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Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0

Das Internet und die Macht des Stammtisches

Joachim Hirsch

Jürgen Habermas hatte in seinem 1962 erstmals publizierten Buch „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ eine „Refeudalisierung“ der politischen Öffentlichkeit diagnostiziert. Sie werde im Zeitalter der Massenpresse wesentlich von monopolistisch agierenden Medienunternehmen bestimmt und kontrolliert. Das Zeitalter der das 19. Jahrhundert kennzeichnenden bürgerlichen Öffentlichkeit mit ihren offenen Diskussionen und dem Austausch rationaler Argumente sei damit zu Ende gegangen. Das bürgerliche Publikum werde damit praktisch von der politischen Artikulation ausgeschossen. Ganz unabhängig davon, inwieweit diese Form der politischen Öffentlichkeit in Wirklichkeit je bestanden hat – „bürgerlich“ war sie, was die ökonomischen Machtverhältnisse angeht, ohnehin – lässt sich inzwischen, am Beginn der 21. Jahrhunderts eine neue und möglicherweise noch einschneidendere Transformation feststellen. Grundlage dafür ist die mit dem Internet verbundene Digitalisierung des Kapitalismus. Die politische Öffentlichkeit wird immer noch maßgeblich von großen, inzwischen weltumspannenden Konzernen beeinflusst. Gegenüber der von Habermas angesprochenen Situation haben sich indessen die Ausschlussmechanismen verändert. Das Geschäftsmodell der sogenannten sozialen Medien, von Facebook, Twitter & Co. ermöglicht für jede und jeden den beinahe kostenlosen Zugang zu einer Öffentlichkeit, die bis in die kleinsten Winkel der Erde reicht – im Austausch gegen die Daten der NutzerInnen, die kommerziell, im Wesentlichen zu Werbezwecken verwendet werden. Es ist auch nicht schwer, Seiten ins Netz zu stellen, mit denen Botschaften in die Welt gesetzt und Kontakte hergestellt werden. Um seine Meinung oder Informationen zu verbreiten, braucht man kein größeres Kapital mehr. Es reichen im Prinzip ein Internetanschluss und ein Rechner. Ausgeschlossen bleiben nur diejenigen, die über beides nicht verfügen. Das bedeutet gewissermaßen eine Demokratisierung der Öffentlichkeit, allerdings kaum in dem Sinne wie Habermas das meinte. Nämlich dass es darum ginge, die in der politischen Öffentlichkeit agierenden Mächte wirksam dem demokratischen Öffentlichkeitsgebot zu unterwerfen. Die Schwierigkeiten, die nationale Regierungen und Parlamente haben, die international agierenden Medienkonzerne wenigstens einigen kleineren Regulierungen zu unterwerfen, sprechen für sich. Bei den sozialen Medien handelt es sich genau genommen nicht um einen öffentlichen Raum, sondern um einen, der von Privatfirmen bereitgestellt und kontrolliert wird. Diese steuern das Kommunikationsverhalten der NutzerInnen nach ihren Geschäftsinteressen. Von Feudalisierung könnte angesichts der noch weiter gestiegenen Macht der Medienkonzerne also durchaus weiter gesprochen werden, aber sie nimmt neue Züge und Dimensionen an. Oder man betrachtet die sozialen Medien schlicht als eine Art Sektenorganisationen, die bei Bedarf ihre Anhängerschaft mobilisieren, um politische Kontrollen abzuwehren, wie der bekannte und in Bezug auf die demokratisierende Wirkung des Internet mehr als skeptische Kritiker Evgeny Morozow es tut (SZ, 18.1.2016).

Zweifellos bietet diese Form der „Demokratisierung“ oppositionellen Kräften und den bisher von der Öffentlichkeit weitgehend Ausgeschlossenen ganz neue Möglichkeiten. Eine Gegenöffentlichkeit, die früher auf einige nicht überall erhältliche Nischenpublikationen angewiesen war, ist in breiterem Umfang herstellbar. Informationen, Meinungen und Aufrufe lassen sich von jedermann und -frau leicht verbreiten und austauschen, Demonstrationen und Aktionen sind schneller und einfacher organisierbar. Petitionsplattformen sammeln Tausende Unterschriften für alle möglichen Zwecke. Kaum eine PolitikerInnenäußerung oder Medienverlautbarung, die im Netz nicht vielfach kommentiert wird. Leserbriefe wirken dagegen eher altmodisch. Was z.B. der IWF und die EU in Griechenland anrichtet, konnte man aus den etablierten Medien zunächst kaum erfahren. Dazu brauchte man das Internet. Seine Möglichkeiten werden zunehmend genutzt. Man kann sich dort auf vielfältige Weise informieren, ohne von den Publikationsstrategien der Medienunternehmen abhängig zu sein (und wenn man es schafft, sich bei Google den Prioritätensetzungen zu entziehen, die diese Firma entsprechend des jeweiligen Personenprofils vornimmt). Die Rolle, die die sozialen Medien beispielsweise im „arabischen Frühling“ gespielt haben, wird zwar meist überschätzt, war aber nicht unwichtig. Und die aktuelle Flüchtlingsbewegung wäre ohne sie kaum zu denken. Es gibt aber noch eine andere Seite. Die ursprünglich gehegte Hoffnung, mit dem Internet würde der Raum für eine wirksame demokratische Öffentlichkeit geschaffen, muss inzwischen relativiert werden. „Demokratisierung“, insbesondere wenn sie von Konzernen bewerkstelligt wird, hat in einer von ökonomischen Machtstrukturen und gravierenden sozialen Ungleichheiten durchzogenen Gesellschaft eine durchaus ambivalente Bedeutung.

Auch der Stammtisch – gemeint sind damit die Gruppen, Schichten und Milieus, die sich durch reaktionär-illiberale Haltungen, Ressentiments, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit auszeichnen – hat ganz neue Möglichkeiten erhalten. Nicht nur dass Rechtsradikale das Internet zu Propaganda- und Organisationszwecken benutzen, auch die reaktionäre sogenannte „bürgerliche Mitte“ hat damit ein neues Operationsfeld. Man kann nun in einer breiten Öffentlichkeit äußern, was man immer schon mal sagen wollte. Viele nehmen das wahr. Der Stammtisch tritt aus seiner Lokalität und Verborgenheit heraus. Zu seiner öffentlichen Artikulation ist er nicht mehr darauf angewiesen, dass sich Parteien oder monopolitische Medien (wie etwa die NSDAP oder die Hugenberg-Presse in der Weimarer Republik) sich seiner annehmen. Es ist auch nicht mehr notwendig, sich auf persönliche Kontakte, die Post oder das Telefon zu beschränken. Man schafft sich unmittelbar selbst eine fast unbeschränkte Öffentlichkeit. Ohne Schwierigkeiten lassen sich Gleichgesinnte erkennen und ansprechen, Stimmungen und Feindbilder verbreiten, Verdächtigungen in die Welt setzen, Aufrufe starten und Mobilsierungen in Gang setzen. Wie Peter Glaser schreibt (Süddeutsche Zeitung, 30./31.1.2016) fühlen sich viele der NutzerInnen sozialer Medien durch die Anonymität der dadurch hergestellten Beziehungen von ansonsten, in persönlichen Kontakten geltenden gesellschaftlichen Normen entbunden. Der dadurch erzeugte Mangel an Affektkontrolle verwandle diese Medien dadurch tendenziell in ein „Netz des Asozialen“. Was Zivilisationskritiker wie Le Bon, Ortega y Gasset oder Canetti einst als reaktionär aufgeladene „Psychologie der Massen“ an die Wand gemalt haben, scheint neue Wirksamkeit zu erlangen (Tilman Baumgärtel in der TAZ, 16.2.2016). Kriminelle Aufrufe und Hasskommentare im Netz zu unterbinden fällt offenbar schwer. Die Möglichkeit übergreifende und gleichzeitig in sich geschlossene Stammtischgemeinden zu schaffen, wird dadurch verstärkt, dass die sozialen Medien das Kommunikationsverhalten so steuern, dass die jeweiligen Gruppierungen unter sich bleiben und Anderes eher weniger wahrnehmen. Der Facebook-Algorithmus sorgt dafür, dass man nur auf Gleichgesinnte trifft. Die oft gelobte „Schwarmintelligenz“ entpuppt sich bisweilen als schlichte Dumpfbackengemeinschaft (Baumgärtel, a.a.O.). Der Stammtisch etabliert sich damit auf sozusagen globaler Ebene. Es wäre eine genauere Untersuchung wert, welche Rolle das Internet und die sozialen Medien etwa bei den Pegida-Demonstrationen oder bei Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte spielen. Hannes Münzinger, Antonie Rietschel und Hauke Berndt schreiben in einem Beitrag in der SZ (4.2.2016) dass Pegida ohne Facebook undenkbar gewesen wäre. Diese Organisation hat dort 200.000 NutzerInnen, während die CDU gerade mal über 100.000 und die SPD sogar nur über 90.000 verfügt. Neuerdings werden auch sogenannte „Bürgerwehren“ mittels Facebook organisiert. Dabei geht es nicht nur um individuelle Meinungsäußerungen oder „Hasskommentare“. Es werden auch Plattformen ins Netz gestellt, mit denen versucht wird, den Stammtisch zu organisieren und zu verallgemeinern. Mit anderen Worten: die Machtstrukturen im Raum der Öffentlichkeit haben sich radikal verändert. Den etablierten Medien und den von ihnen transportierten intellektuellen Diskursen ist ein mächtiger, weder kontrollierbarer noch in die Verborgenheit zu verweisender Gegner erwachsen. Für diesen sind sie schlicht die „Lügenpresse“.

In der aktuellen Situation hierzulande werden die Auswirkungen dieser neuen Verhältnisse recht deutlich. Angesichts der Krise der europäischen Migrationspolitik gaben sich die etablierten Medien zunächst im Allgemeinen relativ liberal (nicht zuletzt in Anbetracht der deutschen Geschichte und des deutschen Ansehens in der Welt) und weltoffen (auch weil dies im Interesse des Kapitals ist), geraten aber durch die Macht des Stammtisches immer stärker unter Druck. Beide Öffentlichkeiten unterliegen unterschiedlichen Interessenkonstellationen und stehen gleichzeitig in enger Verbindung. In einigen Talkshows hat der Stammtisch schon vor längerer Zeit Einzug gehalten und auch in den Chatrooms der Medien tummelt er sich. Journalisten, die auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Quote sind, reagieren auf das, was sich in den sozialen Medien tut. Relevanz wird an der Zahl der Klicks gemessen. Parteien, wie CSU oder auch die immer erfolgreicher werdende AFD beziehen sich in ihrer politischen Mobilisierungsstrategie auf die Stammtisch-Öffentlichkeit. Es spricht einiges dafür, dass das Erstarken der nationalkonservativen und rechtspopulistischen Front in der deutschen Politik, also Seehofer, Söder, de Maiziere & Co. vor diesem Hintergrund zu verstehen ist. Und auch die anderen Parteien wollen sich dieser, um Stimmen bangend, nicht ganz entziehen und laufen der AFD und dem Milieu, auf die sie sich bezieht, immer bedenkenloser hinterher. Der Stammtisch bestimmt zunehmend ihr Verhalten und ihre Programmatik. Eine Folge davon ist, dass permanent Vorschläge zur Eindämmung der „Flüchtlingsströme“ in die Welt gesetzt und diskutiert werden, von denen klar ist, dass sie weder praktikabel noch rechtlich haltbar sind. Auf der anderen Seite werden diese Milieus gerade dann bestätigt und gestärkt, wenn die etablierte Öffentlichkeit sie auszugrenzen versucht. Das sind eben die da oben, die ihre ganz eigenen Interessen und nicht die „des Volkes“ verfolgen. So bestätigen und stützen sich beide Seiten.

Das Problem verschärft sich, wenn nicht diskutiert und argumentiert wird. Ein Beispiel dafür ist Angela Merkels Spruch „wir schaffen das“. Von vielen Medien wurde sie in dieser Haltung unterstützt, während den Stammtisch ganz Anderes umtrieb. In der Tat reicht es nicht aus, schlicht eine „Willkommenskultur“ hochzuhalten. Von Anfang an wäre es notwendig gewesen, offen darüber zu reden, was es kostet, wer dabei verliert, welche Ängste ernst genommen werden müssten und wie mit den damit verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen umzugehen ist. Dass der öffentlich geförderte Wohnungsbau angesichts der Zuwanderung wieder zum Thema wird, muss denjenigen etwas merkwürdig vorkommen, die durch horrende Mietpreissteigerungen aus den Innenstädten vertrieben wurden. Wenn in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz CDU, SPD und Grüne sich zunächst geweigert haben, zusammen mit der AFD bei Wahlkampfdiskussionen im Fernsehen aufzutreten, so hat das diese und ihre Anhänger nur bestätigt. Eine wirkliche Auseinandersetzung und ein Dialog nicht nur mit dem „rechten Rand“, sondern vor allem auch mit den zu kurz Gekommenen und Frustrierten, findet nicht statt.

Ein aktuelles Beispiel für diesen Zusammenhang stellen die Vorgänge am Kölner Hauptbahnhof und anderen Orten in der letzten Silvesternacht dar. Die Polizei versuchte in angenommener Übereinstimmung mit dem herrschenden Diskurs zunächst zu verschweigen, dass ein großer Teil der Täter vor allem nordafrikanischen Ursprungs war, und die Medien haben sich dem anfänglich angeschlossen – möglicherweise auch deshalb, weil sie nicht über die in den sozialen Medien kursierenden und unbestätigten Gerüchte berichten wollten. Für den Stammtisch war das ein klarer Beleg für die Existenz der „Lügenpresse“. Das Schweigen hielt aber nicht lange. Inzwischen findet der Stammtischdiskurs auch in den etablierten Medien statt und das hat einiges dazu beigetragen, dass die Einstellung der Bevölkerungsmehrheit zu der „Flüchtlingsfrage“ mittlerweile umgekippt ist. Diejenigen, die sich durch Flüchtlinge bedroht sehen, tun dies nicht aus eigener Erfahrung, sondern aufgrund der Medienberichterstattung und der Informationen, die aus dem Netz bezogen werden.

Es folgt daraus, dass es im Sinne der Bewahrung halbwegs demokratischer Verhältnisse notwendig ist, die veränderte Struktur der politischen Öffentlichkeit zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihren Dynamiken und Auswirkungen auseinanderzusetzen. Der Filter, den journalistische Sorgfaltspflicht einmal dargestellt hatte und durchaus auch der Wahrung etablierter Interessen diente, existiert nicht mehr. Es genügt im Übrigen nicht, zu argumentieren und zu diskutieren. Was den Stammtisch so stark macht, ist auch die Konzeptionslosigkeit der Regierenden. Merkel ist als pragmatische Machtpolitikerin bekannt, die keine Visionen hat. Ihren Vorgängern steht sie dabei kaum nach. Um dem Stammtisch etwas entgegen zu setzen, wäre eine halbwegs überzeugende Vorstellung davon notwendig, wie sich diese Gesellschaft entwickeln soll und vor allem wie ihre gravierenden Probleme – nicht nur die „Flüchtlingsfrage“, sondern zum Beispiel und mehr noch die skandalöse soziale Ungleichheit mit der damit verbundenen Perspektivlosigkeit angegangen werden könnten. Die Rekrutierungsmechanismen des politischen Personals lassen das offensichtlich nicht mehr zu.

© links-netz Februar 2016