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„Stuttgart 21“ und die real existierende Demokratie

Joachim Hirsch

Das Interessante an den Auseinandersetzungen um den Stuttgarter Hauptbahnhof ist, dass das Projekt umso entschlossener durchgezogen werden soll, je mehr sogar sein ökonomischer Nutzen in Frage steht. Inzwischen liegen Gutachten vor, die zeigen, dass es auch unter diesem Gesichtspunkt keine relevanten Vorteile bringt, selbst wenn es bei den veranschlagten, inzwischen schon drei mal nach oben korrigierten Kosten bliebe. Das wird mit Sicherheit nicht der Fall sein. Man hat sich gefragt, weshalb sich Kanzlerin Merkel mit diesem ebenso unpopulären wie sinnlosen Vorhaben identifiziert hat und damit für sich einigen persönlichen Schaden in Kauf nimmt. Die Argumentation der Befürworter geht inzwischen weit über den konkreten Fall hinaus. Es komme nämlich darauf an, einer Masse von Neinsagern und Innovationsverhinderern ganz grundsätzlich die Stirn zu bieten, die die Zukunft des „Standort Deutschland“ gefährdeten. Fast vergessen wird dabei, dass wir das alles schon mal hatten, z.B. beim Transrapid, dessen Bau ebenfalls die Überlegenheit des Technologiestandorts Deutschland beweisen sollte und dessen Bau dann mangels Rentabilität ziemlich sang- und klanglos unterblieben ist. Ähnliches gilt für die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf oder den „Schnellen Brüter“ in Kalkar – alles Investitionsruinen. Allerdings hat sich gegen „Stuttgart 21“ eine veritable Volksbewegung gebildet, was die Sache politisch brisanter macht. Es geht dabei um erheblich mehr als das konkrete Projekt. Zur Debatte steht, wie auch bei Gorleben, die hierzulande real existierende Demokratie.

Mit Stuttgart 21 soll bewiesen werden, dass politische Entscheidungen durchgezogen werden können, die von der Bevölkerung abgelehnt werden. Das ist schon seit Längerem und nicht erst seit der schwarzgelben Koalition sozusagen die Maxime des Regierungshandelns. Siehe die sogenannte Gesundheitsreform, Hartz IV, die Rente mit 67, die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke und vieles andere mehr. Immer wird dabei darauf hingewiesen, dass die Entscheidung demokratisch korrekt zustande gekommen und deshalb zu akzeptieren sei. Bei dem Bahnhofsprojekt wird allerdings verschwiegen, dass in der Vergangenheit alles getan wurde, um eine öffentliche Diskussion über seinen Sinn und seine Folgen zu verhindern. Eine nachträgliche Volksbefragung wurde als nicht verfassungskonform abgelehnt, obwohl ansonsten der Umgang der Regierenden mit dem Grundgesetz eine gewisse Kreativität aufweist. Dabei wird der Zustand offenkundig, den die repräsentative Demokratie – nicht nur hierzulande – erreicht hat. Formal korrekt werden Entscheidungen gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung gefällt und mit dem Verweis auf höhere Notwendigkeiten – sei es der Standort, die Innovationsfähigkeit oder andere angeblich allgemeine Interessen – legitimiert. Der Verweis auf regelmäßig stattfindende Wahlen geht dabei ins Leere, wenn man berücksichtigt, dass die herrschenden Parteien – in diesem Falle CDU, FDP und ursprünglich auch die SPD sich einig sind oder waren. Stuttgart 21 ist ein Exempel für die Aushöhlung des demokratischen Prozesses, die inzwischen die politische Normalität kennzeichnet. Dabei ist mehr als offensichtlich, dass es bei den politischen Entscheidungen in der Regel weniger um höhere Notwendigkeiten denn um Klientelbedienung geht. An dem Stuttgarter Milliardenprojekt verdienen viele: Baukonzerne, kreditgebende Banken und Ausrüstungslieferanten. Sicherlich ist auch die Siemens AG interessiert, die die ICE-Züge liefert und bei der Ministerpräsident Mappus (mit derzeit ruhendem Vertrag) angestellt ist. Überhaupt ist der personelle Filz zwischen Unternehmen und Politik gerade hier besonders beeindruckend (vgl. dazu K. Huckenbeck, „Am Zug“, in express, Nr. 10/11 2010). Welche Rolle Parteispenden und sonstige Formen der Korruption spielen, ist noch gar nicht richtig bekannt.

Das ist lange Jahre gut gegangen. Stuttgart könnte eine Wende bedeuten. Hier ist eine ziemlich übergreifende Volksbewegung entstanden. Die konkreten Interessen, die dabei zum Ausdruck kommen, mögen recht unterschiedlich sein. Das Gemeinsame besteht darin, dass politische Zumutungen der üblichen Art nicht mehr hingenommen werden. Die Aushöhlung der Demokratie zeigt allmählich Folgen. Natürlich erschreckt das die Herrschenden. Haben sie zunächst noch versucht, sich mit Gewalt durchzusetzen, mussten sie schließlich einem Schlichtungsverfahren zustimmen. Angesichts dessen, dass es in diesem Fall kaum um Kompromisse, sondern schlicht um Ja oder Nein geht, ist dessen Charakter einigermaßen durchsichtig. Das zum Symbol gewordene Projekt soll durch symbolische Politik gerettet und damit der Protest gespalten werden. Man kennt das von ähnlichen Fällen, z.B. vom Ausbau des Frankfurter Flughafens.

Dennoch: Wenn es gelingt, den Protest bis zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg Anfang des kommenden Jahres durchzuhalten, könnte dies zu einem Desaster nicht nur für die dort, sondern auch für die in Berlin regierende Koalition führen. Die Folgen sind kaum abschätzbar. Jedenfalls würde die neoliberal zurecht geschnittene und auf eine Formalität reduzierte Demokratie so nicht weiter funktionieren. Es geht bei Stuttgart 21 um sehr viel mehr als den Bau eines Bahnhofs.

© links-netz November 2010