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Reformstau

Joachim Hirsch

Verkehrsstaus sind unangenehm, aber unumgänglich. Blutstaus hingegen sind gefährlich, Papierstaus eher ärgerlich. Dann gibt es noch Problemstaus, die eintreten, wenn keiner mehr weiter weiß. Mit Reformstaus ist das etwas anderes. Gemeine BürgerInnen können immerhin hoffen, dass nicht alles noch schlimmer wird, wenn der Stau zum Stop wird oder solange es wenigstens etwas langsamer geht. Ganz im Gegenteil dazu fungiert in der öffentlichen Diskussion Reformstau als Kampfbegriff, den sich diejenigen um die Ohren schlagen, die regelmäßig politisch versagen – selbst bei der Durchsetzung einer konsequent neoliberalen Politik, die ja eigentlich quer über alle Parteigrenzen hinweg fast alle im Sinn haben.

Folgt man den einschlägigen Kommentaren, so kann man sich miserabler als gegenwärtig Politik kaum mehr vorstellen. Die Rede ist von einer geballten Inkompetenz des politischen Personals. In der Tat hat man sich schon längst daran gewöhnt, dass „Reformen“ nicht mehr als ziel- und perspektivlose Demontagen, „Sparen“ das Aufreißen neuer Löcher und „Aufbrüche“ die Wiederkehr des Immergleichen auf niedrigerem Niveau bedeuten. Wenn von „Innovation“ die Rede ist, muss man das Schlimmste erwarten, „Eliteuniversitäten“ zum Beispiel, was die verbrämte Bezeichnung für die weitere Verrottung des Hochschulsystems darstellt. Überhaupt ist die Bildungspolitik ein bezeichnendes Beispiel für das, was hierzulande Politik heißt. Aus dem PISA-Schock und Ähnlichem wird allenthalben die Konsequenz gezogen, genau die strukturellen Mängel – etwa die soziale Selektivität des Bildungssystems – noch weiter zu vertiefen, die die herrschenden Zustände auszeichnen.

Davon, dass der SPD die Mitglieder und Wähler massenweise davonlaufen, profitieren die Oppositionsparteien nur aus wahlarithmetischen Gründen und nicht, weil ihnen wirklich Besseres zugetraut würde. Die „politische Klasse“ gibt wirklich ein schlechtes Bild ab. Die Frage ist, woran das liegt. Schlägt sich hier etwa schon der allseits beschworene Niedergang des Bildungssystems nieder? Oder erzeugt der politische Rekrutierungsmodus systematisch eine negative Auslese? Jedenfalls scheint er ein Personal hervorzubringen, dessen Fähigkeit sich darin erschöpft, die eigenen Interessen zu sichern und sich irgendwie durchzulavieren, ohne Konzept, ohne die Kraft zur Formulierung gesellschaftlicher Alternativen, kaum fähig, über den Tellerrand des Status Quo hinaus zu blicken. Politik wird auf Verwaltung reduziert und gesellschaftliche Gestaltungskompetenz versickert in Expertenkommissionen und immer stärker wuchernden Beraterstäben. Das nennt man dann „Verantwortung übernehmen“. Aber man sollte nicht vorschnell personalisieren. Dass sich jeden Morgen in der Zeitung vor einem ausbreitende politische Desaster hat auch strukturelle Ursachen, die in der Transformation des Staates und der politischen Institutionen im Zuge der neoliberalen Globalisierung zu suchen sind.

Diese Strategie hatte bekanntlich zum Ziel, die institutionalisierten Klassenkompromisse aufzubrechen und die in korporativen Strukturen verankerten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu verschieben, die sich in der fordistischen Nachkriegs-Ära herausgebildet hatten und die in den siebziger Jahren zunehmend zu einem Hindernis für den Kapitalprofit geworden waren. Mittels einer umfassenden Liberalisierung der Waren-, Geld- und Kapitalmärkte und der damit in Gang gesetzten Standortkonkurrenz setzten sich die einzelstaatlichen Regierungen unvermittelter dem Druck der Kapitalverwertungsinteressen aus. Hintergrund dieser Entwicklung war eine zunehmende Internationalisierung des Kapitals und der Produktion, die durch die neoliberale Restrukturierung des Kapitalismus einen weiteren starken Schub erhielt. Die damit eingeleitete „Internationalisierung des Staates“ beinhaltete eine Transformation des fordistischen, auf materiell abgestützter sozialer Integration beruhenden Sozialstaats zum „nationalen Wettbewerbsstaat“, noch verstärkt durch die wachsende Bedeutung internationaler Regulierungsorgane wie IWF, Weltbank und WTO, die als zentrale Agenturen neoliberaler „Strukturanpassung“ im Interesse des global operierenden Kapitals fungieren. Daraus entwickelte sich ein so genannter „neoliberaler Konstitutionalismus“, das heißt ein Systems von Institutionen und Verfahren, das die Verwertungsinteressen des international operierenden Kapitals als politisch nicht mehr beeinflussbaren Sachzwang erscheinen lässt. Regionale ökonomische Integrationsprozesse wie die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) und insbesondere die Europäische Union wurden zu einem wichtigen Bestandteil dieses institutionellen Arrangements.

Eine Folge dieser ökonomischen und institutionellen Reorganisationsprozesse war eine starke Veränderung der Sozial- und Klassenstrukturen. Auf der einen Seite stehen die Schwächung der Gewerkschaften, die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, soziale Marginalisierungs- und Spaltungsprozesse und zunehmende Migrationsbewegungen. Auf der anderen Seite hat die Internationalisierung des Kapitals dazu geführt, dass dieses sich zunehmend in internationalen Unternehmensnetzwerken organisiert, seine „Standorte“ flexibler bestimmen kann und dadurch den einzelnen Staaten unabhängiger gegenüber tritt. Damit verbindet sich eine verstärkte soziale Desintegration – im Soziologenjargon als „Individualisierung“ bezeichnet – mit einer Reorganisation der Kapitalistenklasse, die die Erscheinung einer „nationalen“ Bourgeoisie der Vergangenheit angehören lässt.

Die unter der Führung der USA ab Anfang der achtziger Jahre durchgesetzte neoliberale Globalisierung konnte die in der Krise des Fordismus sich manifestierenden Verwertungsschwierigkeiten zunächst einmal beheben. Die Unternehmensgewinne stiegen wieder kräftig, die Einkommensverhältnisse verschoben sich drastisch zugunsten des Kapitals, neue Anlagemöglichkeiten und Märkte wurden erschlossen, die technologische Entwicklung mit den damit verbundenen Rationalisierungen und Produktinnovationen gewann an Tempo. Dass dies mit brisanten gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen verbunden war, zeigte sich erst allmählich.

Für die herrschenden politischen Zustände sind vor allem folgende Entwicklungen wichtig:

Erstens ist die Internationalisierung des Staates mit einer starken Aushöhlung liberaldemokratischer Institutionen verbunden. Strukturell den Interessen des global operierenden Kapitals verpflichtet, sehen sich die Regierungen gezwungen, Politik nun ganz unverblümt gegen die Bevölkerungsmehrheit zu machen. Bei der aktuellen Sozialstaats – „Reform“, bei der um so stärker abgezockt wird, wer sozial schwächer und ärmer ist, zeigt sich das besonders deutlich. Das bringt natürlich erhebliche Legitimationsprobleme mit sich, deren besonderer Akzent darin liegt, dass auf parlamentarischer Ebene faktisch nur noch die verschiedenen Teile einer neoliberalen „virtuellen Einheitspartei“ agieren, die sich in ihrer politischen Programmatik kaum mehr unterscheiden. Dadurch funktioniert auch der legitimationsbeschaffende Wahlmechanismus – d.h. die Oppositionspartei(en) als das „kleinere Übel“ in Wartestellung – nur noch bedingt. Es entsteht eine strukturelle Krise der Repräsentation, die in der allseits konstatierten „Politikverdrossenheit“ ihren Ausdruck findet. Die „Partei der Nichtwähler“ wächst, was den Herrschenden zunächst einmal nur recht sein kann, aber längerfristig unkalkulierbare politische Instabilitäten in sich birgt.

Zweitens führen soziale Spaltungs- und Marginalisierungsprozesse, die Auflösung der korporativen Interessenblöcke und eine durch die Verbreitung neoliberaler Ideologie untermauerte „Individualisierung“ dazu, dass sich Politik immer weniger auf stabile Interessenformationen beziehen kann. Die planmäßige Schaffung einer Konkurrenz- und Ellbogengesellschaft, die das individuelle Privatinteresse zur bestimmenden Leitlinie hat, erleichtert zwar das populistische Gegeneinanderausspielen unterschiedlicher sozialer Gruppierungen, trägt aber zugleich das Risiko in sich, dass jede Entscheidung auf Koalitionen mächtiger Gegner stößt, die in immer neuen Konstellationen und Verbindungen auftreten. Die politische Szene wird damit zu einer Ansammlung von „Verhinderern“. Dass „gespart“ werden muss, aber auf jeden Fall immer nur bei den anderen, ist ein treffender Ausdruck des herrschenden neoliberalen Bewusstseins. Konsistente Politik lässt sich damit allerdings nur schwer machen. An die Stelle einer Ausbalancierung einigermaßen stabiler Kompromissstrukturen tritt ein permanentes Durchlavieren, ein „prinzipienfester Opportunismus“, um mit Niklas Luhmann zu sprechen. Allenthalben erscheint die Politik als blockiert und chaotisch. Eine einsehbare konzeptionellen Begründung findet man selten.

Drittens: Wenn – nach Poulantzas – die klassenspezifische Funktion des Staates darin besteht, die beherrschten Klassen zu desorganisieren und die herrschenden zu organisieren, so gelingt zwar das erstere mittels neoliberaler Konkurrenzmobilisierung und Privatisierung vorerst noch recht gut, aber die Organisierung der herrschenden Klassen, des „Blocks an der Macht“ fällt im Zuge der Internationalisierung des Kapitals zunehmend schwerer. Innerkapitalistische Rivalitäten sind schwieriger auszugleichen. Statt das Terrain zu bilden, auf dem sich eine halbwegs kohärente und auf die Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft bezogenen „Politik des Kapitals“ formulieren lässt, gerät die Staatsapparatur in die direkte Abhängigkeit von internationalen Kapitalbewegungen und verliert damit die Fähigkeit zur Gewährleistung einer gewissen politisch-sozialer Kohärenz auf einzelstaatlicher Ebene. Weil sich Teile des Kapitals in gewissem Grade von den Staaten emanzipiert haben und damit ein nur noch eingeschränktes Interesse an den dortigen politisch-sozialen Zuständen entwickeln, geht die Basis für eine Organisation stabilerer sozialer Kompromisse verloren. Damit entwickelt sich eine ökonomisch-soziale Struktur, die die Durchsetzung eines hegemonialen Projekts, d.h. die Formulierung einer materiell abgestützten und größere Teile der Gesellschaft einbeziehenden Konzeption von sozialer Ordnung und Entwicklung, äußerst schwierig macht. Die politische Situation nähert sich in gewisser Weise wieder dem durch den Kampf aller gegen alle charakterisierten Hobbes’schen Naturzustand an. Die Reaktion darauf entspricht dessen Vorstellungen: der Leviathan in Form eines sich immer mehr perfektionierenden Sicherheits- und Überwachungsstaats bläht sich auf, trägt aber zugleich alle Zeichen einer gesellschaftlichen und politischen Krise.

Viertens spielt die mit der Privatisierung der Informationsindustrie einhergehende Medialisierung der Politik eine wichtige Rolle. Angesichts einer zunehmenden Erosion der traditionellen Parteibasis und stabiler Verbandsstrukturen gewinnen die kommerzialisierten Medien eine zentrale Funktion bei der Formulierung und Vermittlung von Politik. Auf Einschaltquoten fixiert, ist deren vorrangiges Interesse jedoch nicht Information, sondern Infotainment. Politik wird zur Show, geprägt von kurzlebigen Personalisierungen und publikumswirksamen Inszenierungen. Dies erklärt die sich in immer kürzerer Frist widersprechenden PolitikerInnenäußerungen, die in Talkshows aufgetischten frechen Lügen und die Neigung, bei auftretenden größeren Problemen einfach eine andere Sau durchs Dorf zu treiben. Dass systematisch Unwahrheiten verbreitet werden – von der angeblich unvermeidbaren Leere der öffentlichen Kassen bis hin zu diversen Kriegsgründen – macht kaum noch etwas aus, weil das Gerede von gestern schon heute wieder vergessen und durch ein neues mediales Event überdeckt wird. Halbwegs rationale politische Diskussionen und Auseinandersetzungen sind schwer möglich, wenn das vorrangige Interesse der PolitikerInnen darin besteht, irgendwie und mit irgendetwas in die Schlagzeilen zu kommen. Interne Diskussionen und Überlegungen werden alsbald ausgeplaudert und mithin „zerredet“. Ein seine professionellen Standards mehr und mehr verlierender Journalismus hat immer weniger mit Information und Recherche zu tun, sondern erschöpft sich in der Verbreitung von Regierungspropaganda und ideologischen Gemeinplätzen. Der politische Diskurs hat damit die Tendenz, sich von den gesellschaftlichen Realitäten immer mehr abzuheben. Weniger Inhalte und gesellschaftliche Wirkungen denn Inszenierungseffekte bestimmen seine Inhalte.

Dass sich die politische Klasse durch stromlinienförmigen Opportunismus, Fantasielosigkeit und durch das dominierende Interesse an Karriere und materiellen Privilegien auszeichnet, hängt also sehr stark mit den bestehenden ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen zusammen. Sie ermöglichen erst das Durchschlagen von Rekrutierungsmechanismen, die den heute gängigen und sich immer ähnlicher werdenden PolitikerInnentypus hervorbringen. Im wahrsten Sinne des Wortes handelt es sich dabei um von den Verhältnissen erzeugte Charaktermasken. Aber es ist gerade dieser Typus und diese Form von Politik, die dafür sorgen, dass sich die neoliberale Agenda durchsetzen kann, mit viel Hickhack und ständigen Pannen, aber nachhaltig. Die zur Schau gestellte Inkompetenz des politischen Personals lässt Kritik irgendwie ins Leere laufen und schafft auf diese Weise Legitimation – durch Politikverdrossenheit eben. Diese Strukturen sind natürlich nicht naturgegeben, sondern politisch erzeugt und damit veränderbar. Dies allerdings ist kaum mehr aus dem politischen System selbst heraus möglich, das sich in eigentümlich selbstreferentieller Abgeschottetheit im Kreise dreht. Eine Politik, die sich gegen die angeblichen Sachzwänge des globalisierten Kapitalismus und ihre institutionellen Verdichtungen richtet, bedürfte einer breiten politischen Mobilisierung und der Herstellung übergreifenderer politisch-sozialer Koalitionen, zu denen die politische Klasse überhaupt nicht mehr fähig ist und an denen sie aus Gründen ihres Selbsterhalts auch gar kein Interesse haben kann. Daher bedarf es einer gesellschaftlichen Mobilisierung und der Entwicklung politischer Zusammenhänge außerhalb und gegen das herrschende politische System.

© links-netz März 2004