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Staat und Krise

Joachim Hirsch

Die neue Weltwirtschaftskrise hält inzwischen schon einige Zeit an und damit mehren sich auch die Publikationen, die sich ökonomie- und politikkritisch mit ihren Ursachen, Auswirkungen und Konsequenzen befassen. Insofern betritt die neueste Nummer (57, 2009) der Zeitschrift Widerspruch mit dem Schwerpunkt >Staat und Krise< nicht eben Neuland, enthält aber neben Altbekanntem durchaus auch interessante und weiter führende Beiträge. Dabei stehen die Frage der kriseninduzierten Transformation von Staaten und Staatensystem sowie Überlegungen im Vordergrund, wie unter diesen Bedingungen eine emanzipative Politik aussehen müsste.

Elmar Altvater verweist noch einmal auf den Zusammenhang von Wirtschafts-, Finanz-, Energie- und Klimakrise, die allesamt auf das kapitalistische Produktions- und Konsummodell als „Mutter aller Krisen“ zurückzuführen sind, kritisiert die staatliche Krisenpolitik und argumentiert, dass ohne einen ökologischen Umbau des Kapitalismus keine nachhaltige Lösung möglich sein wird. Überlegungen zu einem „ökologischen New Deal“ hält er für verfehlt, weil diese – nach wie vor auf forciertes Wachstum bauend – nicht mehr als eine Modifikation der herrschenden Politik beinhalten. Birgit Sauer setzt sich mit der Frage auseinander, welche Auswirkungen die – gemeinhin als Internationalisierung bezeichnete – Reorganisation der Staatsapparatur für die Formen patriarchaler Herrschaft hat und welche Konsequenzen sich daraus für die Kämpfe der Frauen ergeben. Henning Melber präsentiert eine Kritik der Debatte über den afrikanischen Staat, die er insofern für unterbelichtet hält, als dabei sowohl die Eigenheiten der kolonialen Staatenbildung als auch der daraus resultierende Charakter der nachkolonialen Regime kaum berücksichtigt werden. Eine wichtige These ist, dass die von der aktuellen Krise weiter voran getriebene Umstrukturierung der internationalen Machtverhältnisse den afrikanischen Staaten neue Manövrierräume gibt, die aber nur genutzt werden können, wenn es gelingt, die in vielen Ländern herrschenden Kleptokratien durch Widerstand von innen und von unten zu überwinden. Die Schlussfolgerung, eine durch soziale Initiativen und Bewegungen durchgesetzte Rationalisierung der politischen Herrschaftssysteme und damit „mehr afrikanischer Kapitalismus“ sei ein möglicher Weg aus der bestehenden Misere ist zwar diskutabel, bleibt aber mit der Frage der Bestandsfähigkeit und Nachhaltigkeit dieses Gesellschaftsmodells überhaupt konfrontiert.

Einen krisentheoretisch interessanten Beitrag liefert Klaus Dörre. Er verweist darauf, dass der Kapitalismus zu seiner Reproduktion immer auf ein „Außen“, d.h. auf nicht-kapitalistische und nicht marktförmige Verhältnisse angewiesen ist, die er zugleich immer wieder vereinnahmt und zerstört. Seine Entwicklung sei demzufolge als eine Abfolge krisengetriebener „Landnahmen“ zu verstehen. Allerdings beruhe die Eigenart dieses Systems darauf, ein „Außen“ immer wieder neu herzustellen. Staat und Politik spielen dabei eine zentrale Rolle, wobei ein Wechselspiel von Kommodifizierung und Dekommodifizierung zu verzeichnen sei. Dörre hält es für möglich, dass es sich bei der aktuellen Krise um eine Transformationskrise handelt, durch die sich die herrschende Form der Landnahme erneut verändert und einen Wechsel zu einem „ökologischen New Deal“ sowie zu erweiterten Infrastrukturinvestitionen, also eine Gegenbewegung zum neoliberalen Modell impliziert. Ein solcher Dekommodifizierungsprozess setze allerdings eine soziale Mobilisierung voraus, mit der die im Neoliberalismus angelegte Tendenz zu regressiver Modernisierung umgekehrt werde. So betrachtet, erscheint Kapitalismuskritik in gewissem Sinne als Quelle sozialer Innovation, die zur Stabilisierung der kapitalistischen Gesellschaftsformation gegen ihre selbstzerstörerischen Tendenzen beiträgt. Die Argumentation steht in der Tradition Rosa Luxemburgs, Karl Polanyis und Burkart Lutz`(wobei die beiden Letztgenannten allerdings gar nicht erwähnt werden). Im Unterschied zu Luxemburg geht Dörre allerdings davon aus, dass das „Äußere“ als Folge der durch die Krisen vorangetriebenen Transformationsprozesse in neuen Formen hergestellt werden kann. Die These ähnelt auch der von David Harvey mit dem Begriff „Akkumulation durch Enteignung“ vorgetragenen, enthält aber auch gleichzeitig eine interessante Reflexion über den aktuellen Status kritischer Diskurse.

Dass in den laufenden Diskussionen immer noch gewisse Unsicherheiten bezüglich der Theorie des kapitalistischen Staates vorhanden sind, zeigt sich auch in diesem Heft. Deutlich wird das, wenn Elmar Altvater meint, der Staat könne, „getragen von sozialen Bewegungen, von Bürgerinnen und Bürgern in öffentlichen Räumen demokratischer Partizipation“ (18) irgendwie im Interesse eines Gemeinwohls tätig werden. Das hat die kritische Staatstheorie bisher anders gesehen. Ebenso kurzschlüssig ist es, wenn Birgit Sauer den modernen Staat als aus den Geschlechterverhältnissen entstanden sieht (37). Diese sind bei seiner Konstitution gewiss nicht unerheblich, aber es bleibt dabei die spezifisch kapitalistische politische Form ausgeblendet, ohne deren Berücksichtigung es unmöglich ist, die aktuellen staatlichen Transformationsprozesse zu begreifen.

Präziser argumentieren in dieser Hinsicht Bieling, Wissel und Brand. Hans-Jürgen Bieling fragt, wie der anhaltende Erfolg des Leitbildes eines sozusagen um eine Katastrophenschutzfunktion erweiterten Wettbewerbsstaates trotz einer vehementen Kritik am Neoliberalismus zu erklären ist und untersucht die Staatsprojekte, die sich seit den siebziger Jahren als Reaktion auf spezifische Krisenlagen herausgebildet haben. Einen Grund dafür, dass das modifizierte neoliberale Projekt nach wie vor in breiten Kreisen der Bevölkerung Zustimmung findet sieht er darin, dass selbst der oppositionelle Diskurs durch einen etatistischen Bias geprägt sei. Damit setze sich die „ >postdemokratische< Austrocknung eines kritischen gesellschaftlichen Diskursraums auch unter Krisenbedingungen fort“ (48). Allerdings verschiebe sich angesichts der veränderten Rolle des Staates die Krisendynamik weiter in das politische System. Die Folge sei eine Politisierungstendenz, die aber nur dann genutzt werden könne, wenn es gelänge, alternative gesellschaftliche Konzepte zu entwickeln, die über reine Umverteilungsvorstellungen hinaus gehen. Jens Wissel konstatiert, dass mit der krisenbedingten „Rückkehr“ des Staates zugleich auch die Staatsillusion wieder aufzuleben scheint. Dagegen betont er, dass schon die neoliberale Ökonomisierung von Gesellschaft und Staat einen ganz entscheidend staatlich-politisch angetriebener Prozess gewesen sei. In der Krise deute sich die neue Form eines staatsinterventionistischen Neoliberalismus an, der durch „die Permanenz von Krise und Krisenintervention bei gleichzeitiger Beibehaltung der zentralen Parameter des Neoliberalismus“ (73) charakterisiert ist. Dabei kämen die schon von Poulantzas für den Fordismus diagnostizierten Züge eines autoritären Etatismus noch deutlicher zum Ausdruck. An dem in der BRD von der Linkspartei, ATTAC sowie von Teilen der Gewerkschaften vertretenen „gemäßigt linken“ Projekt kritisiert er, dass dabei nicht nur die traditionelle Staatsfixiertheit zum Ausdruck komme, sondern dass bei den sie tragenden linkskeynesianischen Vorstellungen radikalere gesellschaftliche Konzepte gesellschaftlicher Veränderung kaum eine Rolle spielen. Als Alternative dazu verweist er auf die vom links-netz vorgestellten Überlegungen zum Ausbau der sozialen Infrastruktur und betont: „Wirkliche Alternativen zu einem offensichtlich irrationalen Wirtschaftssystem, das auch ökologisch verheerende Auswirkungen hat, lassen sich nicht durch den Staat von oben verordnen, sie müssen gesellschaftlich erkämpft werden“ (72). Ulrich Brand schließlich führt die Kritik an linken Krisenanalysen und Politikvorstellungen weiter, verweist darauf, dass die Anpassungsfähigkeit neoliberaler Politiken – zu denen er auch einen grünen New Deal zählt – regelmäßig unterschätzt wird und bemängelt, dass in vielen aktuellen Diagnosen der multiple Charakter der jetzt offen ausgebrochenen kapitalistischen Krise nicht gesehen wird. Ausführlich geht er auf den umstrittenen (und im gleichen Heft von Hans Schäppi kritisierten) Begriff des „Postneoliberalismus“ ein und präzisiert diesen. Er bezeichne keine neue (und relativ stabile) Phase der kapitalistischen Entwicklung, sondern um einen gleichermaßen durch Kontinuitäten und Brüche gekennzeichneten Zustand, in dem sich die Auseinandersetzungen über ökonomische und gesellschaftlich-politische Strategien intensivieren. Dabei bestehe durchaus die Möglichkeit, dass die aktuelle Krise weniger das Ende des Postfordimus als dessen eigentliche Durchsetzung markiere. Zu den herrschenden Strategien zählt er eine starke Strömung, die die bisherige Politik im wesentlichen unverändert fortsetzen will, die – seiner Ansicht nach zum Scheitern verurteilte – Revitalisierung der Neuen Sozialdemokratie sowie einen „mitfühlenden“ und zugleich autoritären Konservatismus, der versucht, die ökonomischen Prozesse partiell zu re-regulieren, mit einem Bündnis zwischen Kapital und privilegierteren Arbeitnehmerschichten in den Zentren zu Lasten der Marginalisierten die bestehenden Machtverhältnisse zu erhalten und dafür eine Mischung aus partieller sozialer Integration nach innen und militärischer Intervention nach außen praktiziert. Diese Strategie hält er für dominant. Noch schwach entwickelt seien dem gegenüber emanzipatorische Ansätze, die auf veränderte Lebensweisen, solidarische Wirtschafts- und Eigentumsverhältnisse sowie einen Ausbau der Demokratie zielen. Dies auch deshalb, weil die bestehenden Machtstrukturen in den kapitalistischen Zentren „nicht zuletzt deswegen aufrecht erhalten werden, weil breite Bevölkerungsschichten vermittelt über den Weltmarkt und abgesichert durch internationale Politiken auf die Arbeitskraft und die Ressourcen anderer Länder zurückgreifen können“ (97). Kritische Kräfte hätten sich mit der durch die Krise verursachten Beschleunigung der Politik und den damit verbundenen autoritären Konsequenzen sowie der Internationalisierung des Staates auseinander zu setzen, die gewissermaßen als institutionalisierter Modus einer demokratisch nicht kontrollierbaren Verständigung zwischen den globalen Eliten zu begreifen sei, bei der „kritische Anliegen schlicht überrollt oder zur Legitimation an den Katzentisch geholt werden“ (98). Obwohl also eine wirkliche Verschiebung der existierenden Kräfteverhältnisse nicht sichtbar sei, ließen sich immerhin einige mögliche Ansätze für eine emanzipative Politik ausmachen, die am Schluss des Textes allerdings nur sehr kursorisch angedeutet werden.

Letzteres verweist auf einen Punkt, der im wesentlichen alle Beiträge charakterisiert. Zwar herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass ein emanzipatorischer Ausweg aus der Krise mit etatistischen Konzepten aussichtslos sei und es stattdessen einer Mobilisierung von unten, des praktischen Widerstands und einer Stärkung sozialer Bewegungen nicht zuletzt im internationalen Maßstab bedürfe. Wie dieses aber zu leisten sei, wird ebenso vage angedeutet wie die Dimensionen eines alternativen gesellschaftlichen Konzepts, mit dem der Kampf um Hegemonie überhaupt erst geführt werden könnte. Da bleibt es meist bei allgemeinen Hinweisen oder bei der eher unsystematischen Aufzählung einzelner möglicher Ansätze. Insofern widerspiegeln die Beiträge die die aktuelle Debatte charakterisierende Hilflosigkeit. Offensichtlich bleibt da noch sehr viel zu tun, sowohl was theoretische Arbeit, die Aufarbeitung historischer Erfahrungen und eine reflektierte Praxis angeht. Die ausführliche Rezension Wolfgang Völkers zu André Gorz’ posthum veröffentlichtem Buch „Auswege aus dem Kapitalismus“ macht deutlich, dass gerade von diesem Autor diesbezüglich noch einiges zu lernen wäre.

Insgesamt bietet das vorliegende Heft des „Widerspruch“ mit seinen recht kurzen, aber prägnant geschriebenen Beiträgen einen sehr guten und insgesamt erfrischend kritischen Überblick über den Stand der aktuellen linken Debatte. Und zugleich machen sie auch einige der Schwächen deutlich, von denen diese geprägt ist. Während die Autorin und die Autoren in der Krisenanalyse weitgehend übereinstimmen, kommen sie dennoch zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich der weiteren Entwicklungen. Sie reichen von der Möglichkeit, dass die neue Weltwirtschaftskrise zu einer weiteren historischen Transformation des Kapitalismus führt bis zu der Vermutung, sie könnte sich als Vehikel einer verstärkten Durchsetzung des Neoliberalismus erweisen. Dies alles zusammen regt auf jeden Fall zur kritischen Auseinandersetzung und zum Weiterdenken an. Die Lektüre lohnt sich also.

Widerspruch 57. Staat und Krise, 208 S., Sfr 25.-. EURO 16.-

www.widerspruch.ch

© links-netz Februar 2010