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Schwerpunktthema: Ende der Demokratie? Übersicht

 

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Über Reform und Revolution

Joachim Hirsch

Wenn man einen etwas distanzierteren und nicht von den Behauptungen der wissenschaftlichen Wasserträger der Herrschenden getrübten Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände wirft, fallen einem einige Merkwürdigkeiten auf: Die Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums geht mit einer wachsenden Verarmung einher; der Druck auf Verlängerung und Intensivierung der Arbeit steigt, während gleichzeitig Massenarbeitslosigkeit herrscht; eine wachsende Menge von Leuten arbeiten daran, die Schäden zu reparieren, die die sogenannten Leistungsträger fortdauernd anrichten oder sie sind damit beschäftigt, Produkte zu erfinden und zu verkaufen, die eigentlich niemand braucht. Fortwährend werden öffentliche Güter und Dienste privatisiert, obwohl längst bekannt ist, dass die Leistungen dann schlechter und teurer werden. Die gesellschaftlichen Ungleichheiten wachsen rapide und offenbar zieht wachsender gesellschaftlicher Reichtum immer mehr Armut nach sich. Dass der Kapitalismus in irgendeiner Form sozial sein könnte, wird von den Shareholder-Managern ebenso unverhohlen wie praktisch nachdrücklich widerlegt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Kapitalismus nicht nur ein enorm krisengeschütteltes System ist, sondern allmählich in eine ökologische und gesellschaftliche Katastrophe führt, und zwar weltweit.

Es läge eigentlich nahe, angesichts dieser Zustände über eine Revolution nachzudenken. Und dennoch redet praktisch niemand mehr ernsthaft davon. Manchmal könnte man meinen, das herrschende globale Chaos markiere wirklich das Ende der Geschichte. Das hat allerdings Gründe: Die das zwanzigste Jahrhundert prägenden Versuche, die Gesellschaft durch Übernahme der Staatsmacht grundsätzlich zu verändern, sind gescheitert oder haben in einem Desaster geendet. Das gilt für die russische Revolution mit ihren Folgen, aber auch die sozialdemokratische Politik einer staatsreformistischen „Zivilisierung“ oder gar Überwindung des Kapitalismus auf parlamentarisch-demokratischem Wege. Diese hat sich spätestens mit der Krise der siebziger und achtziger Jahre als nicht realisierbar herausgestellt. Die sozialdemokratischen Parteien haben sich seither weitgehend zu neoliberalen Verteidigern des Kapitalismus gemausert. All das gibt einigen Anlass, neu und etwas grundsätzlicher über Staat und Revolution nachzudenken.

Beginnen wir mit dem Staat. Ein in der Geschichte der linken Parteien und Bewegungen weit verbreiterter Irrtum ist es, der moderne Staat sei ein im Prinzip neutrales Instrument, dessen Wirken von den unmittelbaren politischen Kräfteverhältnissen abhänge und das damit auch von emanzipativen Kräften mit dem Ziel der Gesellschaftsveränderung eingesetzt werden könne. Das ist falsch. Vielmehr ist der Staat ein integraler Bestandteil der kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst. Er ist Ausdruck der spezifisch kapitalistischen politischen Form. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass – aufgrund der Art und Weise, wie hier das Mehrprodukt produziert und angeeignet wird – der politische Gewaltapparat eine von allen gesellschaftlichen Klassen – auch der kapitalistischen – formell getrennte Gestalt annimmt. Privateigentum, die kapitalistische Form der Arbeitsteilung, das Geschlechter-, das Markt- und Geldverhältnis sind seine Grundlage. Durch die Trennung von Politik und Ökonomie sind die ökonomischen, auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruhenden Prozesse im Grundsatz staatlicher Einflussnahme entzogen. Infolge seiner Abhängigkeit vom ökonomischen Reproduktionsprozess – etwas einfacher: als Steuerstaat – ist das Staatspersonal gezwungen, diesen, also die Verwertung des Kapitals, nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Der kapitalistische Staat ist also strukturell Klassenstaat, ohne aber das unmittelbare Instrument einer Klasse zu sein. In dieser „Besonderung“ des Staates gegenüber den Klassen ist die verbreitete Vorstellung seiner Neutralität begründet. Die Funktionen des Staates werden wesentlich von der Struktur und Dynamik des Kapitalverwertungsprozesses bestimmt und sind grundsätzlich darauf angelegt, diesen zu garantieren. Kurzum: Der Staat der kapitalistischen Gesellschaft ist nicht der Sitz von Macht, sondern ein Ausdruck dahinter liegender gesellschaftlicher Machtverhältnisse.

Das Scheitern der Versuche, im Gefolge einer Revolution mit Hilfe des Staates eine sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaft zu schaffen, beweist auf der anderen Seite, dass es unmöglich ist, gesellschaftliche Beziehungen, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen mittels staatlicher Zwangsgewalt grundlegend zu verändern. Die „Diktatur des Proletariats“ hat sich in der Praxis als eine Diktatur über das gesamte Volk erwiesen. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass sich eine andere, freie und solidarische Gesellschaft nicht durch Gewalt und Zwang herstellen lässt. Auf diesem Irrtum über die Bedeutung und Rolle des Staates beruht der historische Fehlschlag sowohl sozialdemokratisch-reformistischer als auch kommunistisch-revolutionärer Politik.

Man kann sich diesen Zusammenhang verdeutlichen, wenn man die historische Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Staates betrachtet. Erst als sich bürgerlich-kapitalistische Vergesellschaftungsformen im Rahmen der feudal-absolutistischen Herrschaft entwickelt und durchgesetzt hatten, war die Zeit gekommen, mittels einer revolutionären politischen Umwälzung die kapitalistische Herrschaftsform und den modernen Staat zu etablieren. Die politische Revolution folgte in gewissem Sinne also der gesellschaftlichen. Aber die Geschichte wiederholt sich nicht einfach. Die Eigenheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft liegt darin, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass sich in ihrem Rahmen und unter ihren Bedingungen gewissermaßen von selbst alternative gesellschaftliche Beziehungen herausbilden. Vielmehr sorgt die Dynamik von Privateigentum, Kapitalverwertung, Markt und Geld dafür, dass diese systematisch unterdrückt und verhindert werden.

Gesellschaftliche Veränderung ist also kein automatischer Prozess, der irgendeiner historischen Logik folgt. Es bedarf eines bewussten politischen Handelns gegen die bestehenden Verhältnisse. Sein Ziel muss sein, die komplexen gesellschaftlichen Strukturen umzuwälzen, aus denen die bestehenden Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse hervorgehen. Das betrifft nicht nur die Eigentumsverhältnisse, sondern sehr viel weiter gehend auch die Art und Weise, wie produziert und die Arbeit geteilt wird, das Natur- und Geschlechterverhältnis, die Bewusstseinsinhalte, Wertvorstellungen und Konsumformen, kurz: die Lebensweise insgesamt. Der Kapitalismus ist den Menschen nicht äußerlich, sondern wird von ihnen durch ihr alltägliches Handeln stabilisiert und reproduziert. Veränderung muss an dieser alltäglichen Praxis ansetzen. Das ist ein schwieriges Geschäft, weil die gewohnten Lebensformen in Frage stehen und zugleich gegen die Gewalt der herrschenden Strukturen angegangen werden muss.

Statt auf staatliche Macht zu setzen, kommt es also vorrangig darauf an, die Gesellschaft „praktisch zu revolutionieren“, wie Marx das ausgedrückt hat. Man kann dies als „radikalen Reformismus“ bezeichnen, „radikal“ deshalb, weil auf die Wurzel der gesellschaftlichen Verhältnisse gezielt wird, „reformistisch“, weil dies ein langwieriger und konflikthafter Prozess ist. Es ginge um eine Selbstrevolutionierung der Gesellschaft.

Um einen derartige Prozess voranzutreiben, bedürfte es politisch-sozialer Bewegungen und in deren Zusammenhang der Entwicklung von Formen politisch-sozialer Selbstorganisation unabhängig von den bestehenden Herrschaftsapparaten. Es käme darauf an, einen Politikbegriff zu praktizieren, der das „Private“ ins Zentrum rückt. Das ist nicht neu: Ebenso wie frühere kulturrevolutionäre Bewegungen haben sich die studentische Protestbewegung, die Ökologie- die Frauen- und Alternativbewegung in den siebziger Jahren unabhängig von und gegen die bestehenden Herrschaftsapparate entwickelt. Ihr Erfolg hat dazu geführt, dass sich Bewusstseinsformen und Verhaltensweisen erheblich verändert haben. Dass sie schließlich bis zu einem gewissen Grade gescheitert sind, bedeutet nur, dass aus Fehlern gelernt werden sollte. Der Erfolg der aktuellen globalisierungskritischen Bewegungen wird auf längere Sicht entscheidend davon abhängen, ob es ihnen gelingt, jenseits der Konfrontation mit den politischen Machtapparaten die Entwicklung alternativer Lebensformen zu praktizieren und die politische Selbstorganisation voran zu treiben. Es gibt dafür keinen strategischen Masterplan, sondern es wäre notwendig, aus Erfahrungen zu lernen und Konflikte auszutragen, die aus unterschiedlichen Situationen, Lebensweisen und Interessen resultieren, nicht zuletzt auch die notwendigen theoretischen Einsichten zu gewinnen und zu verbreitern. Die heterogene und netzwerkartige Struktur, die die so genannte globalisierungskritische Bewegung aufweist, könnte dabei von Vorteil sein. Es käme vor allem darauf an, die Staatsfixierung abzustreifen, die viel zum Niedergang der sozialen Bewegungen in den kapitalistischen Metropolen beigetragen hat. Hier wäre von radikalen Bewegungen in der Peripherie, z.B. von den mexikanischen Zapatistas oder den brasilianischen Landlosen, aber auch von vielen weniger bekannt gewordenen viel zu lernen.

Ein in diesem Zusammenhang bekannt gewordenes Buch von John Holloway trägt den Titel: „Die Gesellschaft verändern ohne die Macht zu übernehmen“. Das zielt in die richtige Richtung, könnte aber missverstanden werden. Auf den Staat und die politischen Machtapparate bezogene Politik ist keinesfalls unwichtig, weil auf dieser Ebene nicht nur wichtige Bedingungen gesetzt, sondern auch erkämpfte soziale Rechte verbindlich festgeschrieben werden. Deshalb ist auch staatliche Reformpolitik ein Bestandteil des radikalen Reformismus. Sie ist aber nicht Kern und Hauptansatzpunkt emanzipatorischen Handelns. Wenn praktische Gesellschaftsveränderungen durchgesetzt werden, sich Bewussteins- und Lebensformen verändern, verändert sich auch staatliche Politik und nur auf dieser Basis können gesellschaftliche Kräfteverhältnisse verschoben werden. Staatliche Reformpolitik ist nur dann erfolgreich und kann nur dann zu nachhaltigen Resultaten führen, wenn sie durch Kräfte vorangetrieben wird, die aus veränderten Bewusstseins- und Praxisformen hervorgehen.

Gegenwärtig bildet der Kampf um öffentliche Güter ein entscheidendes Konfliktfeld. Dies resultiert aus der neoliberalen Strategie, dem Kapital umfassend und global neue Anlage- und Profitmöglichkeiten zu erschließen. Es geht aber nicht nur darum, den katastrophalen sozialen Folgen des neoliberalen Privatisierungswahns zu begegnen. Vor allem müsste es dabei auch um andere, nicht vom Markt- und Geldverhältnis bestimmte Formen der Vergesellschaftung gehen. Dabei spielt die Privatisierung des geistigen Eigentums, z.B. bei den Auseinandersetzungen um die freie Software, eine wichtige Rolle. Hier hat sich eine Form gesellschaftlicher Arbeit entwickelt, die nicht der Logik von Markt und Profit folgt und damit durchaus zukunftweisende Qualität hat. Entscheidend wäre ein Ausbau der sozialen Infrastruktur, d.h. des Angebots an öffentlichen Gütern und Dienstleistungen, die allen Menschen unabhängig von sozialem Status und Arbeitsleistung ein würdiges und gesellschaftliche Teilhabe garantierendes Leben ermöglicht – von Gesundheit, Wohnen, Verkehr bis hin zu Bildung und Kultur. Das geht weit über eine Wiederherstellung des herkömmlichen Sozialstaats hinaus und zielt auf ein anderes Verhältnis zum gesellschaftlichen Reichtum, auf andere, selbstbestimmte Lebensformen und nicht zuletzt auf demokratische Selbstorganisation. Wenn dafür gekämpft würde, gäbe es auch die Chance, dass durch die damit verbundenen Konflikte hindurch die Menschen sich selbst, ihre wechselseitigen Beziehungen und ihre Vorstellungen von einer guten Gesellschaft und ihre Lebensformen insgesamt neu definieren.

© links-netz Mai 2008