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Ypsilanti, Clement und das Dilemma der SPD

Joachim Hirsch

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands verfügt schon über ein merkwürdiges Personal. Beispielsweise den Berliner Finanzsenator Sarrazin, der immer neue Ratschläge zur Absenkung des Existenzminimums verbreitet, oder den Verkehrsminister Tiefensee, der es ganz richtig findet, dass Mehdorn die Fahrgäste weiter abzockt, um die Aktionäre der privatisierten Bahn AG zu beglücken. In letzter Zeit wurde das politische Erscheinungsbild der SPD vor allem durch Affären bestimmt, die sich auf zwei Personen konzentrierten: Wolfgang Clement und Andrea Ypsilanti. Clement, dem von einem Energiekonzern bezahlten Atomlobbyisten, drohte vorübergehend der Parteiausschluss. Grund dafür war sein Aufruf, bei der letzten Landtagswahl in Hessen die eigene Partei wegen ihrer Atomenergiepolitik nicht zu wählen. So etwas wird üblicherweise als parteischädigendes Verhalten gewertet und insoweit war der Spruch der NRW-Schiedskommission völlig korrekt. Die Partei insgesamt brachte er indessen erheblich ins Schlingern. Die Berliner Parteigrößen wollten ein Parteiausschlussverfahren auf jeden Fall verhindern. Clement musste unbedingt gehalten werden. Deshalb wurde er schließlich dazu gebracht, seinen Wahlaufruf ziemlich halbherzig zu „bedauern“. Weder gab es eine Entschuldigung noch die Zusicherung, so etwas nicht mehr zu tun. Den Parteigremien reichte das schon, das Verfahren einschlafen zu lassen. Gleichzeitig setzt die Berliner Führungsriege der Partei Ypsilanti massiv unter Druck, sich nicht von der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen und damit in Hessen den Wahlverlierer Koch abzulösen. Zugunsten von Clement wurde dessen „Lebensleistung“ ins Spiel gebracht, die immerhin ganz wesentlich darin besteht, der SPD horrende Mitglieder- und Wählerverluste beschert zu haben. Ypsilanti hingegen wird ein „Wählerbetrug“ angelastet, weil sie vor der Hessen-Wahl dummerweise verkündet hatte, mit der Linkspartei nicht verhandeln zu wollen. Damals galt noch die Strategie, diese Konkurrenz auf jeden Fall aus den westdeutschen Landtagen heraus zu halten. Das ist missglückt und nun hat sie und mit ihr die gesamte SPD den Salat. An sich sind gebrochene Wahlversprechen hierzulande an der Tagesordnung, nicht zuletzt bei beiden Regierungsparteien. Man denke nur an die Mehrwertsteuererhöhung nach der letzten Bundestagswahl. Dass in diesem Fall eine aufgeregte öffentliche Debatte inszeniert wird, deutet darauf hin, dass es um etwas ganz anderes geht.

Mit einem hatte der notorische Besserwisser Clement nämlich wirklich recht: In beiden Fällen geht es für die SPD um eine Richtungsentscheidung. Sie steht vor der Alternative, ihren vor allem mit den Hartz IV – „Reformen“ und jetzt mit der Person Clement verbundenen Kurs zu ändern oder eine Politik weiter zu betreiben, die sich gegen große Teile ihrer Mitglieder- und Anhängerschaft richtet und damit weitere massive Wahlverluste nach sich ziehen muss. Die Führungsriege hat sich dazu entschieden, letzteres zu tun. Deshalb wurde Clement gehalten und soll Ypsilanti ausgebremst werden. Nach einigem Schlingern hat die Partei Flagge gezeigt – wenn Ypsilanti auch vorläufig noch „stur“ bleibt.

Man kann sich allerdings fragen, wieso die SPD eine Politik betreibt, die in ein absehbares Desaster führen muss. Der Parteispitze ist dies wohl durchaus bewusst. Dass sie es dennoch tut, hat seinen Grund in einem grundsätzlicheren strategischen Dilemma. In der Öffentlichkeit wird die Befürchtung lanciert, eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit der Linkspartei könnte zu einer Re-Sozialdemokratisierung der SPD führen. Schon diese Möglichkeit bedeutet offenbar, dass sie sich damit frontal gegen die hierzulande wirklich Mächtigen stellten würde. Sie würde sich in diesem Falle nicht nur mit dem gesamten Unternehmerlager anlegen, sondern hätte darüber hinaus die herrschende Presse fast ausnahmslos gegen sich – man schaue nur das permanente Gegeifere des „Spiegel“ in dieser Sache an. Dabei spielt es auch keine Rolle, dass es auf Länderebene bereits öfter Tolerierungsabkommen und sogar Koalitionen mit der Linkspartei oder damals noch der PDS gegeben hat und gibt. Angesichts der unsicheren Mehrheitsverhältnisse geht das Gespenst einer „rot-roten“ Koalition auf Bundesebene um. Schon diesen Anschein zu wecken, traut sich die Parteiführung nicht zu. Es spielt dabei auch keine Rolle, dass eine Einbindung der Linkspartei in die „Regierungsverantwortung“ nach allen Erfahrungen dieser am ehesten die Proteststimmen kosten könnte, von denen sie bislang vor allem zehrt und die Konkurrentin links von ihr viel mehr neutralisieren könnte als ein strikter Abgrenzungskurs.

Für die SPD geht es gar nicht um die Wahl zwischen möglichen politischen Optionen. Ihre Politik lässt sich nur begreifen, wenn man die hierzulande tatsächlich bestehenden Machtverhältnisse berücksichtigt. Eine Konfrontation mit dem herrschenden Machblock und seinen ideologischen Wasserträgern könnte die Partei nur durchstehen, wenn ihr eine breite Mobilisierung sowohl ihrer Mitgliedschaft als auch der Bevölkerung für eine andere Politik gelänge. Dazu hat sie sich aber längst aller Möglichkeiten beraubt. Die Parteiorganisation ist zu einem politisch nicht mehr aktivierbaren Anhängsel der Regierung degeneriert und durch ihre permanent gegen die Interessen einer Bevölkerungsmehrheit geführte Politik hat die SPD ihre Glaubwürdigkeit weitgehend eingebüßt. Mehr als taktisches Verhalten traut ihr niemand mehr zu. Zusammen genommen heißt das, dass ein Schwenk zu einer auch nur dem Anschein nach etwas mehr „sozialdemokratischen“ Politik ins Desaster führen könnte. So ist der Entschluss zu verstehen, den jetzigen und offenkundig in den Untergang führenden Kurs entschlossen beizubehalten. Dabei mag die Hoffnung eine Rolle spielen, dass irgendetwas passieren könnte, das die Verhältnisse wieder ändert, etwa dass die sich verschärfende ökonomische Krise neue Bedingungen schafft. Abgesehen davon: auch mit 20 % Stimmanteil könnte man eventuell Regierungspartei bleiben, wenn die Parteienlandschaft weiter zerfasert. Schließlich geht es allen Parteien unabhängig von allen Inhalten wesentlich nur noch um dieses Ziel.

Einsichtigere Kommentatoren haben die Befürchtung geäußert, dass der Niedergang der SPD die politische Stabilität der BRD ernsthaft bedrohen könnte. Da ist etwas dran. Zumindest das ohnehin gravierende Legitimationsdefizit der herrschenden Politik würde dadurch weiter vergrößert. Die Selbstdemontage der SPD lässt auf absehbare Zeit allerdings kaum noch eine Alternative übrig. Franz-Josef Strauß hatte in seiner berühmten „Sonthofen“-Rede gemeint, die parteipolitischen Kräfteverhältnisse würden sich hierzulande nur dann ändern, wenn es zu einem allgemeinen ökonomischen und gesellschaftlichen Desaster käme. Man muss nicht solchen Untergangsszenarien anhängen, um zu hoffen, dass aus der Konkursmasse des sozialdemokratischen Projekts, zu der im weiteren Sinne auch die Linkspartei gehört, sich wieder etwas Neues entwickeln könnte. Das wird allerdings nicht von selbst passieren, sondern erfordert Zeit und vor allem wesentliche politische Neuorientierungen bei all denen, die meinen, dem herrschenden politischen und gesellschaftlichen Katastrophenkurs Einhalt gebieten zu müssen.

© links-netz August 2008