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Deutsche Zustände Übersicht

 

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Berliner Tollhaus

Joachim Hirsch

Dass es nach der letzten Bundestagswahl unabhängig von deren Ergebnis so wie bisher weiter gehen würde, war zu erwarten. Die beiden großen Wahlverlierer haben sich zusammen getan, um eben die Politik fortzusetzen, der sie das Debakel verdanken. Es wurde eine Koalition gebildet, an der nur eines wirklich groß ist: die politische Konfusion. Programmatisch erschöpfen sich die Koalitionsvereinbarungen in den neoliberalen Grundprinzipien Sparen (bei den öffentlichen Finanzen) und Flexibilisieren (des Arbeitsmarkts). Um dies den Leuten näher zu bringen, wurden die Koalitionsverhandlungen mit einem propagandistischen Feuerwerk eröffnet, in dem sich immer tiefere Etatlöcher auftaten. Dem gemeinen Menschen konnte dabei richtig schwindelig werden. Hessens Ministerpräsident Koch sprach sogar von einem drohenden Staatsbankrott. Darin ist er freilich geübt, hat er doch sein Land in den letzten Jahren finanziell systematisch in die Miesen geführt. Dass Staatsschulden wirtschaftlich etwas anderes bedeuten als private und dass ein Staat höchstens dann bankrott ist, wenn er seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Ausland nicht mehr nachkommen kann – ein für Deutschland mit seinen enormen Handels- und Zahlungsbilanzüberschüssen gewiss unwahrscheinlicher Fall – kümmerte dabei wenig. Der Zweck der Übung bestand darin, Bereitschaft zur Hinnahme weiterer "Opfer" zu schaffen. Und bei den Deutschen greift das bekanntermaßen, gilt Sparen hier doch immer noch als besondere Tugend, wenn auch nicht bei allen und für alle. Gespart wird bei denen, die es seit Jahren notorisch trifft. Die Mittel für die Arbeitslosen werden mittels einer "Reform" der Hartz IV – "Reform" weiter beschnitten. Die Mehrwertsteuer, die vor allem die Ärmeren trifft, wird drastisch erhöht. Die Renten werden weiter gekürzt, was der eigentliche Sinn der Erhöhung des Renteneintrittsalters ist. Dazu noch der Abbau des Kündigungsschutzes und einiges andere mehr. Dass das Erziehungsgeld nun auf ein Elterngeld umgestellt wird, von dem die Besserverdienenden profitieren während die Ärmeren künftig leer ausgehen, darf als zusätzliches kleines Schmankerl verstanden werden. Die SPD hat sich nicht geschämt, ihr schon längst verloren gegangenes soziales Image durch eine "Reichensteuer" aufpolieren zu wollen, die niemand weh tut und kaum etwas einbringt. An eine Rücknahme der enormen Steuervergünstigungen, mit denen die Unternehmen von der letzten Regierung bedacht wurden, denkt selbstverständlich niemand.

Das Sparpaket hat selbst die wissenschaftlichen Propagandisten des Neoliberalismus wie zum Beispiel den Sachverständigenrat aufgeschreckt, führt es doch unter anderem dazu, die lahmende Binnenkonjunktur noch weiter zu schwächen. Selbst diesen so genannten "Wirtschaftsweisen" geht allmählich auf, dass die ständige Erhöhung der Unternehmensprofite durch staatliche "Angebotspolitik" das Problem mit sich bringt, dass immer mehr Leuten das Geld zum Kaufen fehlt. Nicht zuletzt deshalb macht sich sogar im Unternehmerlager eine gewisse Unruhe breit. Was also treibt die politische Klasse eigentlich an? Was bringt sie dazu, neoliberalen Dogmen anzuhängen, die inzwischen selbst von ihren Urhebern in Frage gestellt werden?

Man kann das mit politischer Inkompetenz erklären, wofür es in der Vergangenheit weidlich Beispiele gegeben hat. Offensichtlich läuft bei der Rekrutierung der sogenannten politischen Klasse einiges falsch - mit dem Ergebnis, dass wir es mit einem Personal zu tun haben, das nichts anders kennt als den gesellschaftlichen Status Quo, den es irgendwie zu managen gilt, dessen Hauptinteresse sich in der Sicherung der eigenen Position erschöpft und das nicht mehr fähig ist, eigene politische Perspektiven zu entwickeln. Von der sogenannten Basis weitgehend abgekoppelt und von Unternehmerfreunden, Lobbyisten und Beratern umgeben scheint ihm das Gespür für konkrete gesellschaftliche Probleme und das, was die Leute bewegt, verloren gegangen zu sein. Man könnte auch vermuten, dass die Verhältnisse einfach zu kompliziert geworden sind, um noch politisch bewältigt werden zu können. Konfrontiert mit widersprüchlichen Lobbyanforderungen, eingesessenen Interessen und komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen kann man da schon die Übersicht verlieren. Politik zu machen würde bedeuten, eigene und übergreifende Konzeptionen zu entwickeln statt sich durchzuwursteln und hin und wieder den neoliberalen Katechismus zu studieren. Anstelle perspektivloser Sparübungen hätte es beispielsweise angestanden, auf europäischer Ebene die Maastricht-Verträge - die neoliberale europäische Wirtschaftsverfassung - zu korrigieren und ein "soziales Europa" anzusteuern, von dem Gerhard Schröder just zu dem Zeitpunkt zu sprechen begann, an dem seine Amtszeit als Bundeskanzler abgelaufen war. Dazu fehlt indessen offensichtlich sowohl die politische Kraft als auch der Wille und das intellektuelle Vermögen.

Die neue Regierung tritt an, um die ökonomischen und sozialen Verhältnisse, den immer wieder beschworenen "Standort Deutschland" weiter zu ruinieren. Das wirft, ganz abgesehen von den personellen Aspekten, einige theoretische Fragen auf, die die Struktur des gegenwärtigen Kapitalismus betreffen. Gemäß der materialistischen Theorie ist der Staat die Instanz, die mittels ihrer formellen Trennung von den gesellschaftlichen Klassen in der Lage und gezwungen ist, die Gesamtinteressen des Kapitals und damit auch die Reproduktionsbedingungen des Systems auf längere Sicht zu gewährleisten. Seine "relative Autonomie" soll ihn in die Lage versetzen, auch gegen die Interessen einzelner Unternehmergruppen in der Weise zu handeln, dass die Kapitalverwertungsbedingungen insgesamt gesichert bleiben. Die liberaldemokratische politische Form macht es möglich und erzwingt es, soziale Kompromisse zu organisieren und allgemeine infrastrukturelle Bedingungen wie zum Beispiel halbwegs intakte ökologische Verhältnisse gegen die "Logik des Markts" durchzusetzen. Das funktioniert offensichtlich nicht mehr so richtig. Ein Grund dafür ist, dass die auf einzelstaatlicher Ebene institutionalisierte liberale Demokratie im Zuge des sogenannten Globalisierungsprozesses sehr stark ausgehöhlt wurde. Unter dem Diktat der Standortkonkurrenz scheint es keine politische Alternativen mehr zu geben und in der Parteienkonkurrenz geht es nur noch darum, wer das am besten macht, was der angebliche Sachzwang gebietet. Das politische System schafft keine sozialen Ausgleiche mehr und wird so kurzsichtig wie das unternehmerische Profitkalkül.

Ein entscheidender Grund für die veränderte Funktionsweise des Staates dürfte in der inzwischen weit vorangeschrittenen Internationalisierung des Kapitals zu suchen sein. Der kapitalistische Machtblock, um mit Nicos Poulantzas zu sprechen, hat sich neu konfiguriert. Dabei hat sich das Verhältnis von "Staat" und "Kapital" verschoben. Die dominierenden transnationalen Unternehmen sind von den einzelnen Staaten, d.h. von den im nationalstaatlichen Rahmen organisierten Reproduktionszusammenhängen unabhängiger geworden. Die Interessendifferenzen zwischen ihnen und den Teilen des Kapitals, die immer noch auf den inneren Markt angewiesen sind, werden größer. Der kapitalistische "Machtblock" ist hochgradig fragmentiert und eine über den Staat zu vermittelnde "Politik des Kapitals" ist nur noch schwer zu formulieren, insbesondere wenn politische Führung im Gestrüpp der widerstreitenden ökonomischen Interessen untergeht. Insgesamt wird das kapitalistische Interesse an der Entwicklung der "nationalen" Standort- und Verwertungsbedingungen, verstanden als ein Komplex ökonomischer, gesellschaftlicher und infrastruktureller Verhältnisse, schwächer. Es berührt die transnationalen Unternehmen einfach nicht mehr so sehr, wenn in einem Land der gesellschaftliche Zusammenhalt zerbröselt und die politischen Verhältnisse instabil werden. Dann investiert man eben in einem anderen, erschließt neue Märkte irgendwo in der Welt und vertraut im übrigen darauf, dass das Ganze auch repressiv zusammengehalten werden kann. Immer stärker beschränkt sich das unternehmerische Interesse darauf, den Shareholder Value kurzfristig zu maximieren, egal welche Folgen dies auf längere Sicht gesellschaftlich und ökonomisch hat. In dieser Situation eröffnet sich für das regierende Personal der Raum für eine Politik, die ungeachtet aller gesellschaftlichen Folgen und trotz ihrer längst sichtbaren empirischen Widerlegung neoliberalen Glaubenssätzen folgt und im übrigen die kurzfristigen Interessen relevanter Unternehmergruppen bedient.

Daraus kann man schließen, dass es mit dem eisernen Sparen am Ende gar nicht so weit her sein wird. Es wird eben die betreffen, die es notorisch trifft. Die Unternehmen können auf weitere Geschenke hoffen. Weitere Steuererleichterungen sind schon angekündigt und der Bau einer milliardenschweren Transrapidstrecke, um nur ein Beispiel zu nennen, ist bereits beschlossen.

Das kann offensichtlich geschehen, ohne dass sich größerer Widerstand regt. Das herrschende Parteienkartell glaubt immer noch, seine Politik verfolgen zu können, ohne auf parlamentarischer Ebene Konkurrenz zu bekommen. Das Ergebnis der letzten Bundestagswahl war immerhin eine Warnung. Es wird einiges getan werden, um das nicht noch einmal geschehen zu lassen. Die Farce um die Wahl Biskys zum stellvertretenden Parlamentspräsidenten ist nicht nur eine kleingeistige Ranküne der vereinigten Wahlverlierer, sondern Bestandteil einer Ausgrenzungs- und Diffamierungsstrategie, bei der auch die sich weitgehend selbst gleich schaltenden Medien munter mitmachen. Das verweist indessen auf eine wichtige andere Seite der herrschenden Zustände. Dass die Mehrzahl der Leute von der Berliner Politik nur noch Ungutes erwartet, sich aber nicht dagegen auflehnt, liegt auch am Fehlen einer klaren und einsehbaren Alternative zur herrschenden Politik. Hier liegt ein Versagen der linken und linksliberalen Kräfte, denen dazu auch nicht mehr viel einzufallen scheint. Dies gilt sowohl inhaltlich als auch vom Politikbegriff her, die sich in den letzten Jahren immer mehr auf die etatistische Perspektive verengt hat. Es bedürfte einer neuen und starken außerparlamentarischen Bewegung, um die Berliner Verhältnisse über die langweiligen Personalkarussells hinaus zum Tanzen zu bringen. Davon ist aber vorläufig nichts zu spüren. Und so kann man, wie ehemals Heinrich Heine in ähnlich desolaten Zeiten, wirklich um den Schlaf gebracht werden, wenn man an Deutschland denkt.

© links-netz November 2005