeit des staatlichen „Gewaltmonpols“ bewirkt, das sich gerade dadurch einer öffentlichen Kontrolle immer stärker entzieht.

Angesichts der offenkundigen Erosion der liberaldemokratischen Systeme wird neuerdings des öfteren von einer „Krise der Repräsentation“ gesprochen, die sich in Politikverdrossenheit, Wahlabstinenz und einem generellen Vertrauensverlust der politischen Klasse äußert. Gemessen an eingangs ausgeführten demokratischen Prinzipien ist in der Tat ein erhebliches Repräsentationsdefizit feststellen. Dies muss sich allerdings für sich genommen nicht zu einer politischen Systemkrise ausweiten und hat durchaus ambivalente Wirkungen. Es beeinträchtigt zwar bis zu einem gewissen Grade die eingespielten Routinen der Parteienkonkurrenz, macht Reaktionen auf politische Entscheidungen unkalkulierbarer und hat auf jeden Fall rufschädigende Folgen für das politische Personal insgesamt. Es sorgt aber zugleich auch für eine legitimatorische Entlastung von gesellschaftlichen Ansprüchen. Auch mit verdrossenen WählerInnen oder vielleicht besser noch mit minimaler Wahlbeteiligung lässt sich regieren, solange privates Ressentiment vorherrscht und die Institutionen intakt bleiben. Vertrauensverlust macht auch politische Verantwortlichkeit überflüssig.

In diesem Kontext ist es zu einer bemerkenswerten Umdeutung des Demokratiebegriffs gekommen. Politikwissenschaftler haben die zeitgemäße These formuliert, die demokratische Qualität eines politischen Systems messe sich nicht am „input“, d.h. an der Existenz wirksamer Mitwirkungs- und Entscheidungsrechte der Bevölkerung, sondern an seinem „output“. Damit ist gemeint, dass die Ergebnisse des politischen Prozesses als akzeptabel hingenommen werden. Dies geschieht in der Tat um so leichter, je weniger es im allgemeinen Bewusstsein Alternativen gibt. Demokratie wird zu einem Modus der Mobilisierung für den permanenten Wirtschaftskrieg, zum Sammelbegriff für die in den privilegierteren Teilen der Welt herrschenden Lebensbedingungen, die nötigenfalls mittels militärischer Interventionen gesichert werden. Das wohlstandschauvinistische Syndrom bildet ihren Kern.

Das Ergebnis dieser Entwicklung ist eine Art von sanftem Totalitarismus. Er geht nicht allein von den Staatsapparaten aus, sondern wurzelt in den Strukturen der „Zivilgesellschaft“ selbst. Es erinnert durchaus an George Orwells negative Utopie, wenn zentrale Begriffe des politischen Diskurses in ihr Gegenteil verkehrt werden, also z.B. „Menschenrechte“ Profit, „Friedenssicherung“ Militärintervention, „Freiheit“ Überwachung, „Wachstum“ Armut oder „Reform“ Zerstörung bedeutet. An Orwell gemahnt auch die Inszenierung eines permanenten Kriegszustandes zwecks Legitimation der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Hannah Arendt hat schon sehr früh darauf hingeweisen, „dass die außerordentliche Gefahr der totalen Herrschaft für die Zukunft der Menschheit weniger darin besteht, dass sie tyrannisch ist und politische Freiheit nicht duldet, als dass sie jede Form der Spontaneität, das heißt das Element des Handelns und der Freiheit in allen Tätigkeiten zu ertöten droht. Es liegt im Wesen dieser furchtbaren Form der Tyrannis, dass sie ... die Möglichkeiten des Ereignisses aus der Politik auszuschalten strebt, um uns jenen automatischen Prozessen zu überantworten, von denen wir ohnehin umgeben sind“. Zwar werden „Ereignisse“ permanent produziert, aber als Inszenierungen eines politischen Showgeschäfts, die dazu dienen, relevante Entwicklungen und Zusammenhänge zu dethematisieren. Es entsteht dadurch ein „Totalitarismus der Mitte“ (Ziebura), der denjenigen, die sich mit dem „glücklichen Bewusstsein“ gesellschaftlicher Eindimensionalität (Marcuse) mit den herrschenden Verhältnissen abfinden, als einigermaßen komfortabel erscheinen mag. Abweichung und Widerstand erscheinen dagegen als vereinzelt und isoliert, demokratisches Verhalten gewinnt tendenziell den Charakter politischen Dissidententums.

Die mit der Transformation der Staaten und des Staatensystems verbundenen Entwicklungen sind nicht allein unter dem Gesichtspunkt demokratischer Prinzipien problematisch. Der kapitalistischen Marktvergesellschaftung wohnt die Tendenz inne, ihre eigenen sozialen und natürlichen Grundlagen zu zerstören. Dem wurde historisch vor allem durch die Herausbildung von Gegenkräften – sozialen Bewegungen wie die Arbeiterbewegung insbesondere – entgegengewirkt (Polanyi 1990). Schon Marx hatte in seinen Ausführungen über den Kampf um den Zehnstundentag darauf hingewiesen, dass es der Kämpfe der Arbeiterbewegung bedurfte, damit das Kapital die gesellschaftliche Arbeitskraft als Objekt einer Ausbeutung nicht ruinierte. Demokratische Strukturen sind für die Entfaltung sozialer Bewegungen eine wichtige Voraussetzung. Mit der postfordistischen Transformation von Staat und Gesellschaft und der Erosion der liberalen Demokratie auf einzelstaatlicher Ebene haben sich die Bedingungen dafür entscheidend verändert. Wenn man liberale Demokratie unter anderem als einen Mechanismus begreift, der gesellschaftliches Lernen und gesellschaftliche Reaktionsfähigkeit gewährleistet, also als eine Art institutionalisierter Selbstreflexion, so bedroht deren Erosion auf längere Sicht den Bestand der Gesellschaft insgesamt.

Diese Entwicklung ist indessen keineswegs widerspruchslos. Das neoliberale Projekt hat seine Versprechungen in keiner Weise eingelöst. Ob seine gesellschaftlichen Konsequenzen auf längere Sicht als natürlich und unabwendbar akzeptiert werden, bleibt fraglich. Die Weltökonomie weist fundamentale Instabilitäten auf, die krisenhafte Zusammenbrüche jederzeit wahrscheinlich machen. Die Schäden, die der entfesselte Markt an Natur und Gesellschaft anrichtet, sind unübersehbar. Dies und die Tatsache, dass die Propagierung von Freiheit und Selbstbestimmung von den herrschenden ökonomischen und politischen Strukturen offensichtlich dementiert wird, muss politische Folgen haben, auch wenn sie momentan noch nicht so deutlich absehbar sind. Der „Widerspruch der bürgerlichen Konstitution“, von dem Marx gesprochen hat – die prinzipielle Unvereinbarkeit von Demokratie und Privateigentum an Produktionsmitteln – lässt sich nicht völlig einebnen. Wie die Erfahrung lehrt, brauchen es Zeit, veränderte Bedingungen zu realisieren, Zusammenhänge zu erkennen und neue politische Formen und Inhalte zu entwickeln. Immerhin wird inzwischen deutlich, dass das neoliberale „Einheitsdenken“ Risse zeigt. Daraus kann politisches Handeln entstehen. Es hat sich mittlerweile eine internationale globalisierungskritische Bewegung entwickelt, die zwar recht heterogen und in ihren politischen Orientierungen noch eher diffus ist, aber einen durchaus ernst zu nehmenden Faktor im politischen Prozess sowohl auf einzelstaatlicher als auch auf internationaler Ebene darstellt. Wichtige Teile unterscheiden sich sowohl in den organisatorischen Formen als auch in den Politikvorstellungen wesentlich von traditionellen sozialen Bewegungen und befinden sich damit durchaus auf der Höhe der Zeit. Von ihrer Entwicklung wird die weitere gesellschaftliche und politische Entwicklung ganz wesentlich abhängen.

Dies steht im Gegensatz zu den zu den in gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Restmilieus noch verbreiteten Vorstellungen, die auf eine Wiederherstellung des fordistischen Sozialstaats auf nationaler Ebene zielen. Man kann davon ausgehen, dass ein solcher Versuch an den veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen scheitern muss, ganz abgesehen davon, dass dieser selbst ein System von bürokratischer Disziplinierung und Ausgrenzung mit fragwürdiger demokratischer Qualität dargestellt hat. Was not tut, ist die Entwicklung neuer, selbstbestimmter Formen der Vergesellschaftung, die den vorhandenen ökonomischen und technischen Möglichkeiten gerecht wird (siehe die Überlegungen des links-netz zu Sozialpolitik). Und es wird notwendig sein, neu zu definieren, was Demokratie auf nationaler und vor allem auch auf internationaler Ebene heißt. Es geht darum, den Demokratiebegriff neu zu definieren und dies institutionell zu konkretisieren. Zur Debatte stehen neue Formen der gesellschaftlichen Selbstorganisation, die Entwicklung einer demokratischen Produktionsöffentlichkeit, die das kapitalistische Verhältnis von „Privat“ und „Öffentlich“ überwindet, eine „Globalisierung von unten“ mit dem Ziel einer ökonomischen und politischen Dezentralisierung, die Durchsetzung von Beteiligungs- und Kontrollstrukturen auf internationaler Ebene, die dem herrschenden neoliberalen einen demokratischen Konstitutionalismus entgegen stellt, und vieles andere mehr. Dazu bedarf es theoretischer Anstrengungen und politischer Phantasie im Kontext einer sich entwickelnden demokratischen Bewegung. Angesichts der faktischen Internationalisierung von Staat und Ökonomie bedingen sich Demokratisierungsprozesse im einzelstaatlichen, regionalen und internationalen Rahmen so eng wie noch nie zuvor.

© links-netz März 2005