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Rezension: „Staatsprojekt Europa“

Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methoden und Analysen kritischer Europaforschung

Joachim Hirsch

Zentrale Merkmale des (modernen) Staates sind nach staatsrechtlicher Auffassung das Bestehen eines zentralisierten Gewaltapparats, ein territorial abgegrenztes Staatsgebiet und ein damit bestimmbares „Staatsvolk“. Mit dieser sich auf den traditionellen Nationalstaat beziehenden Definition lassen sich die bestehenden und sich neu entwickelnden Ausprägungen politischer Herrschaft immer weniger fassen. Eine Ursache dafür sind die im Zuge der sogenannten Globalisierung durchgesetzten, als Inter- oder Transnationalisierung bezeichneten Verschiebungen im System der politischen Herrschaftsapparaturen. Dabei spielt nicht zuletzt die Migration eine Rolle, die die bestehenden Grenzziehungen zunehmend in Frage stellt. Deutlich werden diese Prozesse im Fall der Europäischen Union, bei der zwar die traditionellen Merkmale eines Staates wenig ausgebildet sind oder überhaupt fehlen, die aber gleichzeitig sehr viel mehr als einen bloßen Verband souveräner Nationalstaaten darstellt und die sich in einem permanenten Veränderungs- und Entwicklungsprozess befindet. Die VerfasserInnen gehen davon aus, dass die aus der Krise des fordistischen Nachkriegskapitalismus resultierende Transnationalisierung zur Herausbildung eines multiskalaren europäischen Staatsapparate-Ensembles geführt hat. Dieses habe den Charakter eines unabgeschlossenen und in seinem Ergebnis durchaus offenen „Staatsprojekts“ Bei dessen Entwicklung käme den Auseinandersetzungen um die Migrationspolitik eine wesentliche Bedeutung zu, weil eben „Grenze“ ein entscheidendes Merkmal von Staatlichkeit darstellt. Die Fragestellung richtet sich also darauf, „ob durch diese Kämpfe das Staatsprojekt Europa in entscheidender Weise – und wenn ja in welcher – vorangekommen ist“ (83). Mit der – stark umkämpften – Europäisierung der Migrationspolitik sei eine als „Re-Bordering“ bezeichnete Rekonfiguration der Grenzen eingeleitet worden, die durch eine Gleichzeitigkeit von Grenzziehung und Grenzöffnung gekennzeichnet sei und zur Entstehung genuin europäischer Grenzen geführt habe (17). Präsentiert werden die Ergebnisse eines groß angelegten empirischen, sowohl auf Dokumentenanalysen als auch Interviews mit einschlägigen politischen AkteurInnen und ExpertInnen gestützten Forschungsprojekts. Die einzelnen Kapitel des Bandes wurden von unterschiedlichen MitarbeiterInnen des Projekts verfasst, aber gemeinsam diskutiert und aufeinander abgestimmt.

Der theoretisch-methodische Schwerpunkt der Untersuchung liegt bei dem Versuch, die materialistische Staatstheorie für empirische Forschung zu operationalisieren. Die VerfasserInnen entwickeln dazu das Konzept einer historisch-materialistischen Politikanalyse (43ff.). Eine wichtige Rolle spielt dabei die Frage, wie sich „Kräfteverhältnisse“ überhaupt empirisch fassen lassen. Zentraler Ansatzpunkt dafür ist der Begriff des Hegemonieprojektes, womit im Unterschied zu hegemonialen Projekten Akteurskonstellationen bezeichnet werden, die Hegemonie anstreben, aber (noch) nicht erreicht haben (45). Deren Strategien können empirisch, z.B. durch Medien- und Diskursanalysen erforscht werden und dadurch wird es möglich, die vielfältigen Bestimmungen von Kräfteverhältnissen zu erfassen, ohne sie vorschnell auf „objektive“ Klassenlagen zurückzuführen. Um die Stärke und Durchsetzungskraft von Hegemonieprojekten zu ermitteln, wird ein mehrdimensionales Kategoriensystem angewandt, das sich auf die jeweils verfügbaren Ressourcen bezieht. Dies sind organisatorische (Bürokratie, Finanzen, Militär usw.), systemische (d.h. die Fähigkeit, systemrelevante Entscheidungen durchzusetzen), diskursiv- ideologisch-symbolische sowie institutionelle mit den darin eingebetteten strategisch-strukturellen Selektivitäten (49ff.). Die empirische Analyse politischer Prozesse erfolgt in drei Schritten: Kontext (strukturelle Verortung des Konflikts), Akteure (deren Reaktionen auf die Problem- und Konfliktlage, wobei es möglich ist, dass die Akteure innerhalb einer Organisation unterschiedlichen Hegemonieprojekten zugeordnet werden müssen) und Prozess (Rekonstruktion der Konfliktdynamik, 53ff.). Bei der Analyse der Migrationspolitik werden schließlich mehrere Hegemonieprojekte unterschieden: ein neoliberales, ein konservatives, ein national-soziales bzw. proeuropäisch-soziales, ein linksliberal-alternatives sowie ein linksradikales, dessen tatsächliche Existenz im Projekt allerdings umstritten war (64ff.).

Die empirischen Untersuchungen umfassen drei Länderstudien, die die Kräfteverhältnisse und Konflikte zum Gegenstand haben, die zur Herausbildung einer spezifischen Migrations- und Integrationspolitik geführt haben. Darauf folgt die Analyse der Prozesse, die als Entstehung einer europäischen Grenze interpretiert werden können und schließlich die Entwicklung eines europäischen Arbeitskraftregimes. Für die Länderstudien wurden die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und Spanien herangezogen, die exemplarisch für eine spezifische Migrationspolitik stehen (85ff.). Gemeinsam ist ihnen, dass es jeweils markante politische Konflikte – in der BRD beispielsweise die „Asylkrise“ Anfang der neunziger Jahre – waren, die zu einer Veränderung des Modus der Migrations- und Grenzkontrollpolitik geführt haben und den Übergang zu einem aktiven Migrationsmanagement auf europäischer Ebene zum Ergebnis hatten. Entscheidend dabei ist, dass es sich dabei nicht einfach um isolierte nationale politische Strategien handelt, sondern um ein kooperativ-kompetitives Zusammenspiel unterschiedlicher räumlicher Ebenen des politischen Handelns im europäischen Maßstab (89). Allerdings kommt den Verhältnissen auf einzelstaatlicher Ebene angesichts der Struktur des europäischen „Staatsapparate-Ensembles“ ein besonderes Gewicht zu. Einzelstaatliche Politiken sind nicht unabhängig von Machtkonstellationen und Politikprozessen auf europäischer Ebene und wirken zugleich auf diese zurück.

Der umfangreichste Teil der empirischen Untersuchung bezieht sich auf den Prozess der Genese der europäischen Grenze, der eine zentrale Komponente des „Staatsprojekts Europa“ darstellt (149ff.). Dabei ist ein wichtiger Konfliktpunkt das „Dublin-System“, ein Vertragswerk, das die Zuständigkeiten der einzelnen Staaten bei Asylverfahren regelt. Der Dublin II-Vertrag besagt, dass Asylsuchende ihren Antrag in dem Land stellen müssen, in das sie zuerst eingereist sind. Dies betrifft vor allem die Staaten an der europäischen Südgrenze und begründet ein repressives innereuropäisches Abschieberegime. Interessant ist dabei, warum es antirassistischen Initiativen und Nichtregierungsorganisationen gelungen ist, wichtige Einschränkungen bei diesen Regelungen zu erkämpfen (153). Dabei spielte einerseits eine Spaltung innerhalb des auf repressive Abschottung gerichteten national-konservativen Hegemonieprojekts zwischen den nordwestlichen und den südlichen Staaten eine wesentliche Rolle. Zum anderen war bedeutungsvoll, dass Entscheidungen europäischer Gerichte erreicht werden konnten, die Dublin II zumindest etwas entschärften. Daran zeigt sich, dass die Verlagerung gesellschaftlicher Auseinandersetzung in die Rechtsform eine eigene, von den bestehenden Kräfteverhältnissen relativ unabhängige Dynamik entfaltet. Das Grenzregime wurde dabei zwar modifiziert, allerdings grundsätzlich beibehalten.

Eine wichtige Rolle bei der Entstehung der europäischen Grenze spielt die europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen FRONTEX. Betont wird, dass diese Agentur nicht nur materiell zur (Re-) Territorialisierung der EU beiträgt, sondern systematisch Wissensbestände über Menschen sammelt, die sich innerhalb der Union oder an ihren Grenzen bewegen, dass sie also als „biopolitischer Apparat der Bevölkerungskontrolle“ betrachtet werden muss (169). Die Entstehung von FRONTEX war ein langwieriger und konfliktreicher Prozess, der gegen das Beharrungsvermögen nationaler Kontrollapparate, d.h. die einzelstaatlichen „Gewaltmonopole“ durchgesetzt werden musste. Im Effekt hat sich FRONTEX als „Europäisierungsmotor“ erwiesen, weil sie ihre Kompetenzen kontinuierlich ausbauen konnte, wenn dabei auch bislang nur ansatzweise von einer europäischen Grenzpolizei gesprochen werden kann (180ff.). Gleichzeitig ist damit innerhalb des Staatsapparate-Ensembles eine Instanz entstanden, die kaum demokratisch kontrolliert wird.

Ein wesentliches Moment bei der Entstehung einer europäischen Grenze stellt schließlich ihre durch Gerichtsurteile vorangetriebene Verrechtlichung dar (187ff.). Exemplifiziert wird das an dem sogenannten Hirsi-Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in dem sich eine der zentralen Auseinandersetzungen über die europäische Migrationskontrollpolitik niedergeschlagen hat. Linksliberalen Kräften ist es dabei gelungen, extralegalen „push-back“-Operationen, einer besonders repressiven Praxis der militärischen Grenzkontrolle Einhalt zu gebieten. Auch hier wurde deutlich, dass auf juristischem Feld von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen relativ unabhängige Logiken und Dynamiken wirksam sind, die schwächeren Akteuren Einflussmöglichkeiten eröffnen, die auf einzelstaatlicher Ebene nicht vorhanden sind. Allerdings hat dies konservative Kräfte nicht daran gehindert, die Rechtsprechung auf eben dieser Ebene wieder zu unterlaufen – zumal die Unterscheidung zwischen schutzwürdigen Flüchtlingen und nicht schutzwürdigen MigrantInnen nicht angetastet wurde. Daran zeigt sich die Grenze juristischer Kämpfe, die darüber hinaus tendenziell zu einer Entpolitisierung und Entkontextualisierung der Konflikte führen. Die europäische Grenze bleibt ein umkämpftes Terrain und bei ihrer Konkretisierung spielen sowohl spezifische Apparate – nicht zuletzt FRONTEX – und Gerichte eine wesentliche Rolle (206).

Der letzte Teil der empirischen Untersuchungen ist der Entwicklung eines europäischen Arbeitskraftregimes gewidmet (207ff.). Neben einem Beitrag zu innergewerkschaftlichen Konflikten in Bezug auf die Migrationspolitik werden vor allem die Auseinandersetzungen um die Einführung einer Blue Card für qualifizierte MigrantInnen analysiert. In diesem Bereich ist der Einfluss des neoliberalen Hegemonieprojekts besonders deutlich, das, gestützt auf demografische Entwicklungen und einen prognostizierten Fachkräftemangel in der Europäischen Kommission seinen zentralen Protagonisten hatte. Hier fand das Vorhaben einer gemanagten Migration, also einer selektiven Öffnung der Grenzen seinen deutlichsten Ausdruck. Allerdings scheiterte die Kommission mit der Absicht, eine umfassende Erwerbstätigenrichtlinie gegen die Einzelstaaten durchzusetzen. Die Einführung der Blue Card wird daher als ein „Ausweichmanöver“ angesehen, bei dem sich neoliberale und konservative Kräfte am ehesten einigen konnten (213ff.). Zwar hat sich auch auf diesem Feld der Vorrang einzelstaatlicher Regelungen am Ende durchgesetzt, aber die Kommission hat nach Ansicht der Verfasser mit der Blue Card „einen Fuß in der Tür“ der legalen Migration, den sie für das Vorantreiben eines weitergehenden Europäisierungsprozesses nutzen kann. Als Fazit wird festgehalten, dass sich auf diesem Feld „exemplarisch zwei zentrale Bruchlinien innerhalb des Staatsprojekts Europa“ zeigen. Erstens der „Konflikt zwischen dem entstehenden europäischen Staatsprojekt und den nationalen Staatsapparaten und zweitens zwischen den in sich selbst uneinigen Kräften, die eine wettbewerbsstaatliche Integrationsweise vorantreiben und den AkteurInnen, die die einer solchen Integrationsweise skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen“ (225).

Zusammenfassend wird festgestellt, dass aus den untersuchten Prozessen und Konflikten das „Migrationsmanagement“ als hegemoniales Projekt hervorging. Mit dem es gelang, „möglichst viele Strategien, Diskurse und Subjektpositionen miteinander zu verbinden“ (80). Die Neuausrichtung der Migrationspolitik bestand neben ihrer Europäisierung in einer Ablösung der Abschottungspolitik durch eine flexible, ökonomisch-utalitaristische Strategie. Der politisch herrschende Diskurs wurde „von der konservativen Problematisierung der Migration als Bedrohung ... hin zu einer neoliberalen Rahmung“ verschoben (81). Das neoliberale Hegemonieprojekt wurde dominant, weil es gelang, Positionen des konservativen, des national-sozialen und des linksliberal-alternativen teilweise aufzunehmen. Im Fazit (245ff.) wird allerdings festgehalten, dass sich im Zuge der (sich während der Projektarbeiten entwickelnden) Krise die gesellschaftlichen Kräftekonstellationen verschoben haben. Das neoliberale Hegemonieprojekt sei geschwächt und die Politik des Migrationsmanagements werde insgesamt repressiver. Das europäische Staatsapparate-Ensemble nehme krisenhaftere und fragilere Züge an. Damit könne von einem mehr oder weniger kontinuierlichen Fortschreiten des „Staatsprojekts Europa“ nicht mehr ausgegangen werden. Eine grundlegende Annahme des Projekts, nämlich die einer fortschreitenden Zunahme transnationaler Institutionen sei so nicht mehr haltbar. „Vielmehr blieb die europäische Migrationspolitik im für die EU typischen Modus des Inkrementalismus gefangen“ (250).

Die besondere Stärke des vorgelegen Bandes liegt zunächst einmal auf der methodisch-theoretischen Ebene. Der Ansatz zu einer empirischen Operationalisierung der Staatstheorie im Rahmen einer „historisch-materialistischen Politikanalyse“ bezeichnet einen deutlichen Fortschritt auf diesem Feld. Beachtenswert ist insbesondere, dass der in der staatstheoretischen Forschung oft etwas nebulös gebrauchte Begriff der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in Verbindung mit der Hegemonietheorie für empirische Analysen zugänglich gemacht werden konnte. Bedeutungsvoll ist auch die Betonung des Rechts als einer für die Analyse politischer Prozesse relevanten und spezifische Eigenlogiken aufweisenden sozialen Form. Zum zweiten handelt es sich um einen wichtigen Beitrag zur Europaforschung. Mit dem Begriff des „Staatsapparate-Ensembles“ mit den darin liegenden gesellschaftlichen und politischen Dynamiken ist es gelungen, den Charakter der Europäischen Union genauer zu fassen. Zwar könnte die Bezeichnung „Staatsprojekt Europa“ angesichts der Tatsache, dass dahinter kein eindeutig zu bestimmender Akteur steht etwas übertrieben erscheinen. Sie verweist jedoch in plausibler Weise darauf, dass sich auf europäischer Ebene zumindest quasi-staatliche Strukturen durch ökonomisch-gesellschaftliche Zwänge, sich darauf beziehende politische Konflikte und institutionelle Eigendynamiken quasi hinter dem Rücken der Akteure herausbilden. Gleichwohl ist dies ein Prozess mit offenem Ausgang, wie an den aktuellen Renationalisierungstendenzen im Zeichen der Krise deutlich wird.

Etwas problematisch ist, dass sich die Forschungsgruppe bei der Präsentation ihrer Ergebnisse etwas unschlüssig verhalten hat. Zwar richtet sie in ihrer Selbstbenennung als „Staatsprojekt Europa“ den Fokus auf die komplexen Prozesse einer Staatwerdung und damit auf zentrale staatstheoretische Fragen, wählt aber als Titel der Veröffentlichung und damit auch als ihr Strukturierungsprinzip der Ausarbeitung „Kämpfe um Migrationspolitik“, also die Analyse politischer Auseinandersetzungen und Konflikte. Möglicherweise hängt dies mit nicht ganz deckungsgleichen Interessenlagen bei den Gruppenmitgliedern zusammen. Die Stärke des Forschungsansatzes liegt indessen gerade darin, beides zu verbinden. Eine Folge der gewählten Darstellungsweise ist allerdings, dass die staatstheoretischen Erwägungen und Erkenntnisse im Text eher verstreut zu finden sind. Es wäre durchaus angebracht gewesen, die Ergebnisse der Studie in Hinblick auf die Eingangsfragestellung am Ende noch einmal systematisch zusammenzufassen. Eine etwas konsequentere Strukturierung hätte also gut getan.

Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ (Hg.): Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methoden und Analysen kritischer Europaforschung. Bielefeld: transcript Verlag 2014, 300 Seiten.

© links-netz April 2014