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Sanfter Totalitarismus

Gesellschaftliche und politische Dimensionen des NSA-Skandals

Joachim Hirsch

Daniel Ellsberg, der 1971 die Pentagon-Papiere veröffentlichte, damit die Lügen der US-Regierung aufdeckte und so erheblich zur Beendigung des Vietnamkrieges beitrug, hat sich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung kürzlich zum NSA-Skandal und der Situation von Snowden geäußert. Er wies darauf hin, dass gegenüber dem von den USA eingerichteten und offenbar weltumspannenden Überwachungsapparats die DDR-Staatssicherheit eher ein Waisenkind gewesen sei („Die Vereinigte Stasi von Amerika“, SZ, 11.7.2013). Das hat ihm einiges an Kritik eingetragen. Richtig aber ist, dass selbst das Netz der „inoffiziellen“ Stasimitarbeiter in keiner Weise in der Lage war, ein so umfassendes Datenmaterial über alle und bis in die privatesten Lebensbereiche zu sammeln, wie es der National Security Agency (NSA) mit PRISM etc. möglich ist. Sie verfügt heute in Kooperation mit allerhand „sozialen Medien“, also Facebook, Twitter, Youtube, Google, Microsoft & Co. über ein Vielfaches an Informationen. Mit Daten beliefert wird sie außerdem von den großen Telefongesellschaften, z.B. Vodafone. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass in den „westlichen Demokratien“ die unmittelbare Repression eine vergleichbar sehr viel geringere Rolle spielt, sieht man von tatsächlichen oder vermeintlichen Terroristen, „Verrätern“ (so wie neuerdings Snowden) oder auch mal etwas nachhaltiger und nicht nur verbal Protestierenden ab. Repression ist auch weniger notwendig, weil es eine wirklich systemgefährdende Opposition in relevantem Umfang nicht gibt und die Herrschenden ungestört weiter machen können. Was sich hierzulande immer noch als Demokratie bezeichnet, hat inzwischen die Züge eines sanften Totalitarismus angenommen.

Hatte man zunächst angenommen, die USA hätten im Geheimen und unerlaubterweise die Daten (auch) der deutschen Bevölkerung abgegriffen, so wird inzwischen immer deutlicher, dass sie durchaus mit Wissen und Beihilfe der einschlägigen „Dienste“ hierzulande gehandelt haben. Unter anderem hat der Bundesnachrichtendienst die Regierung dazu zu bewegen versucht, die Datenschutzgesetze „laxer“ auszulegen, um größere Möglichkeiten für den Austausch von Geheimdienstinformationen zu schaffen – ob mit Erfolg, bleibt natürlich im Dunkeln (Süddeutsche Zeitung, 22.7.2013). Demgegenüber behauptete Kanzlerinnenamtsminister Pofalla – von den diversen Geheimdienstchefs assistiert – gegenüber dem parlamentarischen Kontrollgremium, es gebe diese Zusammenarbeit eigentlich gar nicht und alles laufe zumindest hierzulande nach Recht und Gesetz. Überprüfen lassen sich solche Aussagen nicht, auch nicht durch die – im Übrigen natürlich selbst auch geheim tagenden – Parlamentarier. Diese erfahren in der Regel ohnehin mehr aus der Zeitung als von denen, die sie eigentlich kontrollieren sollen. Inzwischen wurde offenkundig, dass dies gelogen war – wie übrigens die Lügen der Geheimdienste und ihrer Aufseher gerade noch bis zur nächsten Presseveröffentlichung halten. Das Netz der Geheimdienste ist allumfassend und entzieht sich mehr und mehr jeder Kontrolle. Was technisch möglich ist, wird gemacht, im Zweifel ohne Rücksicht auf die Rechtslage. Und die deutsche Regierung, an ihrer Spitze die Kanzlerin, weiß angeblich von nichts. Dabei waren die Spähaktionen der USA und der mit ihnen kooperierenden Dienste schon lange, zumindest seit 1975 klar und Gegenstand parlamentarischer Debatten und sogar von Untersuchungsausschüssen (Süddeutsche Zeitung, 1.8.2013). In Wirklichkeit lassen es die politisch „Verantwortlichen“ zumindest zu, dass diese Entwicklung immer weiter vorangetrieben wird.

Ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr Grundprinzipien der liberalen Demokratie inzwischen ad acta gelegt worden sind, findet sich in Innenminister Friedrichs Äußerung, „Sicherheit“ stelle eine Art von übergeordnetem Grundrecht dar. Wenn unter der legitimatorischen Floskel „Sicherheit“ zentrale Grundrechte ausgehebelt werden können, so sind dem Wirken der Geheimdienste und damit dem Staat keine Grenzen mehr gesetzt. Dabei ist mehr als fraglich, ob der gigantische Überwachungsapparat jemals wirklich terroristische Anschläge verhindert hat. Er dient wohl auch ganz anderen Zwecken. Einiges deutet auch darauf hin, dass die aktuellen Terrorwarnungen der USA dazu dienen, der NSA-Überwachung Legitimation zu verschaffen. Das timing ist jedenfalls mehr als auffällig. Das alles erinnert an den einstmaligen Gebrauch des Begriffs „freiheitlich-demokratische Grundordnung“, der im Gefolge der studentischen Protestbewegung in den siebziger Jahren eingeführt wurde und demselben Zweck, der Außerkraftsetzung von Grundrechten diente. Komplettiert wird dies durch Merkels Rede von der „marktkonformen Demokratie“, was nichts anderes heißt als dass demokratische Prozesse und Verfahren grundsätzlich unter den Vorbehalt der Kapitalverwertung und ihrer Absicherung gestellt werden.

Ein entscheidender Zug des sanften Totalitarismus ist das veränderte Verhältnis von Privat und Öffentlich, das durch den Siegeszug der neuen Informations- und Kommunikationstechniken mit den dadurch bewirkten Verhaltensänderungen befördert wurde. Während wichtige politische Entscheidungen in obskuren Zirkeln und unter Mitwirkung mächtiger Lobbygruppen gefasst und von den Parlamenten oft nur noch abgenickt werden, wird das Private bis in kleinste Details öffentlich gemacht. Man hat ja nichts zu verbergen, heißt es üblicherweise – wohl ohne Kenntnis der Tatsache, dass einem schon ein falsches Wort in der EMail oder ein falscher Telefonkontakt auf die Terroristenliste bringen kann. Das Bedürfnis, Privatestes öffentlich zu machen, hängt wohl damit zusammen, dass man sich damit Bedeutung und Individualität verschaffen will – in einer Zeit, in der die sozialen Klone zur Massenerscheinung werden. Man gewinnt diese Bedeutung dadurch, dass man die Apparate und Programme, die man reichlich zur Verfügung gestellt bekommt, im Wortsinne „bedient“. Im Internet wimmelt es von Bloggern, die ihre Meinung zu allem Möglichen kundtun, während man eher weniger Informationen über die Dinge hat, über die sie reden.

Mit dem Verschwimmen der Trennung von Öffentlich und Privat steht ein wesentliches Prinzip der liberalen Demokratie zur Disposition. Danach ist es dem Staat verwehrt, in den privaten Bereich einzudringen. Dieser gilt als der Ort, an dem frei und ohne obrigkeitliche Kontrolle informiert, diskutiert und Interessen formuliert werden können. Daher der Schutz der Wohnung, das Telefon- und Fernmeldegeheimnis, das jüngst vom Bundesverfassungsgericht geschaffene Recht auf informationelle Selbstbestimmung – alles Rechte, die inzwischen bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt worden sind. Der Schutz der Privatsphäre sollte die Voraussetzungen für unabhängige Meinungsbildung und damit auch die Kontrolle der Regierenden schaffen. Dieses Idealbild war natürlich nie Realität, gab es doch immer schon Zensur und Überwachung. Inzwischen hat sich dieses Verhältnis aber praktisch umgekehrt: das Private wird öffentlich, sei es durch Selbstpreisgabe oder durch das Wirken der Überwachungsapparate, während das Öffentliche, die Politik, in vielfacher Weise quasi privatisiert werden. Schonung behält allein noch das Privateigentum an Produktionsmitteln, was zur „marktkonformen Demokratie“ gehört – abgesehen von der durch die Überwachungsapparate wohl massiv ausgeübten Industriespionage. Der Überwachungsskandal hat im Übrigen gezeigt, dass eine weitere Grundlage der liberalen Demokratie, nämlich die Rechtsstaatlichkeit des Regierungshandelns, immer deutlicher zur Disposition steht. Oder sie wird durch eine Gesetzgebung aufgehoben, die die Regierung und ihre Dienste zu allem ermächtigt.

Die von George Orwell für 1984 prognostizierte Vision vom „großen Bruder“ erhält erstaunliche Realität. Das reicht hin bis zur Permanenz des Krieges, der zwecks Sicherung der Herrschaftsverhältnisse geführt wird, jetzt allerdings in Gestalt des grenzenlosen, allgegenwärtigen und bis in das Privateste hinein reichenden „Kriegs gegen den Terror“. Der neue Totalitarismus kann sich (einstweilen) sanft geben, weil er die Möglichkeit hat, selbst kleine oppositionelle Ansätze zu beobachten und gegebenenfalls zu bekämpfen. Er kann dabei nicht nur mit der Tolerierung, sondern sogar mit der Mithilfe der Beherrschten rechnen. Diese bekommen immerhin viel elektronisches Spielzeug, mit dem sie sich selbst an ihrer Überwachung und Kontrolle beteiligen.

Die Totalität der Überwachung mit den neuen Kommunikations- und Datenverarbeitungstechniken hat allerdings auch ihre Kehrseite, nämlich die, dass auch sie nicht mehr so geheim bleibt. Was damals von Ellsberg noch auf Papier veröffentlicht wurde, geht jetzt dank solcher Personen wie Manning, Assange oder Snowden schneller und umfassender. „Leaks“ tauchen allenthalben auf. Deshalb auch die erbitterte Jagd, die auf solche Leute gemacht wird, um Nachahmer abzuhalten. Die Frage ist allerdings, wie öffentlich und politisch darauf reagiert wird. Angesichts des NSU-Skandals, durch den die Verflechtung der deutschen Geheimdienste mit der rechtsradikalen Szene offenkundig wurde, ging eine Zeit lang die Forderung nach ihrer Abschaffung durch die Medien. Inzwischen ist davon nicht mehr die Rede. Sie ist aktueller als je zuvor.

© links-netz August 2013