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Steuersenkungswahn

Joachim Hirsch

Etwas Wahnhaftes wohnt der aktuellen politischen Debatte schon inne. Die von der Regierungskoalition geplanten weiteren Steuersenkungen werden nicht nur von den einschlägigen Experten für falsch gehalten. Selbst das begünstigte Klientel scheint da eher etwas skeptisch, wie einschlägige Umfragen zeigen. Dass die FDP ihre Finanziers bedienen muss, reicht zur Erklärung wohl auch nicht ganz aus. Der Wahnsinn der heutigen politischen Normalität hängt auch damit zusammen, dass sich die Dynamik der Parteienkonkurrenz verselbständigt hat. Nach der letzten Wahl wurde eine Koalition zwischen einer sich immer noch als „Volkspartei“ verstehenden und einer schlichten Klientelpartei zusammengebastelt. Ihre strategischen Orientierungen sind völlig unterschiedlich. CDU und CSU müssen sich den Anschein geben, breitere Bevölkerungsschichten – nicht zuletzt von der SPD Abgewanderte – zu vertreten, während es für die FDP ausreicht, ihr 15%-Klientel (und natürlich ihre Finanziers) zu bedienen. Schon daher sind beide in Grundsatzfragen uneins. Jedoch muss die Koalition zwecks Macht- und Postenerhalt (und möglicherweise auch hier wieder wegen der Geldgeber) auf Gedeih und Verderb zusammen gehalten werden. Das spielt der FDP in die Hände, die außer Steuersenkungen überhaupt nichts mehr im Programm hat und schon deshalb wie an einem Mantra daran festhalten muss. Soweit in diesem Zusammenhang überhaupt noch Ansätze einer rationalen Argumentation feststellbar sind, dann läuft diese auf die Behauptung hinaus, dass Steuersenkungen das ökonomische Wachstum fördern. Dadurch würden die Staatseinnahmen so stark wachsen, dass die Defizite auf längere Sicht wieder ausgeglichen werden könnten. Dies ist allerdings nachgewiesenermaßen eine Lüge. Schon im volkswirtschaftlichen Proseminar wird erklärt, dass Steuersenkungen für Besserverdienende so etwa das schlechteste Mittel sind, um von Staats wegen die Konjunktur anzukurbeln. Natürlich wird auch nicht thematisiert, dass schon heute die Masse der Steuern von der breiten Bevölkerung eingezogen wird, jedoch nur die besserverdienenden „Leistungsträger“ entlastet werden sollen. Das Merkwürdige an der ganzen Debatte ist allerdings die über die Parteigrenzen hinaus reichende Übereinstimmung, dass Steuersenkungen („mehr Netto vom Brutto“) grundsätzlich begrüßenswert seien, sofern und soweit sie halt möglich sind. Der Unterschied liegt also nur in der Einschätzung der aktuellen Wirtschafts- und Finanzlage. Die Skeptiker meinen nicht ganz zu Unrecht, dass das durch die Wirtschaftskrise inzwischen gigantisch angeschwollene Haushaltsdefizit nicht noch weiter wachsen dürfe und Steuersenkungen auf später verschoben werden sollten. Und genau in diesem Konsens liegt der eigentliche Wahnsinn.

Was bei dieser Sichtweise zum Vorschein kommt, ist die völlige Unfähigkeit, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer technisch hoch entwickelten Gesellschaft auch nur ansatzweise zur Kenntnis zu nehmen. Die gesellschaftliche Produktion insgesamt unterliegt einem beschleunigten Rationalisierungsprozess. Dies äußert sich – da von einer allgemeinen Verkürzung der Arbeitszeit nicht einmal mehr die Rede ist – in einer ständig wachsenden Produktion von Waren und bezahlten Dienstleistungen. Gleichzeitig führt die immer kritischer werdende Situation der öffentlichen Haushalte dazu, dass das Angebot an öffentlichen Gütern und die Ausgaben für soziale Sicherung weiter einschränkt werden. Diesbezüglich ist – spätestens nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen – in nächster Zeit einiges zu erwarten. Schon jetzt haben die Kommunen erklärt, Schwimmbäder, Bibliotheken und Museen schließen zu müssen und das Versprechen, bis zum Jahr 2013 ausreichend Kindergartenplätze zur Verfügung zu stellen, wird wohl demnächst formell gestrichen werden müssen. Stattdessen wurden gerade eben schon die Steuervergünstigungen für die Kinder Besserverdienender erhöht. Dies können sich private Kindergärten damit umso eher leisten. Diese Entwicklung hat systematischen Charakter und führt dazu, dass die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nicht nur zwischen den Klassen, sondern auch im Verhältnis von öffentlichem und privatem Konsum immer ungleicher wird. Wir leben in einer Gesellschaft, die immer mehr Waren und Dienstleistungen produziert, die zu einem großen Teil unnütz, wenn nicht sogar schädlich sind, während die sozialen Sicherungssysteme und die soziale Infrastruktur verrotten. Das bedeutet gesellschaftliche Armut in und durch Warenreichtum.

Man müsste eigentlich realisieren, dass sich die Dimensionen der Bedürfnisbefriedigung in einer hoch produktiven und damit potentiell sehr reichen Gesellschaft grundlegend verschieben. Wenn eine Zunahme der Warenfülle nur noch wenig Zusatznutzen schafft, aber das, was man als soziale Infrastruktur bezeichnet noch unterentwickelt ist, muss sich die Priorität notwendigerweise zu diesen Sektor hin verlagern. Ein weiteres Auto, das fünfte Handy oder eine schicke Verpackung nützen nicht sehr viel, wenn zugleich die Risiken bei Arbeitslosigkeit, bei Krankheit oder im Alter ins Unkalkulierbare steigen oder wenn zwar eine Menge von Plastikspielzeugmüll, aber keine Kindergartenplätze oder vernünftige Schulen vorhanden sind. Die vorhandenen technischen Möglichkeiten lassen es zu, eine Grundsicherung für alle, eine kostenlose Gesundheitsversorgung, adäquate und für alle zugängliche Bildungseinrichtungen oder einen bezahlbaren öffentlichen Verkehr zu finanzieren, statt das Klima zu ruinieren und die Landschaft zuzubetonieren. Das bedeutet allerdings, dass die Steuerbelastung tendenziell steigen statt sinken muss. Die Kapitalbesitzer werden sich also daran gewöhnen müssen, ihre Spitzenrenditen etwas einzuschränken und auch die Hochverdienenden fahren allemal besser, wenn sie mehr Steuern abführen als ihre Einkommen von windigen Finanzjongleuren verpulvern zu lassen.

Die herrschende Politik will das Gegenteil. Das Motto ist Steuersenkung und Privatisierung, eine weitere Privatisierung auch der Bereiche, die eigentlich Gegenstand einer für alle zugänglichen, kostenlosen oder kostengünstigen sozialen Infrastruktur zu sein hätten. Das vergrößert die gesellschaftliche Ungleichheit strukturell und schadet letzten Endes auch den Interessen derer, die von der Privatisierung zu profitieren meinen. Was dabei anvisiert wird, ist eine fortlaufende Barbarisierung der Gesellschaft, soziale Apartheid und die Zerstörung jeder Gemeinschaftlichkeit. Eine wirkliche „Zivilgesellschaft“ sieht anders aus.

Noch eine kleine Anmerkung zum Thema: Der Eigentümer einer Hotelkette hat der FDP und der CSU für 1 Milliarde den Hotel- und Gaststätteninhabern geschenkte Mehrwertsteuer 150 Millionen Euro bezahlt. Das ist eine Rendite, von der selbst Ackermann von der Deutschen Bank nur träumen kann!

© links-netz Februar 2010