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Die Wiederkehr des starken Staates

Joachim Hirsch

Bis vor einiger Zeit schien es ausgemacht, dass der herkömmliche Nationalstaat ein Auslaufmodell sei, von der Globalisierung überrollt, in seinen zentralen Kompetenzen beschnitten und durch Markt und „Zivilgesellschaft“ weitgehend ersetzbar. Damit verschwinde allmählich auch die Staatenkonkurrenz, die bisher auf gewaltsame Weise die geschichtliche Entwicklung geprägt hat. An deren Stelle trete eine friedliche „Völkergemeinschaft“ ziviler Kräfte. Oder, wie das linke Pendant der neoliberalen Theorie es sah, ein kapitalistisches „Empire“, das die ganze Wellt umfasse und in dem Staaten bestenfalls noch als Unterabteilungen fungierten. So weit die insbesondere nach 1989 ins Kraut geschossenen Träumereien, die auf der Grundlage einer völligen Unkenntnis dessen blühen konnten, was Kapitalismus und dessen politische Form heißt.

Diese Konjunktur war allerdings eher kurzlebig. Neuerdings ist Staat wieder in. Es ist ein Signal, wenn selbst ein ideologischer Guru des Neoliberalismus wie Francis Fukuyama sich wieder auf dessen Nützlichkeit besinnt. In diesem Hin- und Her drückt sich aus, was immer schon ein grundsätzlicher Widerspruch liberaler Theorie und Praxis war, nämlich dass Kapital, Markt und Privateigentum einen starken Staat als zentralisierten Gewaltapparat zu ihrer Existenzbedingung haben. Die Widersprüche der kapitalistischen Klassengesellschaft drücken sich in den Konkurrenzverhältnissen des Staatensystems aus, Staat und Staatensystem sind ein Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses selbst. Mit anderen Worten: Das Kapital kann nicht ohne den Staat bestehen, den es gleichwohl als Hindernis begreift. Was vorschnell als tendenzielle Auflösung des Staates und des Staatensystems diagnostiziert wurde, erweist sich daher tatsächlich als eine Transformation derselben. Diese ist allerdings recht folgenreich. Sie führt zu einer verstärkten Neuauflage des autoritären Etatismus, nun allerdings „globalistisch“ und „post-demokratisch“ verfasst.

Dies hat mehrere Gründe. Auf der einen Seite stehen zunehmend fragmentierte Gesellschaften, die nach der Zerstörung institutionalisierter Klassenkompromisse und angesichts systematisch mobilisierter Konkurrenzkämpfe immer mehr von „horizontalen“, d.h. quer zu den Klassenlinien verlaufenden Konflikten geprägt werden: Junge gegen Alte, Arbeitsplatzbesitzer gegen Arbeitslose, „Leistungsträger“ gegen Ausgegrenzte, „Einheimische“ gegen Migranten und hierzulande auch noch Ost- gegen Westdeutsche. Schon Thomas Hobbes hatte erkannt, dass eine sich strukturell im Bürgerkrieg befindliche Gesellschaft – eben die bürgerlich-kapitalistische – zur Sicherung ihrer Existenz und ihres Zusammenhalts einer über den Individuen, Gruppen und Klassen stehenden Zwangsgewalt, eines Leviathans bedarf. Zugleich hat die durch neoliberale Deregulierungspolitiken mobilisierte Konkurrenz der Standorte die Anarchie der Staatenwelt nicht beseitigt, sondern eher wieder aufleben lassen. Das Bemühen der Staaten und Regionen, dem international mobilen Kapital günstige Verwertungsbedingungen zu bieten, macht es möglich, diese gegeneinander auszuspielen. Durch die neoliberale Umstrukturierung wurde die Internationalisierung des Kapitals zwar erheblich vorangetrieben, bricht sich aber immer noch an der einzelstaatlichen politischen Verfasstheit des Kapitalismus. Insbesondere die Metropolenstaaten befinden sich in einem komplexen Kooperations- und Konkurrenzverhältnis. Dem nicht mehr nur latenten Wirtschaftskrieg zwischen ihnen steht der Zwang gegenüber, den globalen Akkumulationsprozess halbwegs politisch zu regulieren. Bei ihrem vereinten Streben nach ökonomisch-politischer Kontrolle der Welt mittels militärischer Interventionen treten zugleich die Gegensätze zwischen ihnen immer wieder zu Tage. Siehe der Irak-Krieg und der Konflikt zwischen den USA und dem „alten Europa“.

Globalisierung und Internationalisierung des Kapitals verbinden sich deshalb mit deutlichen Nationalisierungstendenzen nicht nur der Wirtschaftspolitik. Wenn Außerminister (sic! d. Sätzer) Fischer von der Notwendigkeit spricht, politische „Grundsätze“ gegen „Interessen“ „verantwortungsvoll“ abzuwägen, so zeigt die Praxis, was dies bedeutet, Demokratie hin und Menschenrechte her. Siehe China, Russland, die Türkei oder auch das bis vor kurzem noch als Schurkenstaat gehandelte Libyen. Ohne Öl gibt es eben keinen nationalen Wohlstand und Waffenlieferungen sichern zumindest Arbeitsplätze. Also keine Kanzlerreise ohne einen Tross von Unternehmern, deren Geschäfte zum eigentlichen Erfolgskriterium der Außenpolitik geworden sind. „Nationales“ und Kapitalinteresse gelten als identisch, und dies gerade deshalb, weil das Kapital staatenunabhängiger geworden ist. Je mehr es sich von einzelstaatlichen Fixierungen löst, desto stärker bestimmen seine Interessen die Politik.

Für die Bundesrepublik heißt erfolgreiche „Standortsicherung“ auch, sich zumindest als militärische „Mittelmacht“ zu etablieren, möglicherweise gekrönt durch einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. So das neue Selbstverständnis der Berliner Politik. Ein optimaler Standort muss über militärische Interventionskapazitäten verfügen, wenn es um Rohstoffe und Märkte geht. Die als nationales Interesse verkaufte „Sicherheit“ – wessen und vor wem eigentlich? – muss daher auch am Hindukusch verteidigt werden. Deshalb das Ende der außenpolitischen Bescheidenheit und die Umrüstung der Bundeswehr zur globalen Einsatztruppe.

Die Stärkung des Staates als Gewaltapparat nach außen geht einher mit der grundlegenden Transformation der liberalen Demokratie. Die mittels der Globalisierungsstrategie inszenierte Standortkonkurrenz lässt scheinbar keine politischen Alternativen mehr zu. Hinter den Profitinteressen des Kapitals hat alles andere zurückzustehen. Arbeitsplätze zu schaffen, ist bekanntlich nicht sein Ziel, und dennoch rechtfertigt das Versprechen, welche zu schaffen, so gut wie alles. Zur Wahl steht nur noch, wer das nicht mehr zur Diskussion stehende Notwendige besser zu machen verspricht. Von Politikern werden nicht weiterweisende Konzepte, sondern zupackendes Handeln verlangt, wohin es auch immer führen mag. „Führungsstärke“ ist Trumpf, egal wozu. Der Rest ist die Angelegenheit einiger rückständiger Bedenkenträger. Politische Selbstbestimmung gilt als Sozialromantik, die in einer Welt von Konkurrenz, Gewalt und Terror keinen Platz hat. Es geht immerhin ums schlichte Überleben im Kampf gegen eine Welt von Gegnern, seien es nun Terroristen, bedrohliche Migranten oder ökonomische Konkurrenten. Demokratie kann dabei nur stören. Die Qualität eines politischen Systems entscheidet sich daran, dass alle zusammenstehen und das standortpolitische Ergebnis stimmt. Die politischen Macher müssen vor allem plausibel machen, dass sie entschlossen handeln. Was richtig ist, steht ohnehin fest. Opfer müssen hingenommen werden, wenn es der Volksgemeinschaft dient. Die liberale Demokratie verkommt zur Interessengemeinschaft der im internationalen Maßstab Besserverdienenden oder derer, die es werden wollen. Das ist der perfekte autoritäre Staat im liberaldemokratischen Gewand, neuerdings unter dem bezeichnenden Namen „Post-Demokratie“ gehandelt.

Staaten kam immer schon die Aufgabe zu, in sich zerrissene Gesellschaften zusammen zu halten. Mit Gewalt, und soweit möglich durch die Organisierung von Konsens. Der staatlichen Aufrüstung als Gewaltapparat nach außen entspricht deshalb die nach innen. Je mehr die Gesellschaft fragmentiert und durch Konflikte zerrissen wird, desto mehr muss sie repressiv zusammengehalten und kontrolliert werden. Die neoliberale Transformation beinhaltet deshalb einen Ausbau des Sicherheitsstaats in einem bis vor kurzem kaum möglich gehaltenen Ausmaß. Kaum noch eine Lebensäußerung, die nicht durch die alles durchziehenden Kontrollnetze registriert wird. Dabei verflechten sich staatliche und private Überwachungsapparaturen auf kaum mehr durchschaubare Weise. Überwachungstechniken sind der Renner und die Innovationsgeschwindigkeit auf diesem Sektor wirkt geradezu atemberaubend. All das vollzieht sich mit breiter Unterstützung der Bevölkerung, die darin ein Mittel gegen gefährliche Ausländer und Terroristen sieht. Hierzulande braucht es zur Aushebelung des Rechtsstaats nicht einmal eines „patriot act“ wie in den USA. Patrioten sind wir ohnehin alle. Auch das ist „Post-Demokratie“.

Im Ausnahmezustand und im Krieg schlägt die Stunde der Exekutive, hieß es einmal. Das erinnert an Zeiten, in denen es noch so etwas wie funktionierende parlamentarische Repräsentation und Gewaltenteilung gab. Angesichts der Existenz einer faktischen Einheitspartei sind diese längst autoritär ausgehebelt. Politische Legitimation resultiert immer weniger aus der Garantie eines guten Lebens in Freiheit– dem „pursuit of happiness“ der amerikanischen Gründerväter. Sie gründet auf dem Ausmalen von Bedrohungsszenarien. Ausnahmezustand und Krieg werden sozusagen zum Dauerzustand. Angst machen die ökonomischen Konkurrenten außerhalb der nationalen Grenzen, Migranten, die die Unverschämtheit besitzen, in „unsere Sozialsysteme“ einwandern zu wollen, und natürlich die überall lauernden Terroristen – ganz ungeachtet der Tatsache, das es eben der „Krieg gegen den Terrorismus“ ist, der diesen immer weiter nährt. Ein sich durch einen permanenten Kriegszustand legitimierendes totalitäres Weltsystem hatte bereits George Orwell ausgemalt. Es wird hart daran gearbeitet, solche Visionen Wirklichkeit werden zu lassen.

Unter den Bedrohungen von außen schweißt sich die Volksgemeinschaft zusammen, sei es gegen bombende Islamisten oder ausländische Konzernleitungen. Insbesondere denen werden, wie im Falle General Motors/Opel, allerlei Perfidien angelastet. Als würde nicht vor allem die angeblich „deutschen“ Unternehmer massenhaft Arbeitsplätze exportieren. Und das noch durch Steuersubventionen unterstützt. „Managementfehler“ werden vor allem beim so genannten internationalen Kapital entdeckt, als wären die sprichwörtlichen Nadelstreifen-Nieten nicht überall anzutreffen. Immerhin ist General Motors gerade dabei, frühere Fehler zu beheben, indem eben Produktionsstandorte dahin verlagert werden, wo es billiger ist. Der Generalsekretär der CDU vermisst allerdings inzwischen auch bei „deutschen“ Unternehmern Nationalgefühl. Die Wahrnehmung kapitalistischer Logik wird durch nationalistische Rhetorik populistisch vernebelt. Für diese Nationalismuswelle steht auch die Farce um den jüngst so kläglich gescheiterten Coup der Berliner Regierung. Ihr Vorhaben, den Nationalfeiertag zwecks Standortverbesserung zu streichen, verfiel nicht deshalb massiver öffentlicher Kritik, weil er wieder einmal eine unbezahlte Arbeitsverlängerung beinhaltet, sondern weil er ein Anschlag auf das deutsche Nationalbewusstsein sei. Das fand – wen wundert das noch – auch Bütikofer, der Vorsitzende der Bündnisgrünen, der im Übrigen feinsinnig anregte, überhaupt mal „eine offene Diskussion über bestimmte Symbole republikanischer Identität“ zu führen (Frankfurter Rundschau Nr. 266/2004, S. 5). Da ist der Vorschlag des Industrieverbandes eine passende Kompromissformel: den nationalen Feiertag erhalten und die Vierzigstundenwoche wieder einführen. Das würde dem Kapital auf einen Schlag neun Feiertage sparen und die nationale Gemeinschaft wäre gerettet.

Der ehemalige Bundeskanzler Erhard hatte einmal von einer „formierten Gesellschaft“ geschwärmt, in der alle, Maß haltend und opferbereit dem Wohle des Ganzen dienen. Das hatte ihm massive Kritik eingetragen. Jetzt haben wir sie offenbar. Bleibt den Bewohnern der Wohlstandinseln die Hoffnung, mit halbwegs heiler Haut davonzukommen, wenn sie sich in das Unvermeidliche fügen. Diese Hoffnung sollen auch diejenigen haben, die dem Kapitalstandort besondere Opfer bringen müssen, etwa als „Kunden“ der so schön genannten Bundesagentur für Arbeit. Sie sollen darauf vertrauen, dass der Staat auch für sie sorgen wird.

© links-netz November 2004