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Deutsche Zustände Übersicht

 

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Was anstehende Wahlen so bewirken

Joachim Hirsch

Im kommenden Herbst gibt es mal wieder eine Bundestagswahl. Das Interesse des Publikums an dem etwas zäh angelaufenen Wahlkampf ist eher verhalten. Das ist auch kein Wunder angesichts der Erfahrung, dass Regierungen grundsätzlich eher den Interessen irgendwelcher „Märkte“ zu Diensten sind als den Bedürfnissen ihres Wahlvolks Beachtung zu schenken, sofern wichtige Entscheidungen nicht ohnehin in Brüssel oder auch bei der Europäischen Zentralbank in Frankfurt fallen, wo von demokratischen Verhältnissen nicht einmal im formalen Sinn die Rede sein kann.

Es geht bei den Wahlen ja auch nicht um demokratische Willensbildung und Interessenvermittlung, wie es im Lehrbuch heißt, sondern um die Konkurrenz der Parteien um staatliche Pfründe. Joseph Schumpeters bereits in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts formulierte Definition von liberaler Repräsentativdemokratie als einigermaßen geregelte Konkurrenz der Parteien um Wählerstimmen unabhängig von politischen Inhalten trifft die herrschenden Zustände mehr als je zuvor. Grundlegendere gesellschaftliche Alternativen werden auf der Parteienebene praktisch nicht mehr entwickelt. Und was sich an den Rändern des herrschenden Kartells – Johannes Agnoli hatte dabei von einer „virtuellen Einheitspartei“ gesprochen – abspielt, lässt darauf ebenfalls kaum hoffen. Die Linkspartei möchte im Grunde alles so haben wie früher, die Piraten haben sich mangels politischer Kompetenz schnell selbst demontiert und der neue Aufsteiger „Alternative für Deutschland“ ist ein Männerclub, der davon profitieren will, dass für die herrschende Krise und was ihre Profiteure daraus machen der EURO verantwortlich gemacht wird.

Aber da es um Mehrheiten, d.h. Macht, Geld und Einfluss geht, sind die Parteistrategen natürlich etwas nervös, wie immer vor Wahlen. Gegenwärtig ist diese Nervosität wohl noch stärker, da Frust und Wut über die herrschenden Zustände recht verbreitet und das Vertrauen in die sogenannte politische Klasse auf einem Tiefpunkt sind. Das äußert sich zwar immer noch nicht in massenhaften Protestaktionen wie im europäischen Süden, könnte aber die Wahlentscheidung beeinflussen. Deshalb muss der allgemeinen Stimmung etwas entgegengekommen, also eine soziale Seite gezeigt werden. Angela Merkel, außer der es bei den Christdemokraten kaum mehr jemand von politischer Relevanz gibt, präsentiert sich als immer besorgte Mutter der Nation und versucht, über ihre Politik und deren Folgen erst gar nicht zu reden. Dann besser schon der Talk über das Privatleben. Die bayerische CSU muss derweil vor allem versuchen, die Folgen ihres neuesten Filzskandals einzudämmen. Der SPD-Kanzlerkandidat präsentiert den Gewerkschaftsboss und Hartz IV-Kritiker Wiesehügel als möglichen Minister, obwohl er selbst diese „Arbeitsmarktreform“ immer noch für gut hält und sicher daran festhalten wird. Und plötzlich ist der „gesellschaftliche Zusammenhalt“ zu einem Thema von Sonntags- und Wahlreden geworden, als hätten nicht gerade die, die gerne darüber reden, alles getan, um die Menschen auseinanderzudividieren und die Ungleichheiten zu vergrößern. Schließlich haben alle Parteien zusammen plötzlich den Mindestlohn als Abhilfe gegen die gesellschaftlichen Unerträglichkeiten entdeckt, die sie selbst hervorgerufen haben. Selbst die FDP konnte sich dem nicht ganz entziehen. Zwar haben ihre „Lohnuntergrenzen“ mit einem wirklichen Mindestlohn nichts zu tun, aber man kann sich damit in den herrschenden Chor einfügen und sich ein klein wenig sozial geben. Ansonsten hat sie sich von der Steuersenkungs- zu einer Steuerhöhungsvermeidungspartei gemausert, was kaum mehr anders geht, wenn man die Fahne der neoliberalen Spar- und Austeritätspolitik weiter vor sich her tragen will und die Sozialstaatsdemontage nicht ganz in die Wahlkamplandschaft passt..

Umso interessanter sind die Versuche der SPD und der Grünen, mit auf den ersten Blick eher unpopulär erscheinenden Programmatiken zu punkten, sich also scheinbar der ansonsten verbreiteten populistischen Politikstrategie zu entziehen. Sigmar Gabriel von der SPD setzte den Vorschlag eines Tempolimits auf Autobahnen in die Welt. Er wollte sich wohl – nicht zuletzt im Hinblick auf mögliche Koalitionen nach der Wahl – für ein „grünes“ Thema stark machen. Das hielt allerdings angesichts des Umstandes nicht lange, dass damit nicht zuletzt die mit der Autoindustrie verbandelte IG Metall vor den Kopf gestoßen wurde, ganz abgesehen von der immer wichtigen Rücksicht auf den ADAC, der immerhin erheblich mehr Mitglieder hat als die sozialdemokratische Partei. Nachhaltiger wirkte schon die Ankündigung der NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, die beamteten Staatsdiener mit einer weiteren Lohnerhöhungs-Nullrunde und damit fühlbaren Reallohneinbußen zu beglücken, also sozusagen auch hierzulande ein klein wenig griechische Verhältnisse einzuführen. Das könnte sich wahlkampftaktisch sogar auszahlen, kann sie dabei doch auf die verbreitete Akzeptanz der Sparpolitik und die neoliberal unterfütterte Kritik am bürokratischen Staatsapparat setzen.

Besonders interessant sind die programmatischen Ankündigungen der Grünen, spürbare Steuererhöhungen schon bei nur etwas besser Verdienenden durchzusetzen. In den Medien wurde dies als ungeschickt eingefädelten politisches Selbstmordunternehmens gehandelt, was sich allerdings als Irrtum herausstellen könnte. Die Grünen vertreten eine ähnliche soziale Schicht wie die FDP, eben Besserverdienende. Allerdings mit dem Unterschied, dass es sich dabei eher um die moderneren und für politische Veränderungen aufgeschlossenere Teile handelt. Was ihnen einleuchten kann, ist eine Art von nachhaltigem Neoliberalismus, dessen Horizont über Vierteljahresbilanzen und kurzfristige Profitmaximierung hinausreicht, die längerfristigen Bestands- und Stabilitätsbedingungen des bestehenden Wirtschaftssystems eher im Auge hat und sich darüber im Klaren ist, dass es auch etwas kostet, wenn alles beim Alten bleiben soll. Dafür könnten die Grünen bei ihrem Klientel Verständnis finden. Im Unterschied zu der programmatisch wie personell heruntergekommenen FDP sind sie eine moderne Partei, halbwegs liberal und mit einem gewissen sozialen Touch – also das, was ihre Konkurrentin zu sozialliberalen Zeiten einmal war. Das könnte sich als erfolgreich erweisen und beweist Hegemoniefähigkeit, etwas, was den anderen Parteien abgeht.

Egal, welche Regierung nach der nächsten Wahl gebildet werden wird: viel ändern wird sich nicht. Die virtuelle Einheitspartei wird weiterhin ihr Werk tun, nun wieder befreit von den Irritationen, die die Existenz eines Wahlvolks gelegentlich mit sich bringt.

© links-netz Mai 2013