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Anmerkungen zur linken Leidenschaft für den Staat

Joachim Hirsch

Der etwas pathetische Titel einer kürzlich veranstalteten Tagung lautete „Leidenschaft der Kritik“. Damit war kritische Theorie im weiteren Sinne gemeint. Man kann das Thema etwas erweitern: Gibt es gerade bei den Linken möglicherweise noch andere Leidenschaften, z.B. für den Staat? Und untergräbt die Leidenschaft für den Staat möglicherweise die Fähigkeit zur Kritik? Es mag zunächst etwas merkwürdig klingen, Linken ein besonderes und gar emotionales Verhältnis für den Staat zu unterstellen. Dennoch ist zumindest ihre Nähe zum Staat offenkundig. Dies haben sie mit den Konservativen gegen die (Neo-) Liberalen gemeinsam. Gilt doch auch ihnen der Staat irgendwie als so etwas wie die Verkörperung des gesellschaftlich Allgemeinen – obwohl genau das Marx noch als Illusion bezeichnet hatte.

Eigentlich sollte man vor der oder den „Linken“ allerdings nicht sprechen. Bekanntlich gibt es recht verschieden orientierte Menschen und Gruppen, die sich als links bezeichnen oder bezeichnet werden. Angeblich gibt es sogar linke Sozialdemokraten oder auch Grüne. Die Methode alles, was irgendwie links ist, in einen Topf zu werfen, dient häufig dazu, mit Diffamierungsabsichten den Sack zu schlagen und den Esel zu meinen, also von den einen auf alle zu schließen. Dennoch gibt es natürlich gewisse Gemeinsamkeiten. Ich beziehe mich hier zunächst einmal auf wichtigere Strömungen innerhalb des linken Spektrums.

Grundsätzlich ist bei Linken ein etwas ambivalentes Verhältnis zum Staat festzustellen. Das ist nicht weiter überraschend, handelt es sich beim Staat doch um ein recht vertracktes Ding, oder besser gesagt: um ein sehr kompliziertes gesellschaftliches Verhältnis. Er wird einerseits als Instrument und Ausdruck bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft kritisiert und bekämpft. Zugleich gilt er aber auch als bedeutendes gesellschaftliches Kampffeld. Hin und wieder wird er sogar als Instrument gesellschaftlicher Emanzipation betrachtet. Bei den Anarchisten – die immerhin ja auch Linke sind – ist das sehr viel eindeutiger. Es wäre eine interessante Frage, warum es bis heute eigentlich keine ernsthafte Auseinandersetzung der sich auf Marx beziehenden Linken mit dem Anarchismus gibt. Das könnte auch mit einer gewissen Problemvermeidung zu tun haben.

Dagegen, den Staat als Emanzipationsinstrument zu begreifen, sprechen natürlich einige historische Erfahrungen. Die zwei großen, mit entsprechenden Ansprüchen aufgetretenen Staatsprojekte des 20.Jahrhunderts sind gescheitert: der sowjetische Staatssozialismus im Gefolge der russischen Revolution ebenso wie der sozialdemokratische Reformismus, der seinen Höhepunkt im Fordismus der Nachkriegszeit hatte. Man kann auch an die Probleme vieler linker Regierungen erinnern, derzeit etwa wieder in Lateinamerika – und nicht allein im besonderen Fall Venezuela. Und da gibt es noch Chinas KP, die sich zwar auf die marxistischen Klassiker beruft, aber einen ziemlich wilden neoliberalen Staatskapitalismus praktiziert. Immerhin hat man aus der Geschichte inzwischen gelernt, dass eine bloß staatsförmige Politik oder gar eine autoritär durchgesetzte sogenannte Diktatur des Proletariats keine brauchbaren Wege zur gesellschaftlichen Befreiung sind. Dennoch bleiben staatsreformistische Vorstellungen immer noch wirksam, heute z.B. im Umkreis von und im Zusammenhang mit der Linkspartei – wie einstmals bei den Grünen. Die SPD hingegen hat sich wohl von einem ernstgemeinten, nämlich auf eine grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Strukturen zielenden Reformismus verabschiedet. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise hat die Vorstellung wieder Raum gewonnen, es gäbe ein Zurück zum sozial regulierten Fordismus. Dabei wird aber gerne vergessen, dass dieser besonderen weltpolitischen Konstellationen – dem Ost-West-Systemkonflikt als Folge der russischen Revolution – geschuldet war. Vergessen wird auch die massive Kritik, die an diesem Gesellschaftsmodell seit dem Ende der sechziger Jahre gerader von linker Seite geübt wurde.

Theoretisch gesehen geht es dabei um eine grundsätzliche Frage. Zu den Grundeinsichten der materialistischen Theorie gehört, dass der Staat der bürgerlichen Gesellschaft nicht die Selbstorganisation freier Menschen, sondern einen Herrschaftsapparat darstellt, einen Herrschaftsapparat, in dem sich ein Klassen- und Ausbeutungsverhältnis ausdrückt. Seine zentrale Funktion besteht darin, die bestehenden ökonomischen Verhältnisse abzusichern. Ohne das staatlich organisierte Gewaltverhältnis könnten sie nicht existieren: ohne Staat weder Privateigentum noch Markt. Der Staat ist also nicht einfach ein „Überbau“, sondern integraler Bestandteil der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, und dies gerade infolge und durch seine formelle Trennung von Gesellschaft und Ökonomie, auch von der ökonomisch herrschenden Klasse. Diese „Besonderung“ oder „relative Autonomie“ ist die Grundlage für die sogenannte Staatsillusion, d.h. der Vorstellung, beim Staat handle es sich um ein im Prinzip neutrales Instrument, das nach Maßgabe der jeweiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wirksam werden könne. Die Trennung von der Ökonomie ist zugleich die Ursache dafür, dass er vom Gang der Kapitalakkumulation und damit vom Profit des Kapitals abhängig ist. Seine materielle Existenz und die seines Personals hängen davon ab, dass diese gewährleistet bleiben. Bei dieser politischen Form handelt es sich um eine strukturelle Bestimmung, die aus der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise resultiert und relativ unabhängig vom Willen und den Absichten des jeweiligen politischen Personals wirksam ist. Daraus ergibt sich die grundlegende Frage, ob Emanzipation durch Herrschaft möglich ist oder wo die Grenzen der liberalen Demokratie sind.

Wenn Emanzipation nicht einfach nur Reform des Bestehenden, sondern Befreiung und Selbstbestimmung im umfassenden Sinne bedeuten soll, bereitet es einige Schwierigkeiten, diese mittels des Staates erreichen zu wollen. Formallogisch argumentierend könnte man nämlich fragen, ob es möglich ist, ein Verhältnis durch sich selbst abzuschaffen. Da wir aber nun dialektisch denken, wird es natürlich etwas komplizierter, weil wir wissen, dass ein Ding oder Verhältnis seinen Gegensatz immer schon in sich trägt. Aber wie kann dieser Widerspruch entfaltet werden? Daran scheiden sich die Geister.

Nicos Poulantzas hat übrigens die spezifische Gestalt des bürgerlich-kapitalistischen Staates, seine relative Autonomie mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung begründet, insbesondere mit den auf der Trennung von Hand- und Kopfarbeit beruhenden Herrschaftsverhältnissen. Nun stehen ja auch linke Intellektuelle auf der einen Seite dieser Trennung. Sind sie daher vielleicht selbst irgendwie Teil des Staates? Es wäre sicher interessant, diese Überlegung weiter zu verfolgen. Jedenfalls begründet dieses Verhältnis durchaus einen gewissen Avantgardismus und damit auch Staats- und Herrschaftsnähe. Auch daraus könnte sich Staatsleidenschaft begründen.

Zurück zur Staatstheorie. In der Vergangenheit waren in diesem Zusammenhang zwei Theorierichtungen wichtig: Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in der der Staat als Instrument der herrschenden Klasse begriffen wird, den es zu erobern und emanzipativ zu wenden gilt. Dem liegt im Kern die Annahme einer strukturellen Neutralität des Staatsapparates zugrunde. Theoretische Annahmen dieser Art spielten nicht nur bei den kommunistischen Parteien eine Rolle, sondern wirkten weit darüber hinaus, und das bis heute. In scharfem Kontrast dazu steht die als „Staatsableitung“ bekannte und an die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie anknüpfende Bestimmung der politischen Form des Kapitalismus, die die Aussage begründet, dass der Staat strukturell – d.h. unabhängig vom Willen des politischen Personals – Klassenstaat ist, ohne direktes Instrument der herrschenden Klasse zu sein. Das heißt, dass er eben Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses und ohne dessen Überwindung Emanzipation nicht möglich ist. Von diesem Theorieansatz ist heute kaum mehr die Rede. Eher wirken Vorstellungen nach, die an Stamokap-Traditionen erinnern. Die Ansicht ist verbreitet, es gehe vor allem darum, den existierenden Staat zu demokratisieren, während die Produktionsverhältnisse weniger thematisiert werden, oder höchstens in Form ihrer vermeintlichen Auswüchse, die es zu beschränken gelte: demokratische Veränderung des Staates, Revitalisierung des Parlamentarismus, Wahlen und parteiförmige politische Organisation zählen heute zu zentralen linken Programmpunkten.

In der Geschichte der BRD gibt es beim Verhältnis der Linken zum Staat gewisse Konjunkturen. Schon seit Beginn gab es immer wieder kleinere Versuche zur Gründung einer sozialistischen Partei. Angesichts des KPD-Verbots und unter der ideologischen Herrschaft des Antikommunismus bis in die 60er Jahre hatten solche Unternehmungen keine Chance. Dann kam die Studentenbewegung, die in einem scharfen Konflikt mit den repressiven und ideologischen Staatsapparaten stand und zunächst stärker auf eine Revolutionierung der Lebensweise zielte. Zugleich brachte sie die Diskussion um den Staat wieder ins Rollen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg und der damit verbundenen Imperialismusdebatte sowie der Etablierung der ersten großen Koalition 1966. Diese kritische Debatte hielt allerdings nicht lange vor. Mit dem Zerfall der Studentenbewegung tauchten die diversen K-Parteien auf. Es sagt übrigens einiges über die Dynamik staatlich organisierter Herrschaftsverhältnisse aus, dass einige ihrer Restbestände schließlich in den etablierten Parteien bzw. im Staatsapparat ihren Platz fanden. Daneben gab es z.B. das Sozialistische Büro als Alternative zur parteiförmigen Organisation. Hier stand unmittelbare Gesellschaftsveränderung, etwa in den verschiedenen Berufsfeldern, und nicht staatliche Politik im Vordergrund. Aber selbst dort gab es heftige Auseinandersetzungen um parteiförmige Politik, die in der Abspaltung derer endeten, die den GRÜNEN nahe standen.

Für die weitere Entwicklung waren dann die in den siebziger Jahren entstandenen sogenannten neuen sozialen Bewegungen wichtig, insbesondere die Ökologie- und Frauenbewegung. Auch hier ging es zunächst vor allem um die Veränderung der gesellschaftlichen Beziehungen, insbesondere der Geschlechter- und Naturverhältnisse. Zudem spielten auch alternative Formen der Produktion und des Konsums eine Rolle. Das scheinbare Scheitern dieser Bewegungen gegen Ende der siebziger Jahre, d.h. die Erfahrung, dass große Demonstrationen und Mobilisierungen keine Wirkung im politischen System hatten, führte zu einer Rückwendung zu staatlich-parlamentarischer Politik. Scheinbar war dieses Scheitern deshalb, weil durch diese Bewegungen die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse tatsächlich wesentlich und mit nachhaltiger Wirkung verschoben wurden. Auch im Kontext der Frauenbewegung gewann der Staatsfeminismus an Boden. Dies mündete in die Gründung und den Erfolg der Partei der GRÜNEN. Heute mutet es etwas seltsam an, dass bei den GRÜNEN in der Anfangsphase das Staatsdilemma noch in Form des Fundi-Realo-Gegensatzes ausgetragen wurde, etwa in den Auseinandersetzungen um das imperative Mandat oder die Ämterrotation. Es waren durchaus interessante Versuche, die kapitalistische politische Form zu überwinden. Das Ergebnis ist bekannt. Ihr Scheitern zeigt, welche Zwänge wirken, wenn man sich auf die kapitalistischen politischen Formen, Staat und parteiförmige Organisation einlässt.

1989 hinterließ die DDR der BRD die PDS als Erbe. Das gab parteiorientierten Linken einen neuen Aufschwung und mündete schließlich in die Gründung der Linkspartei. Inzwischen hatte sich die neoliberale Offensive durchgesetzt. Diese wurde durch den Zusammenbruch des Sowjetsystems vollendet und beides zusammen bewirkte eine tiefgehende Krise der Linken insgesamt. Zwar hatte der Staatssozialismus bei vielen nicht gerade als erstrebenswertes Modell gegolten, sein Scheitern machte aber gewissermaßen eine Leerstelle deutlich, die es schon lange gegeben hatte, nämlich in Bezug auf die Frage, wie eine sozialistische oder kommunistische Gesellschaft konkret aussehen sollte und wie dahin zu gelangen sei. Seit Ende der neunziger Jahre entwickelte sich dann die globalisierungskritische Bewegung, verbunden mit Namen wie Attac und Occupy. Diese ist zwar insgesamt relativ parteifern, aber dennoch stark staatsorientiert. Vorrangiges Ziel ist es, Parteien und Staat mittels Massenmobilisierung zu einer anderen Politik zu veranlassen. In großen Teilen richtet sich die Kritik gegen vermeintliche Auswüchse des Kapitalismus. Ganz allgemein wurde Kapitalismuskritik infolge der Krise zwar wieder ein Thema, selbst im etablierten Feuilleton. Im Zentrum steht aber die Forderung, den Kapitalismus besser zu regulieren, eben mit Hilfe des Staates. Margaret Thatchers Diktum „there is no alternative“ scheint sich also in erstaunlichem Maße durchgesetzt zu haben. Genau genommen geht es im linken Umkreis heute eher um eine mehr oder weniger zivilisierte Form des Kapitalismus.

Blickt man also zurück, dann kann man eines feststellen: Die Orientierung auf den Staat und parteiförmige Politik waren sehr wesentlich eine Folge davon, dass Ansätze zu einer realen Gesellschaftsveränderung als gescheitert betrachtet wurden.

Dass die breite staatstheoretische Diskussion in den siebziger Jahren bemerkenswert wenig praktische Folgen hatte, hängt auch mit einem weiteren ihrer Aspekte zusammen. Nach der materialistischen Staatstheorie ist Staat zwar ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses und damit kein Ansatzpunkt zur grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Zugleich ist er aber auch ein Kampffeld, das es ernst zu nehmen gilt. Nicos Poulantzas hatte festgestellt, dass der Staat als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zu begreifen ist. Die Frage ist allerdings, was darunter zu verstehen ist und wo sie entstehen. Poulantzas hat seine Analysen sehr eng auf staatliche Prozesse bezogen und der sogenannten Zivilgesellschaft, sozialen Initiativen und sozialen Bewegungen keine besondere Beachtung geschenkt. Dies zeigt bei dem sonst so innovativen Denker einen gewissen Traditionalismus. Nicht thematisiert wird nämlich die Frage, inwieweit parteiförmige oder auch gewerkschaftliche Politik immer schon in den Grenzen der herrschenden politischen Form gefangen und damit für radikale Emanzipation untauglich bleibt. Gleichzeitig konnte auf seine Analysen die Annahme gestützt werden, staatsförmige Politik stehe im Zentrum gesellschaftlicher Emanzipationsbemühungen. Man kann annehmen, dass die seit einigen Jahren feststellbare Poulantzas-Renaissance ganz wesentlich auch damit zu tun hat.

Was bedeutet es hingegen, wenn man ernst nimmt, dass der Staat eben ein Bestandteil der bestehenden Produktionsverhältnisse und der durch sie geprägten gesellschaftlichen Beziehungen ist? Es bedeutet, dass sich emanzipatorische Politik nicht vorrangig auf den Staatsapparat richten kann, sondern auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Lebensweise insgesamt: die Formen der Arbeit und der Arbeitsteilung, die sozialen Beziehungen, die Geschlechter- und Naturverhältnisse, die herrschenden Wertvorstellungen, die Art und Weise des Konsums usw. Dass es darum gehen muss, praktische Initiativen zu deren Veränderung zu entwickeln. In emanzipatorischer Hinsicht stünde also das zur Debatte, was man als Revolutionierung der Zivilgesellschaft bezeichnen könnte. Es gälte die Tatsache zu realisieren, dass der Kapitalismus und seine Herrschaftsverhältnisse von allen und alltäglich reproduziert und stabilisiert werden. Ansätze dazu hat es in der Geschichte schon viele gegeben. Also: Emanzipatorische Politik müsste sich darauf richten, die kapitalistischen sozialen Formen, die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen praktisch zu überwinden. Sich auf sie einzulassen, bedeutet das genaue Gegenteil.

Emanzipatorische Politik muss sich sicherlich im, aber vor allem gegen den Staat entfalten. Ohne das Gegen, also die Entwicklung neuer Vergesellschaftungs- und Politikformen im Gegensatz zur und im Kampf mit der Staatsmacht bleibt sie wirkungslos. Das ist ein ebenso schwieriges wie konfliktreiches Unterfangen und es bedeutet vor allem, sich gegen die bestehenden politischen und gesellschaftlichen Regeln, Gewohnheiten und Strukturen stellen zu müssen. Der Begriff „Kulturrevolution“ ist etwas abgegriffen, es geht indessen darum, was mit ihm – etwa bei Herbert Marcuse – einmal gemeint war.

Die Faszination des Staates und der Hang zu staatlicher Politik dürfte nicht zuletzt daher rühren, dass solche gesellschaftlichen Veränderungen ein mühsames, langwieriges und schwieriges, und durch viele Rückschläge gekennzeichnetes Geschäft sind, ein Geschäft, das keine schnellen Erfolge und wenig öffentliche Anerkennung verspricht. Man hat dabei die Macht- und Gewaltstrukturen nicht nur des Staates, sondern auch der bestehenden „Zivilgesellschaft“ gegen sich. Die Orientierung am Staat und den staatlich organisierten Herrschaftsverhältnissen macht in dieser Hinsicht vieles leichter. Man könnte sie daher auch als eine Art Ersatzdroge und parteiförmige Politik als Ersatzbefriedigung bezeichnen. Auch dafür kann man bekanntlich auch eine gewisse Leidenschaft entwickeln.

Mit den Leidenschaften ist es also so eine Sache. Und die Leidenschaft der Kritik? Eine theoretisch fundierte Staatskritik ist zweifellos notwendig. Aber bei der Kritik sollte nicht stehen geblieben werden. Sie muss praktisch werden, um wirksam zu sein. Und dies erfordert politische Praktiken, die vor allem jenseits des Staates ansetzen müssen.

© links-netz März 2013