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Schwerpunktthema: Sozialpolitik als Infrastruktur

 

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Eine andere Gesellschaft ist nötig: Zum Konzept einer Sozialpolitik als soziale Infrastruktur

Joachim Hirsch

Wenn man sich vom allgegenwärtigen neoliberalen Geschwätz der Politiker und Journalisten den Blick nicht ganz verstellen läßt, dann fallen an den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen einige Merkwürdigkeiten ins Auge. So werden Jahr für Jahr mehr Güter und Dienstleistungen – das sogenannte „Sozialprodukt“ – produziert, aber gleichzeitig wächst die Zahl der Armen, werden Sozialleistungen gekappt, Renten gekürzt und die öffentlichen Haushalte auf Sparkurs getrimmt – vor allem zu Lasten der Versorgung mit öffentlichen Gütern. Dem fallen Schwimmbäder, Bibliotheken, Hilfs- und Versorgungseinrichtungen und vieles mehr zum Opfer. Obwohl wir in einer der reichsten Gesellschaften auf diesem Globus leben, verrottet das Bildungssystem. Während die Zahl der Arbeitslosen steigt, werden die noch Beschäftigten zu längerem und intensiverem Arbeiten gezwungen. In der unmittelbaren Produktion werden immer weniger Arbeitskräfte gebraucht, aber immer mehr sind damit beschäftigt, den Käufern Produkte anzudrehen, für die sie ohne die einschlägigen Werbeanstrengungen nie ein Bedürfnis entwickelt hätten. Das nennt sich Dienstleistungsgesellschaft. Die Folge davon ist, dass der Krach anschwillt, die Landschaften weiter zubetoniert werden und die Müllbeseitigung einen wachsenden Teil der gesellschaftlichen Arbeit absorbiert. Dass der Kapitalismus ein System ist, das Reichtum dadurch erzeugt, dass systematisch und in vielfacher Hinsicht Armut geschaffen wird, ist augenfälliger denn je.

Der Kapitalismus mag eine historische Rechtfertigung gehabt haben, als es darum ging, die Menschen aus ihrer unmittelbaren Abhängigkeit von der Natur, von Mühsal und Elend zu befreien und die gesellschaftlichen Produktivkräfte so zu entwickeln, dass es eigentlich keine materielle Not mehr geben müsste. Halbwegs wurde dieser Zustand in einigen Teilen der Welt durch die Kämpfe sozialer Bewegungen um die Verbesserung der Lebensbedingungen verwirklicht, die dem Kapital bekanntlich mühsam abgerungen werden muss und keinesfalls eine selbstverständliche Folge des Wirkens der Marktkräfte darstellt. Im Gegenteil: wie Karl Polanyi gezeigt hat, zerstört das kapitalistische Markt- und Konkurrenzsystem aufgrund seiner Funktionslogik notwendigerweise seine eigenen natürlichen und menschlichen Grundlagen, solange organisierte gesellschaftliche Kräfte dem keinen Einhalt gebieten. Nicht zuletzt als Folge der Kämpfe der Arbeiterbewegung ist eine Stufe gesellschaftlicher Produktivität erreicht worden, in dem die erzwungene Arbeit (fast) aller nicht mehr die Bedingung des materiellen Überlebens darstellt. Marx hat einmal gesagt, dass eine Produktionsweise dann historisch überlebt ist, wenn die Produktionsverhältnisse zur Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte werden. Nun kann man sicher nicht sagen, dass die Entwicklung der Produktivkräfte nachgelassen hätte. Im Gegenteil: immer neue Technologien werden entwickelt, völlig neue Produkte auf den Markt geworfen, es wird vehement rationalisiert und die Fähigkeiten eines Teils der Arbeitskräfte steigen an. Gleichzeitig werden allerdings andere zu immer stupideren Arbeiten gezwungen. Das Problem ist also nicht die Entwicklung der Produktivkräfte an sich, sondern der sich immer deutlicher abzeichnende Umstand, dass sich damit auch ihre Zerstörungskraft potenziert, indem die natürlichen Lebensbedingungen degradiert und im permanent angeheizten Wettlauf von mehr Arbeit für mehr Konsum von immer weniger Nützlichem und Notwendigem ein vernünftiges und halbwegs selbstbestimmtes Leben fast unmöglich wird. Genau genommen sind wir alle zum Anhängsel einer technisch-ökonomischen Maschinerie geworden, die wir scheinbar nicht mehr zu beeinflussen vermögen. Dieses Zwangsverhältnis ist es vor allem, das eine sich ausbreitende Resignation erzeugt, die Vorstellung verstärkt, dass ohnehin nichts zu machen sei und dass die Teilnahme an demokratischen politischen Verfahren kaum noch eine Wirkung verspricht. Was ein gutes Leben ist, bestimmen längst nicht mehr wir selbst, sondern Finanzjongleure, Marketingstrategen und Produktdesigner.

Nun könnte man sagen, warum sollte das verändert werden, wenn die Menschen damit zufrieden sind? Das „glückliche Bewusstsein“, von dem Marcuse gesprochen hatte und das die EventshopperInnen erfüllt, wer wollte es den Leuten mit welchem Recht austreiben wollen? Das Problem ist, dass die Kommerzialisierung des Lebens im allgemeinen Durchmarsch des Markts auch weniger schöne Kehrseiten hat. Die materielle Armut in der Welt und der dadurch verursachte Komplex von Gewalt, Krieg und Flucht lassen sich vielleicht vergessen, solange es gelingt, die Grenzen der Wohlstandsfestungen halbwegs geschlossen zu halten und militärisch einzugreifen, wenn es für die Verhältnisse hierzulande gefährlich wird. Zumal gelegentliche mildtätige Spenden das Gewissen zu beruhigen vermögen. Unmittelbarer spürsam ist jedoch, dass auch in den reichen Metropolen die Prekarisierung aller Arbeitsverhältnisse voranschreitet, die sozialen Unsicherheiten und Ungleichheiten dramatisch anwachsen und die individuellen Biographien immer unvermittelter dem Diktat des Markts und der Konkurrenz unterworfen werden. Dabei schwinden viele der Bedingungen, die für eine vernünftige Gestaltung des Lebens notwendig sind.

Um noch einmal auf Marx zurückzukommen. Der hatte gesagt, dass das Kapital sich nicht mehr verwerten kann, wenn die notwendige Arbeit infolge des technischen Fortschritts auf ein Minimum reduziert wird. In seiner optimistischen Sichtweise bedeutete dies die Selbstaufhebung des Kapitalismus und die Möglichkeit zur Schaffung einer kommunistischen Gesellschaft. Diesem Zustand sind wir – zumindest was die technischen Möglichkeiten angeht – tatsächlich recht nahe gekommen. Die bestehende Produktionsweise kann nur noch durch planmäßig hergestellten Verschleiß, Verarmung und mannigfaltige – strukturell über den „Markt“ oder durch gesetzliche und administrative Manöver durchgesetzte – Arten von Arbeitszwang aufrecht erhalten werden. Dies ist der Hintergrund dafür, dass das kapitalistische System in vielfacher Hinsicht immer offener gewaltförmig wird. Die von Marx erhoffte „wirkliche Bewegung“, die diesen Zustand aufheben könnte, ist freilich nicht in Sicht. Der herrschende Vergesellschaftungsmechanismus scheint dies umso mehr zu verhindern, je deutlicher seine Irrationalität zu Tage tritt. Sollte man sich damit abfinden? Reicht es aus, sich mit einzelnen Reparaturmaßnahmen zu begnügen? Ist es nicht an der Zeit, über eine grundsätzlich andere Einrichtung der Gesellschaft nachzudenken?

Dies heißt vor allem, sich vom Denken in den Kategorien der „Waren- und Arbeitsgesellschaft“ zu verabschieden, das die gesellschaftlichen Vorstellungen beherrscht. Die Gesellschaft hat zumindest hierzulande einen Zustand erreicht, in dem der allgemeine Arbeitszwang und der damit verbundene Zirkel von Arbeit, Leistung und Kompensationskonsum sich entscheidend gelockert hat. Er gilt in den Metropolen des Weltkapitalismus für ein zunehmend kleineres Segment der Gesellschaft. Dort wird mit Hochdruck gearbeitet und konsumiert. Der Rest wird zur Lohnarbeit nicht zugelassen und in verschiedenen Formen und Graden sozial ausgeschlossen. Zugleich wird den Ausgeschlossenen eingeredet, sie seien selbst schuld. Sie müssten sich nur mehr anstrengen, um einen der Arbeitsplätze zu bekommen, die gerade wegrationalisiert werden. Anstelle dieses Unfugs, zu dem die Widersprüchlichkeit des Kapitalismus führt, wäre es durchaus möglich, die Lockerung des Arbeitszwangs vernünftig zu gestalten und zu einem besseren Leben für alle zu nutzen. Es gilt, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich Tätigkeiten besser entfalten können, die von Markt nicht honoriert werden, aber nützlich und weniger entfremdet sind und die die – nicht zuletzt natürlichen – Lebensbedingungen nicht weiter ruinieren. Es kommt vor allem darauf an, zu erkennen, dass in einer hoch produktiven und arbeitsteilig verwobenen Gesellschaft die einzelne Lohnarbeit nicht mehr der Maßstab eines vernünftigen und abgesicherten materiellen Wohlergehens sein muss und kann. Die kapitalistische Markt- und Konkurrenzgesellschaft hat sich historisch überlebt. Die gesellschaftlichen Möglichkeiten lassen es zu, eine „soziale Infrastruktur“ zu entwickeln, die allen ein auskömmliches Leben ohne Arbeitszwang sichert. Das heißt einiges mehr als Grundsicherung im Sinne eines garantierten Mindesteinkommens im Rahmen sonst gleichbleibender Verhältnisse. Der Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von kollektiver Produktion und kollektivem Konsum muss neu justiert werden. Dazu gehört vor allem, das Angebot an öffentlichen Gütern und Dienstleistungen grundsätzlich zu erweitern. Lohnarbeit wird es nach wie vor geben, soweit die Bedürfnisse über diese individuelle und kollektive Grundversorgung hinaus gehen. Sie kann dann aber vernünftigere und menschlichere Formen annehmen.

Entsprechende Debatten, soweit sie überhaupt geführt werden, enden in der Regel damit, dass die „Systemfrage“ gestellt wird. Dies ist einigermaßen müßig und unfruchtbar. Es gibt nicht „den“ Kapitalismus. Dieser kann, wie die historische Erfahrung lehrt, entsprechend der sich in ihm entwickelnden sozialen Kräfteverhältnisse recht unterschiedliche Gesichter annehmen. Es kommt vielmehr darauf an, sich endlich auf der Höhe der Zeit zu bewegen, sich einen neuen, den herrschenden Zuständen entsprechenden Begriff von Gesellschaft anzueignen und diesen schrittweise – zweifellos in Form heftiger sozialer Auseinandersetzungen – praktisch werden zu lassen. Das steht hinter den Überlegungen, die wir mit dem Konzept von „Sozialpolitik als soziale Infrastruktur“ verfolgt haben. Es ist keine Blaupause für eine andere Gesellschaft, sondern soll ein Vorschlag sein, einmal ganz anders über die Gesellschaft, über die Entwicklung neuer Formen der Vergesellschaftung und über veränderte gesellschaftliche Institutionen nachzudenken. Wenn dieses Nachdenken schrittweise praktisch würde, wenn es gelänge, dem herrschenden Bewusstsein andere Dimensionen zu verleihen, wäre dies zweifellos folgenreich.

© links-netz Oktober 2003