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Vom Sicherheitsstaat zum totalitären Überwachungsstaat

Joachim Hirsch

War spätestens nach dem deutschen Herbst von der Entwicklung zu einem autoritären Sicherheitsstaat die Rede, so ist das inzwischen Geschichte. Was damals zu einiger öffentlicher Erregung führte, erscheint heute fast harmlos. Es war immerhin der kritischer Radikalität eher unverdächtige Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung, der kürzlich festgestellt hat, dass sich Deutschland auf dem Weg in einen Überwachungsstaat befindet und dabei eine Parallele zu totalitären Systemen gezogen hat (Spiegel 38/2007). Schäuble & Co. haben es mit der permanenten Inszenierung von Kriminalitäts- und Terrorbedrohungen so weit gebracht, dass inzwischen praktisch alle rechtsstaatlichen und demokratischen Barrieren beiseite geräumt sind. Es fällt immer schwerer, die permanent anschwellende Flut von einschlägigen Gesetzen und Maßnahmen überhaupt noch zu überblicken. Der Innenminister mag, wie übrigens auch sein Vorgänger in der rot-grünen Regierung, ein krankhafter Paranoiker sein. In seinem Falle gäbe es angesichts des nur knapp überstandenen Attentats dafür sogar eine Erklärung. Dies mindert jedoch nicht sein politisches Geschick, durch die Präsentation immer neuer Bedrohungsszenarien, systematisch inszenierter Terroristenjagden und fast jeden Tag neu aufgelegter Pläne für Überwachungsmanöver die Demontage des Rechtsstaats immer weiter voranzutreiben. Die Methode ist simpel: ein offenkundig aberwitziger Vorschlag wird öffentlich kritisiert, löst beim Koalitionspartner pflichtschuldiges Stirnrunzeln hervor, wird zurückgezogen oder verharmlost und schon ist der Boden bereitet für die Durchsetzung neuer, im Vergleich dazu etwas weniger radikaler Verschärfungen. Bis zum nächsten Coup. Salamitaktik eben. Und weil er damit so erfolgreich ist, mag ihm schließlich auch der Verteidigungsminister Jung (das ist der, der einst an prominenter Stelle in den hessischen CDU-Parteispendenskandal verwickelt war) nicht nachstehen. Medienaufmerksamkeit sichert das auf jeden Fall, und was will ein Politiker mehr?

Totalitäre Regime zeichnen sich dadurch aus, dass der Schutz der Privatsphäre aufgehoben ist und rechtsstaatliche Normen nicht gelten. Dieser Zustand ist hierzulande inzwischen weitgehend erreicht. Überwachungskameras allerorten, Onlinedurchsuchungen, Telefonabhörung, Handyortung und vieles andere mehr sorgen dafür, dass praktisch keine Bewegung, keine Handlung und keine Äußerung mehr unbeachtet bleibt. Für Emails gilt das Briefgeheimnis ohnehin nicht. Telefonabhörungen werden von Richtern – soweit sie ihnen überhaupt vorgelegt werden – im Fließbandverfahren genehmigt. Der Rechtsstaat bleibt nicht zuletzt auf der Strecke, wenn einschränkende Urteile des Bundesverfassungsgerichts einfach nicht mehr beachtet werden, wie es inzwischen üblich geworden ist. Vom Grundgesetz her sind beispielsweise Onlinedurchsuchungen enge Grenzen gesetzt und das Verfassungsgericht verhandelt demnächst über ihre Zulässigkeit. Dies hindert jedoch Schäuble (und neuerdings auch den Stoiber-Nachfolger) nicht daran, sie jetzt schon munter zu praktizieren, Gericht hin, Gericht her. Der Verteidigungsminister bereitet den Abschuss von Zivilflugzeugen vor, obwohl das Gericht dieses als verfassungswidrig bezeichnet hat. Wenn dann der Bundeswehrverband die Piloten auffordert, solch rechtswidrigen Befehlen nicht zu folgen, kündigt er die Rekrutierung einer gewissermaßen privaten Mörderbande an, die bereit ist, eben dies zu tun. Das kennt man sonst nur von Banananrepubliken. In der Presse war in diesem Zusammenhang von einem „Fehltritt“ Jungs die Rede, und der Ex-Bundeskanzler Schmidt hat dessen Äußerungen als „unzweckmäßig“ bezeichnet. Beides ist ein Irrtum. Die Äußerungen waren wohl kalkuliert. Es ging dabei gar nicht um die Sache selbst, sondern um den erneuten Versuch einer Diskursverschiebung. Mit dem Ausmalen der Terrorgefahr sollen Bundeswehreinsätze im Inneren legitimiert werden, die ebenfalls verfassungswidrig sind. Die Frage, wann eigentlich ein Minister entlassen und vor Gericht gestellt wird, der ganz offen seinen Amtseid und die Verfassung bricht, ist angesichts einer großen Koalition, einer quantitativ wie qualitativ schwachen Opposition sowie einer eher verständnisvollen Öffentlichkeit eigentlich müßig. Mit der bewussten Vorankündigung eines so genannten übergesetzlichen Notstands, mit dem die Verfassung außer Kraft gesetzt werden soll, hat er das auf die Spitze getrieben, was die konstitutionelle Entwicklung in der Bundesrepublik schon seit langem kennzeichnet: die Aushebelung des geschriebenen Grundgesetzes mit der Berufung auf übergeordnete „Werte“. Früher war das die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Da man sich auf derartig Veraltetes nun wirklich nicht mehr beziehen will und kann, ist an ihre Stelle „Sicherheit“ getreten, dass Passepartout für jeden Gesetzesbruch. Soziale Sicherheit ist damit natürlich keineswegs gemeint. Diese wird vielmehr planmäßig immer weiter abgebaut. Mit öffentlichen Spekulationen über Gefährdungen, die konkret überhaupt nicht vorhersehbar sind, soll die Verfassungslegalität präventiv ad acta gelegt werden.

Es bleibt allerdings die Frage, weshalb dies alles so reibungslos über die Bühne gehen kann. Man denke etwa an die Zeiten, in denen noch das vergleichsweise simple Vorhaben einer Volkszählung zu einer beachtlichen Protestbewegung führte. Heute braucht man Volkszählungen gar nicht mehr, weil alle erforderlichen Daten ohnehin längst verfügbar sind und permanent aktualisiert werden. Selbstverständlich gibt es immer noch einige Aufrichtige, die eindringlich vor dieser Entwicklung warnen, aber es passiert praktisch nichts, abgesehen von ein paar Geplänkeln innerhalb der Koalition, die im wesentlichen der Profilbildung dienen, während man sich in der Sache weitgehend einig ist. Die in Berlin können offensichtlich völlig ungehindert weiter machen. Man bekommt den Eindruck, als sei es den Leuten einfach egal, was die einschlägigen Ministerien und Staatsschutzbehörden treiben.

Es lässt sich vermuten, dass dies sehr stark mit der neoliberalen Transformation von Staat und Gesellschaft zusammen hängt. Die Erkenntnis, dass im Zuge der so genannten Globalisierung demokratische Institutionen leer laufen, inhaltlich folgenreiche demokratische Teilnahme praktisch nicht mehr stattfindet und Regierungen notorisch gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit handeln, prägt das allgemeine Bewusstsein inzwischen nachhaltig. Wenn Wahlen nichts bewirken, öffentliche Mobilisierungen und Demonstrationen an dem geschlossenen Machtkartell von Staat und Kapital abprallen, lässt sich eben nichts gegen die Übergriffe der Regierenden machen. Dazu kommt das aus der permanenten Mobilisierung der Standortkonkurrenz erwachsende wohlfahrtschauvinistische Syndrom. Die Verteidigung relativer Privilegien und einer Lebensweise, die offenkundig in eine globale Katastrophe führt sowie die planmäßig geschürte Angst vor einem Terrorismus, der eben dadurch genährt wird, lässt den Verzicht auf Demokratie und Rechtsstaat als unvermeidlich erscheinen. Und diejenigen, die durch die „Reform“ des Sozialstaats an den gesellschaftlichen Rand gedrängt worden sind, haben ohnehin andere Sorgen, zumal ihnen als gläsernen „Kunden“ der Arbeitsagenturen der Schutz der Privatsphäre längst entzogen ist. Das Privileg, den Sprössling mit einem spritfressenden Geländewagen zur Schule fahren zu können, ist jedenfalls allemal wichtiger als rechtsstaatlicher Klimbim. Wenn das Auto zum beherrschenden Fetisch und Lebensmittelpunkt geworden ist, hat die Sicherung der Treibstoffversorgung erste Priorität, und deren Folgen, der Terrorismus eben, macht leider Einschränkungen erforderlich. Die Zerstörung demokratisch-rechtstaatliche Verhältnisse ist halt der Preis für das schöne Leben in einer Wohlstandsfestung. Im Übrigen stellt in einer Gesellschaft, in der die Veröffentlichung des Privaten der bevorzugte Gegenstand einer massenmedialen Unterhaltungsindustrie geworden ist, der Schutz der Privatsphäre ohnehin keinen besonderen Wert mehr dar. Der Überwachungsstaat findet sein Pendant im generellen Verlust der Intimität. Dass es üblich geworden ist, mittels Kundenkarten im Austausch gegen einige lächerliche Gratifikationen den Firmen eine Masse persönlicher Daten zu überlassen, ist ein Symptom dafür. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, vom Gericht einst in den Grundrechtsstatus erhoben, wird offensichtlich so interpretiert, dass alles über sich selbst öffentlich gemacht werden kann. Man hat schließlich nichts zu verbergen. Wir haben uns daran gewöhnt, in einer Welt von Strichcodes und eingebauten Chips zu leben, die jede Regung zum Gegenstand privater und staatlicher Kontroll- und Überwachungsnetze machen.

Genau genommen vollzieht sich hierzulande so etwas wie die Etablierung chinesischer Verhältnisse. Es entwickelt sich ein politisches System, das den Mangel an grundlegenden demokratischen und rechtstaatlichen Garantien damit kompensiert, dass genügend Spielräume für private Bereicherung geboten werden. So lange hemmungslos Geld gemacht werden kann, scheint die Sache in Ordnung zu sein, auch wenn dies gelegentlich mit durchaus kriminellen Mitteln geschieht. Dass dabei die Gesellschaft mehr und mehr auseinander fällt und eben dies den weiteren Ausbau der politischen Repressions- und Überwachungssysteme fördert, ist kein öffentliches Thema. Daran wird deutlich, dass der Kampf gegen den Überwachungsstaat für sich genommen zu kurz greift. Die Wurzel des Problems liegt in der neoliberal transformierten Gesellschaft selbst. Die Frage ist, wie dieser Zustand verändert werden könnte.

© links-netz Oktober 2007