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Versagereliten

Joachim Hirsch

Allenthalben ertönt der Ruf nach „Eliten“, die man angeblich ganz dringend braucht, um in der globalisierten Konkurrenz besser bestehen zu können. Das Bildungssystem wird zurzeit darauf getrimmt, nicht nur „Elitennachwuchs“ sondern auch die dazu gehörenden Heloten zu produzieren. Diese Gruppe der nicht dazu Gehörenden soll den Niedriglohnsektor bedienen. Freilich müssten sich angesichts dessen, was die derzeit herrschende „Elite“ anrichtet, gewisse Bedenken melden. Und tatsächlich hat inzwischen selbst Bundespräsident Köhler mit Blick auf die neueste Finanzmarktkrise unsere Banker-„Elite“ scharf kritisiert. Diese erfände immer neue „Finanzinnovationen“ – auch Derivate genannt –, verstände aber nicht einmal deren Wirkung. Er muss es wissen, war er doch selbst lange in diesem Geschäft tätig. Die Kritik ist indessen nicht ganz zutreffend. Die Banker verstehen sehr wohl, dass sich damit schnell mal Geld machen lässt. Die weiteren Wirkungen sind ihnen einfach schnuppe, da diese nicht in ihren Kompetenz- und Verantwortungsbereich fallen. Dass sie damit hin und wieder ihre Firmen in den Bankrott treiben, ließe sich verschmerzen, wenn nicht sogleich Steuergelder zu deren Sanierung herangezogen würden, die für andere Zwecke dringend nötig wären. So gibt es halt für die ALGII-Abhängigen, die Rentner usw. leider kein Geld, um ihnen wenigstens ein menschenwürdiges Leben zu garantieren. Ganz abgesehen davon haben die Umtriebe der Finanzjongleure durchaus „realwirtschaftliche“ Auswirkungen, indem sie z. B. noch mehr Leute in die Armut treiben. Die Finanz-Innovationen teilen die Qualität vieler anderer, die unsere hochtechnologische Leistungsgesellschaft fortwährend hervorbringt. Sie schaffen gegebenenfalls mal enorme Profite, sind aber sehr oft kaum zu etwas nütze und richten häufig eher Schaden an. Die als besonders fortschrittlich gerühmten Produkte der deutschen Autofirmen sind ebenso ein Beispiel dafür wie die mutmaßlichen Verheerungen, die die Genindustrie langfristig anrichtet. Die Höhe der Managergehälter (oder der Abfindungen, wenn sie mal wieder ein Unternehmen in den Sand gesetzt haben) verhalten sich offensichtlich ziemlich genau umgekehrt proportional zu ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit .

Beim inzwischen ziemlich frustrierten Wahlvolk hat sich Köhler mit seinen Äußerungen in der Beliebtheitsskala bestimmt noch ein Stück weiter nach oben gehievt. Er hätte sich freilich durchaus auch an die eigene Nase fassen können. Bei unseren PolitikerInnen sieht es nicht anders aus. Offenkundig sind sie kaum noch in der Lage, die Wirkungen dessen einzuschätzen, was sie tagtäglich treiben. Gesetze bewirken immer öfter das Gegenteil von dem, was sie angeblich sollten, oder sie müssen, kaum in Kraft getreten, schon wieder revidiert werden. Und so jagt eine Reform der Reform die nächste. Je weniger sie in der Lage sind, die Bedingungen und Folgen ihres Handelns zu überblicken, desto leichter geben sie sich in die Hände von Beratern. Diese wissen es zwar auch nicht besser, können aber im Zweifelsfall wissenschaftliche Reputation ins Feld führen, auch wenn es sich dabei eher um theologische Glaubenssysteme handelt wie insbesondere bei unseren wunderbaren Wirtschaftssachverständigen. Auf jeden Fall ist auch die Politikberatung ein Geschäft, insoweit sind sich Beratungspapiere und Finanzderivate durchaus ähnlich. Freilich hat dies Folgen, die gegebenenfalls noch gravierender sind als die Umtriebe ihrer befreundeten Unternehmerkollegen. Dass die derzeit aktive „Elite“ dabei ist, das Land in jeder Hinsicht zu ruinieren, ist kaum noch zu übersehen.

Die Frage ist, woher das rührt. Sind die Dinge zu komplex geworden, um von normalen Menschen noch durchschaut werden zu können? Wachsen den Menschen ihre Produkte immer mehr über den Kopf und beherrschen sie, wie Marx schon früh diagnostiziert hat? Oder fehlt den „Eliten“ einfach die nötige Kompetenz? Sind sie also zu schlecht ausgebildet? Gegen das Komplexitätsargument spricht, dass diese systematisch hergestellt wird. Finanzderivate lassen sich eben besser verkaufen, wenn man nicht genau weiß, wie sie funktionieren und man den auf Buntpapier präsentierten Renditeversprechungen vertraut. Das kaum noch überschaubare Chaos in der Politik ist eine probate Voraussetzung dafür, dass sich am Ende die mächtigen Interessen durchsetzen können und irgendwie niemand dafür verantwortlich ist. Inkompetenz also als Bereicherungs- und Herrschaftsmittel? Möglicherweise sind die Rekrutierungsmechanismen der „Elite“ so geartet, dass sie eben diese Sorte von Menschen hervorbringen. Wenn Manager nur noch nach Monatsrenditezahlen honoriert und nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn längerfristig alles schief geht, nimmt es nicht Wunder, dass sich in diesen Kreisen ein ganz bestimmter Persönlichkeitstypus durchsetzt. Und wenn Parteien nicht mehr sind als Stimmbeschaffungsmaschinen und Karrierevehikel, dann wird eben ein Politikertyp erfolgreich, dem es nicht um Inhalte, sondern um materielle Pfründe und Machterhalt geht. Die Angehörigen der heutigen „Eliten“ erscheinen insgesamt als eine Ansammlung von Clonen eines smart erscheinenden Menschentyps, der Überblick und Verantwortung durch Angeberei und Frechheit ersetzt. Wie wäre es sonst möglich, dass unternehmerische Versager gigantische Gehälter und Abfindungen kassieren und die Politiker heute das Gegenteil von gestern sagen, nur weil es wahl- und stimmungstaktisch gerade passt?

Genau genommen wäre so etwas wie eine „Elite“ ganz gut zu gebrauchen. Es müsste sich allerdings um eine andere handeln als die, die derzeit am Werk ist. Nämlich eine, die nicht aus sich selbst bereichernden Bourgeois, sondern aus Menschen besteht, die gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein aufbringen – Citoyens also, um bei der Marx’schen Unterscheidung zu bleiben. Diese gibt es im Übrigen durchaus, auch wenn sie im herrschenden Sprachgebrauch nicht eben zu den Eliten gezählt werden. Wissenschaftler beispielsweise, die gegen das Geplapper des ideologischen mainstreams auftreten; Intellektuelle, die ihre Lebensaufgabe nicht in Talkshowauftritten sehen; Leute, die sich praktisch für Flüchtlinge einsetzen; solche, die sich über die natürlichen Lebensbedingungen Gedanken machen und etwas dagegen tun, dass sie allmählich völlig ruiniert werden, die MitarbeiterInne der NGOs, die das internationale Verbot der Landminen durchgesetzt und dafür sogar einen Nobelpreis bekommen haben. Kurzum: diejenigen, die etwas dagegen zu tun versuchen, was die herrschende „Elite“ anrichtet.

Auf einen wirklichen Wandel der „Eliten“ zu hoffen ist, allerdings ziemlich illusionär. Nicht nur die herrschenden Rekrutierungsmechanismen in den wirtschaftlichen und politischen Apparaturen, sondern auch die aktuellen „Reformen“ des Bildungssystems á la bolognese sorgen dafür, dass der Typus der Systemmarionetten, die Strippenziehern gehorchen, die sie selbst nicht einmal kennen und die weder die Bedingungen noch die Folgen ihres Handelns durchschauen, sich weiter durchsetzen wird. Statt leichthändig über „Elite“ zu schwafeln wäre es vielleicht sinnvoll, mal genauer darüber nachzudenken, was man unter einer solchen verstehen sollte, wenn man diesen Begriff nicht in den Dimensionen persönlicher Interessendurchsetzung, sondern in gesellschaftlicher Verantwortlichkeit verhandelt. Sonst könnten wir eventuell erleben, dass die sich selbst so nennende „Wissensgesellschaft“ an ihrer eigenen Verblödung zugrunde geht.

© links-netz Juni 2008