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Politische Dimensionen einer Theorierezeption

Die Staatstheorie von Nicos Poulantzas

Joachim Hirsch

Der griechisch-französische Theoretiker Nicos Poulantzas hat neben anderen wichtigen Schriften eine Staatstheorie vorgelegt, die nicht nur in der linken wissenschaftlichen und politischen Szene starke Beachtung gefunden hat. Bedeutungsvoll ist sie nicht zuletzt deshalb, weil sie Hinweise für politisches Handeln unter den Bedingungen der aktuellen Transformation der Staaten und des Staatensystems enthält. Gerade aus diesem Grund diente sie immer auch zur Begründung politischer Orientierungen und Strategien.

Natürlich hängt die Art und Weise der Rezeption einer Theorie immer vom historischen Kontext ab. Auch unterschiedliche nationale Kulturen und politische Konstellationen spielen eine Rolle. Dazu kommen noch andere Bedingungen, etwa die etwas schwer zugängliche Sprache von Poulantzas, manchmal auch problematische Übersetzungen. Da er sich anfänglich stark am marxistischen Strukturalismus orientierte, wurde er in Frankreich stärker wahrgenommen als in Deutschland, wo diese Theorierichtung eine weniger prominente Rolle spielte. Ähnliches gilt auch für die Auseinandersetzung mit den sogenannten Neuen Philosophen, die in der zweiten Hälfte der 70er Jahre stattfand. Diese stellten die Marxsche Theorie insgesamt unter Totalitarismusverdacht. Poulantzas engagierte sich dezidiert dagegen. Im deutschen Sprachraum hatte diese Debatte hingegen eine eher geringere Bedeutung. Die Rezeption des Poulantzasschen Werks wurde sehr stark dadurch geprägt, dass er sich infolge seines frühen Todes (1979) nicht mehr mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen auseinandersetzen konnte, die als Folge der Fordismus-Krise und der dadurch ausgelösten neoliberalen Offensive seit Ende der siebziger Jahre und der Wende von 1989 stattfanden.

Gleichwohl war der Einfluss von Poulantzas auch im deutschen Sprachraum in den siebziger Jahren stark. Hintergrund war das Scheitern der studentischen Protestbewegung und die Etablierung der fordistischen Regulationsweise mit ihren sozialintegrativen Mechanismen, gekennzeichnet durch die Einbeziehung der Sozialdemokratischen Partei in den Regierungsapparat mit der ersten großen Koalition 1966. Die Notwendigkeit einer adäquaten Staatstheorie wurde dadurch offenkundig. Es begann eine ein Jahrzehnt andauernde theoretische Debatte über den Staat. Sie wurde nicht zuletzt durch den in der Zeitschrift „Sozialistische Politik“ 1970 publizierten Aufsatz von Wolfgang Müller und Christel Neusüß über „die Sozialstaatsillusion und der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital“ eingeleitet, der eine scharfe Kritik am sozialdemokratischen Reformismus darstellte. Dies war auch der Hintergrund für die ebenfalls stark diskutierte „Transformation der Demokratie“ von Johannes Agnoli (1967). In diesem Zusammenhang wurde auch Poulantzas’ Schrift „Politische Macht und gesellschaftliche Klassen“ – auf Französisch 1968 erschienen – stärker rezipiert. Poulantzas unternahm hier erstmals den Versuch, eine systematische Theorie des kapitalistischen Staates zu formulieren. Allerdings von einem ganz anderen, nämlich strukturalistischen Ansatz her. Darauf verweist auch seine damals noch ausgeführte Kritik am „Historizismus“ Gramscis. Breites Echo fand in der Folgezeit die sogenannte Poulantzas-Miliband-Debatte, die sich an einer Rezension von Poulantzas entzündete. Die Beiträge zu dieser Kontroverse wurden 1976 auf Deutsch publiziert (Poulantzas/Miliband 1976). Wichtig war sie deshalb, weil darin grundlegende Fragen der theoretisch-methodischen Herangehensweise eine zentrale Rolle spielten. Es ging um den Gegensatz zwischen der von Miliband vertretenen, kritisch-pluralistischen und einflusstheoretischen gegenüber der Poulantzasschen, noch stark strukturalistisch geprägten Position. Von großer Bedeutung war auch die 1970 publizierte und 1973 auf Deutsch erschienene Analyse „Faschismus und Diktatur“, die bereits eine allmähliche Abkehr Poulantzas’ vom Strukturalismus markiert. Er wendet sich hier vehement gegen die damals in der Linken stark vertretene Auffassung, der bürgerliche Staat sei im Kern faschistisch und betont die Bedeutung demokratischer Kämpfe. Der bürgerliche Ausnahmestaat wurde nun zu einem zentralen Thema. Es spielte in den späteren Arbeiten eine bedeutsame Rolle. So auch in der 1977 auf Deutsch veröffentlichten „Krise der Diktaturen“ – also Griechenlands, Spaniens und Portugals. Hier untersucht Poulantzas die inneren Widersprüche autoritärer und totalitärer Regime – Widersprüche im Staatsapparat, mit denen er sich später in der „Staatstheorie“ noch ausführlicher und systematischer auseinandersetzte. Für die damals sehr lebhafte Faschismusdiskussion war „Faschismus und Diktatur“ nicht nur in Bezug auf die Entstehungsbedingungen des deutschen und italienischen Faschismus bedeutsam, sondern auch im Hinblick auf die Unterscheidung von Faschismus und anderen Formen des Ausnahmestaates. 1974 erschien schließlich „Soziale Klassen im Kapitalismus heute“. Hier beschäftigte sich Poulantzas mit den Veränderungen der Klassenstruktur im zeitgenössischen Kapitalismus. Dabei wies er insbesondere auf die der Rolle der Kleinbourgeoisie und ihr Verhältnis zur Arbeiterklasse hin. Wichtig war die These, dass Klassen nicht einfach auf der Basis sozialökonomischer Positionen bestimmt werden können, sondern sich erst im Klassenkampf herausbilden, also im Kontext ökonomischer, politischer und ideologischer Praktiken. Nicht zuletzt dies und der Verweis auf die Bedeutung der Kleinbourgeoisie implizierte eine scharfe Kritik an der Klassentheorie und Strategie des orthodoxen Kommunismus, was außerhalb Frankreichs und Italiens wegen des Fehlens einer relevanten kommunistischen Partei allerdings eine geringere Rolle spielte. Besonders wichtig waren die in dieser Analyse formulierten imperialismustheoretischen Überlegungen, insbesondere bezüglich des Verhältnisses zwischen Europa und den USA. Das war ein Thema, das in Frankreich besonders virulent war und immer wieder, z.B. in den regulationstheoretischen Analysen Agliettas, aufgenommen wurde (Aglietta 1976). Poulantzas entwickelte hier den Begriff der „inneren Bourgeoisie“, womit er den komplexen Zusammenhang zwischen der imperialistischen Vormacht USA und abhängigen kapitalistischen Ländern zu fassen versuchte. Die innere Bourgeoisie unterscheidet er von den traditionellen Kategorien der Kompradoren- bzw. nationalen Bourgeoisie. Er machte dabei auf eine Kapitalfraktion aufmerksam, die eine eigene Reproduktionsbasis im nationalen Rahmen hat und gleichwohl eng mit dem internationalen Kapital verflochten ist. Das war ein wichtiger Fortschritt in Bezug auf die Analyse aktueller imperialistischer Strukturen sowie auf die Zusammensetzung und die Veränderungen des kapitalistischen Machtblocks. Dieser Ansatz wurde allerdings erst sehr viel später, im Rahmen der Globalisierungsdebatte, im Zusammenhang mit der Internationalisierung des Staates und dem Wiederaufleben der Imperialismustheorie Ende der 90er Jahre wieder aufgegriffen (Kannankulam/Wissel 2004, Hirsch/Wissel 2010).

Wie gesagt, geriet das Werk von Poulantzas in den achtziger Jahren nach seinem Tod etwas in Vergessenheit, zumindest was die allgemeine Debatte angeht. In der 1978 erschienenen Staatstheorie beschäftigte er sich noch mit den Auflösungserscheinungen der fordistischen Formation, was dazu beigetragen haben mag, sein Werk als veraltet erscheinen zu lassen. Gleichwohl stellt seine Analyse des autoritären Etatismus einen Vorgriff auf die Veränderungen des Staates im Zuge der neoliberalen Globalisierung dar (Kannakulam 2008). Für einige theoretisch Arbeitende blieb er als Bezugspunkt dennoch unverändert wichtig. Dass er ansonsten fast in Vergessenheit geriet, hatte nicht nur damit zu tun, dass er zu den dramatischen Veränderungen der Staaten und des Staatensystems, die durch die neoliberale Globalisierungsoffensive hervorgerufen wurden, keine Stellung mehr beziehen konnte. Bedeutsam war auch, dass seit den siebziger Jahren die sogenannten neuen sozialen Bewegungen auf den Plan traten, insbesondere die Ökologie- und Frauenbewegung. Ihre Entwicklung war mit einer Rückwendung zum Parlamentarismus verbunden, exemplarisch bei den GRÜNEN. Damit schien eine kritische Staatstheorie nicht mehr aktuell zu sein. Dazu kommt, dass sich zu den Thematiken der neuen sozialen Bewegungen in Poulantzas’ Schriften nur wenig finden lässt. Die damals einsetzende Kritik an Fortschrittsoptimismus und Produktivismus bezog sich auch auf ihn. Schließlich rückten mit der Wende von 1989 und angesichts der Umwälzungen in Osteuropa die „demokratische Frage“ und der Begriff der „Zivilgesellschaft“ in den Vordergrund der politischen und theoretischen Debatten (vgl. Rödel u.a. 1989). Von einer kritischen Staatstheorie war dabei kaum mehr die Rede.

Das Wiederaufleben der Poulantzas-Rezeption seit dem Ende der neunziger Jahre hängt wiederum mit spezifischen politischen Entwicklungen zusammen, vor allem der Entstehung der globalisierungskritischen Bewegungen und der Linkspartei. Nicht zuletzt im Zusammenhang der damit wieder auflebenden Parlamentarismus- und Etatismusdebatte wurde seine Theorie wieder relevant. Dazu kamen die Veränderungen des Staates und des Staatensystems im Zuge der sogenannten Globalisierung, die neue theoretische Orientierungen erforderten. Es zeigte sich dabei, dass Poulantzas‘ Werk keineswegs veraltet war, sondern eine wichtige theoretische Grundlage für die Analyse staatlicher Transformationsprozesse, insbesondere der Internationalisierung des Staates bot. Eine Renaissance war angebrochen. Wichtige Schriften, insbesondere Auszüge aus „Klassen im Kapitalismus heute“ und die „Staatstheorie“ wurden Anfang des neuen Jahrtausends wieder aufgelegt. Dazu kamen eine ganze Reihe von Monografien und Diskussionsbänden, die sich auf Poulantzas bezogen (vgl. etwa Bretthauer u.a. 2006, Hirsch/Jessop/Poulantzas 2001).

Bemerkenswert, wenn auch für die Rezeption seiner Schriften einige Schwierigkeiten bereitend, war Poulantzas‘ ausgesprochene theoretische Offenheit. Dies bezieht sich auf seine allmähliche – wenn auch nicht völlige – Abkehr von strukturalistischen Positionen schon Anfang der siebziger Jahre, die Beschäftigung mit Gramsci, seine produktive Auseinandersetzung mit dem Poststrukturalismus, insbesondere mit Foucault, dessen relationale Machttheorie für ihn wichtig wurde, aber auch auf sein Verhältnis zur sogenannten Staatsableitungsdebatte. Kennzeichnend dafür war der 1976 von ihm herausgegebene Band „La crise de l‘État“, in dem sehr unterschiedliche Positionen zu Wort kamen.

1974 arbeitete Poulantzas ein Semester lang an der Universität Frankfurt, deren Fachbereich Gesellschaftswissenschaften ihn zur Berufung vorgeschlagen hatte. Er hat den Ruf nicht angenommen, wohl vor allem weil er doch nicht aus Frankreich weggehen wollte. Es kam aber bei dieser Gelegenheit zu intensiven Diskussionen. Dabei wurde nicht zuletzt auch sein Interesse an sozusagen hegelmarxistischen Konzeptionen – eben der sogenannten Staatsableitung – deutlich, auch wenn er diesen Punkt später nicht mehr aufgegriffen hat.

Die Rezeption des Poulantzasschen Werks im deutschen Sprachraum war deshalb kompliziert und schwierig, weil hier ein konkurrierender Ansatz große Bedeutung hatte: eben die sogenannte Staatsableitungsdebatte (vgl. dazu Holloway/Piciotto 1978). Der strukturalistischen Orientierung von Poulantzas stand diese, in der Tradition des Hegel-Marxismus und der Kritischen Theorie stehende Herangehensweise zunächst diametral entgegen. Dieser Zusammenhang ist gerade für die heutige Diskussion bedeutsam, wird aber in der Regel vernachlässigt. Das etwas missverständliche Wort Staatsableitung bezieht sich auf die Bestimmung der spezifischen politischen Form des Kapitalismus, des Verhältnisses von Politik und Ökonomie und der Besonderung – oder auch relativen Autonomie – des bürgerlich-kapitalistischen Staates aus der Art und Weise der Waren- und Mehrwertproduktion. Im Zentrum stand die Aussage, dass ein durch Privateigentum und „freien Markt“ vermitteltes Ausbeutungsverhältnis zu seiner Reproduktion die Zentralisierung des gesellschaftlichen Gewaltpotentials eine von allen Klassen getrennte Apparatur – eben den bürgerlichen Staat voraussetzt. Es ging dabei also um die bei Marx nicht ausgeführte politische Form des Kapitalismus und ihr Verhältnis zur ökonomischen, d.h. der Warenform (vgl. Hirsch 2005). An der Staatsableitungsdebatte wurde zu Recht – gerade auch von Poulantzas – kritisiert, dass sie sich auf einer sehr abstrakten Ebene bewegte, das Verhältnis zwischen Staat und Klassen ebenso im Allgemeinen hielt wie dessen innere Struktur, dass konkrete soziale Akteure ebenso wie politisch-ideologische Bestimmungen, vor allem die Frage der Hegemonie bei ihr nicht vorkamen. Emanzipatorische Politik reduzierte sich damit tendenziell auf Aufklärung ohne Verweis auf konkrete Machtverhältnisse und mögliche politische Strategien. Was indessen im Zentrum der Staatsableitung stand, nämlich die soziale Formbestimmung mit ihren Konsequenzen, spielte bei Poulantzas überhaupt keine Rolle. Dies war wohl eine Folge des strukturalistischen Erbes. Aus diesem Grunde bleiben bei ihm die „relative Autonomie“ des Staates und der Verweis auf dessen „eigene Materialität“ – also zentrale Begrifflichkeiten – theoretisch unbestimmt und haben eher den Charakter von Setzungen. Was das „Relative“ an der „relativen Autonomie“ bedeutet, bleibt jedenfalls recht unklar. Dies konnte dazu führen, den Aspekt der „Autonomie“ des Staates überzubetonen. Auf diese Weise war eine wesentlich staatszentrierte Politik legitimierbar. Poulantzas’ Begründung der relativen Autonomie mit der Arbeitsteilung, insbesondere der Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit trifft nämlich keineswegs die Spezifität der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise, sondern ist ein Kennzeichen aller Herrschaftsformen. Zwar besteht eine besondere Leistung von Poulantzas darin, den Staat als ein soziales Verhältnis aufzufassen, aber der in den sozialen Formbestimmungen liegende Kern dieses Verhältnisses bleibt unterbelichtet. Man kann daher seinem Ansatz durchaus eine Art von klassenreduktionistischer und institutionalistischer Verkürzung vorwerfen.

Dieses Problem hat bei der Poulantzas-Rezeption schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Auf seine Analysen kann nämlich die Annahme gestützt werden, dass eine grundlegende Veränderung des bestehenden Staates eine Frage von sozialen Kräfteverhältnissen innerhalb der vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen und sich auf staatlichem Terrain manifestierenden (Klassen-) Kämpfen sei, soziale Emanzipation also mittels des Staates erreichbar wäre. Dabei spielt auch eine problematische Interpretation dessen mit, was Poulantzas meint, wenn er vom Staat als einer „materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ spricht. Kräfteverhältnisse werden nicht vom oder im Staat erzeugt, sondern entwickeln sich aus gesellschaftlichen Prozessen, ökonomischen, politischen und ideologisch-hegemonialen heraus. Hier tritt das Problem zutage, dass sich Poulantzas mit der „Zivilgesellschaft“ ungeachtet seiner Bezugnahme auf Gramsci kaum beschäftigt hat.

Wie gesagt, hat sich Poulantzas für die Frage der politischen Form des Kapitalismus zwar interessiert, sich aber theoretisch nicht damit befasst. Wie man beide Ansätze verbinden könnte, haben wir mit den Überlegungen versucht, die wir „Radikalen Reformismus“ nennen (Esser/Görg/Hirsch 1994). „Radikal“ bedeutet dabei, dass es um eine praktische Veränderung der grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse gehen muss. „Reformismus“ bezieht sich darauf, dass diese Veränderung nicht von oben diktiert und erzwungen werden kann, sondern sich aus konkreten Erfahrungen, Auseinandersetzungen und Lernprozessen heraus entwickeln muss und dass dies ein langwieriger und schwieriger Prozess ist. Die herrschenden politischen Strukturen stehen dem eher entgegen. Emanzipation mittels des Staates ist eine Unmöglichkeit. Herrschaft lässt sich nicht durch Herrschaft, durch staatlichen Zwang abschaffen. Natürlich ist eine auf den Staat bezogene Politik nicht bedeutungslos, weil auf dieser Ebene Bedingungen gesetzt, soziale Kompromisse festgeschrieben und rechtliche Allgemeinheit hergestellt werden können. Eine grundlegende Veränderung der Staatsapparatur und der über sie durchgesetzten Politiken ist aber nicht nur eine Frage von Kräfteverhältnissen im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen, sondern von unmittelbar gesellschaftsverändernden Praktiken. Das heißt, dass eine in den bestehenden gesellschaftlichen Formen verbleibende Politik – parteiförmig, gewerkschaftlich oder auch von Protestbewegungen – für radikale Emanzipation zwar nicht irrelevant, aber keinesfalls vorrangig ist. Darauf verweisen nicht zuletzt die historischen Erfahrungen, die mit linken Regierungen jedweder Art gemacht worden sind. Emanzipatorische Politik muss sich also sowohl im als auch gegen den Staat entfalten. Ohne das „Gegen“, also die Entwicklung alternativer Gesellschafts- und Politikformen im Gegensatz zur und im Kampf mit der Staatsmacht bleibt sie wirkungslos.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass es nicht ausreicht, die Poulantzassche Theorie einfach nur zu rezipieren und weiterzuentwickeln. Ihre gewiss hervorragende Bedeutung wird nur dadurch fruchtbar gemacht werden können, dass man sich zugleich mit ihren zentralen Grundlagen kritisch auseinandersetzt.

Literatur

Aglietta, Michel 1976: Régulation et crises du capitalisme. L`éxperience des États-Unis, Paris

Agnoli, Johannes 1967: Die Transformation der Demokratie, in: J. Agnoli/P. Brückner, Die Transformation der Demokratie, Berlin

Bretthauer, Lars u.a. (Hg.) 2006: Poulantzas lesen. Zur Aktualität marxistischer Staatstheorie, Hamburg

Esser, Josef/Görg, Christoph/Hirsch, Joachim 1994: Von den „Krisen der Regulation“ zum „radikalen Reformismus“, in: Dies., Politik, Institutionen und Staat, Hamburg

Hirsch, Joachim/Jessop, Bob/Poulantzas, Nicos 2001: Die Zukunft des Staates, Hamburg

Hirsch, Joachim 2005: Materialistische Staatstheorie, Hamburg

Hirsch, Joachim/Wissel, Jens 2010: Transnationalisierung der Klassenverhältnisse, in: H.-G. Thien (Hg.), Klassen im Postfordismus, Münster

Holloway, John/Piciotto, Sol (Hg.) 1978: State and Capital. A Marxist Debate, London

Kannankulam, John 2008: Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus. Zur Staatstheorie von Nicos Poulantzas, Hamburg

Kannankulam, John/Wissel, Jens 2004: Innere Bourgeoisie, in: W.F. Haug (Hg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd.6 II, Hamburg

Müller, Wolfgang/Neusüß, Christel 1970: Die Sozialstaatsillusion und der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital, in: Sozialistische Politik, Nr.6/7

Poulantzas, Nicos 1973: Faschismus und Diktatur, München

Poulantzas, Nicos 1974: Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, Frankfurt a.M.

Poulantzas, Nicos 1975: Klassen im Kapitalismus – heute, Berlin

Poulantzas, Nicos (Hg.) 1976: La crise de l` Ètat, Paris

Poulantzas. Nicos 1977: Die Krise der Diktaturen, Frankfurt a.M.

Poulantzas, Nicos 1978: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, sozialistische Demokratie, Hamburg (Neuausgabe 2002)

Poulantzas, Nicos/Miliband, Ralph 1976: Kontroverse über den kapitalistischen Staat, Berlin

Rödel, Ulrich u.a. 1989: Die demokratische Frage, Frankfurt a.M.

© links-netz März 2013