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Was wird aus dem „Staatsprojekt Europa“?

Joachim Hirsch

Angesichts dessen, dass die EU gerade am Zerbröseln zu sein scheint könnte es als etwas abseitig anmuten, ein Buch über das „Staatsprojekt Europa“ zu veröffentlichen. Wissel kann jedoch sehr gut zeigen, welches die Gründe sind, die dieses ambitionierte Vorhaben in die – nicht nur ökonomische – Krise getrieben haben und möglicherweise scheitern lassen. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass in Europa ein politisch-administratives Netzwerk entstanden sei, das weder als bloßer Staatenbund noch als neuer Staat im traditionellen Sinne aufgefasst werden könne, sondern den Charakter eines komplex miteinander verwobenen „Staatsapparate-Ensembles“ aufweise. Für das Staatsprojekt Europa komme den Ansätzen zur Schaffung einer Unionsbürgerschaft mit der Verankerung politischer und sozialer Rechte auf europäischer Ebene sowie dem Versuch einer Territorialisierung, d.h. der Herstellung einer gemeinsamen Außengrenze mit entsprechenden Ein- und Ausschlussmechanismen eine zentrale Bedeutung zu (11ff.). Dabei sei aber entscheidend, dass die europäische Integration nicht Ausdruck einer Bürgerbewegung, sondern ein auf der neoliberalen Integrationsweise beruhender apparativer Prozess ist. Daraus resultiert ein grundsätzliches Legitimationsdefizit, an dem die Union nun auseinanderzubrechen droht.

Nach der Darlegung seiner theoretischen Grundlagen und Bezüge skizziert Wissel zunächst den allgemeinen Kontext seiner Analyse, von der Krise des Fordismus bis zur Etablierung des postfordistischen Wettbewerbsstaats und der Herausbildung des europäischen Staatsapparate-Ensembles. Da dieses keine zentralisierte Struktur wie ein herkömmlicher Staat aufweist, stelle es ein Feld für spezifische räumliche Strategien dar, insbesondere den Wechsel zwischen verschiedenen Ebenen und Entscheidungszentren („scale jumping“ und „forum shifting“). Die Folge sei eine verstärkte Selektivität der politischen Prozesse gegenüber subalternen Interessen und damit eine Aushöhlung der liberalen Demokratie (47ff.). Die europäische Integration erhalte damit den Charakter einer passiven Revolution im Sinne Gramscis, d.h. einer Transformation von oben bei gleichzeitiger Ruhigstellung der Bevölkerung, was so lange funktioniert, als keine größeren Krisen oder soziale Verwerfungen auftreten. Insgesamt habe die EU „noch nicht die Kohärenz und die hegemoniale Stabilität eines durchgesetzten Staatsprojektes“, was sich insbesondere am Fehlen einer entwickelten Zivilgesellschaft zeige (54).

Für die Analyse der für das Staatsprojekt Europa zentralen politischen Prozesse greift Wissel auf die von seiner Forschungsgruppe entwickelte historisch-materialistischen Politikanalyse zurück (56ff.). Im Zentrum steht dabei der Versuch einer empirischen Operationalisierung des in der materialistischen Staatstheorie bislang recht unbestimmt gebliebenen Begriffs der politischen Kräfteverhältnisse. Dies gelingt mit der Identifizierung von „Hegemonieprojekten“, mit denen aus der Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Praktiken politisch relevante Strömungen herausgearbeitet werden. Konkurrierende Hegemonieprojekte „ringen darum, die eigenen Interessen so zu verallgemeinern, dass diese als gesellschaftliches Allgemeininteresse erscheinen“ und so tatsächlich hegemonial zu werden (60). Sie unterscheiden sich nach den materiellen, institutionellen und ideologischen Ressourcen, über die sie verfügen. Die verschiedenen Bestandteile des Apparate-Ensembles können sich jeweils als Stützpunkte konkurrierender Hegemonieprojekte erweisen. Wissel unterscheidet vier Hegemonieprojekte, die in sich noch weiter fragmentiert sein können: ein neoliberales, ein konservatives, ein soziales und ein linksliberal-alternatives, die in den Auseinandersetzungen um das „Staatsprojekt Europa“ unterschiedliche Positionen einnehmen, immer aber auch eine starke nationale Bindung haben. Die europäischen Apparate (Kommission, Gerichtshof, Parlament usw.) haben ein starkes Interesse am Ausbau ihrer Kompetenzen und werden so zu „Managern des Staatsprojekts“ (75).

Im Anschluss daran stellt Wissel die historische Entwicklung bis zu der ab Mitte der achtziger Jahre unter der Dominanz des neoliberalen Hegemonieprojekts durchgesetzten wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise dar (78ff.). Dabei kommt es zu einer ersten Etablierung europäischer Bürgerrechte, die sich aber auf ökonomische Freizügigkeit beschränken, während eine Europäisierung der Sozialpolitik von den nördlichen Staaten verhindert wird. Die mit dem Vertrag von Maastricht 1991 kodifizierte Unionsbürgerschaft klammert soziale Rechte aus. Mit der neoliberalen Integrationsweise verstärken sich die ökonomisch-sozialen Differenzen innerhalb der EU. Zugleich werden aber auch die Forderungen nach Demokratisierung auf Ausbau der sozialen Rechte stärker. Der Vertrag von Maastricht bedeutete eine weitgehende Einschränkung einzelstaatlicher Souveränität und verfestigte den neoliberalen Konstitutionalismus, von dem die EU geprägt bleibt.

Nach diesem allgemeinen Überblick stellt Wissel die Ergebnisse von drei Fallstudien zu Prozessen vor, die bei der Territorialisierung Europas eine besondere Rolle gespielt haben: Die Auseinandersetzungen um die Unionsbürgerschaft, die Debatten um die Anwerbung von hochqualifizierten Arbeitskräften sowie der Aufbau der Grenzschutzagentur FRONTEX (139ff.). Die Fallstudien stützen sich auf eine ausführliche Dokumentenanalyse sowie auf eine große Zahl von Experteninterviews.

Im Ergebnis wird festgehalten, dass in der Struktur der EU demokratische Defizite verankert sind, die eine spezifische Selektivität der politischen Prozesse bewirken. Nur ressourcenstarke Akteure haben Zugang zu den zentralen politischen Entscheidungen, was durch das Fehlen einer entwickelten Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene verstärkt wird. Grundsätzlich bleibt der Widerspruch zwischen Supranationalismus und Intergouvernementalismus prägend. Bei den Auseinandersetzungen um die Unionsbürgerschaft konnten sich die europäischen Institutionen als Manager des Staatsprojekts profilieren. Eine besondere Bedeutung kam dabei infolge seiner relativen Unabhängigkeit von ökonomischen und nationalstaatlichen Interessen dem Europäischen Gerichtshof zu. Gleichwohl blieben deren Erfolge eher bescheiden. Obwohl von einem Staatsprojekt und von der Existenz von europäischen Staatsapparaten auszugehen sei, könne die EU nicht als Staat bezeichnet werden und ob sie dies jemals werde, sei nicht voraussehbar. Bedeutsam sei, dass der heterogene und flexible Charakter der europäischen Institutionen zwar eine relative Dominanz des neoliberalen Hegemonieprojektes möglich machen, zugleich aber auch ein spezifisches Operationsfeld für oppositionelle Kräfte darstellen, sofern sie ihre nationalstaatlichen Beschränkungen überwinden.

Die Analyse Wissels baut auf den Ergebnissen der Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ auf und führt diese weiter. Der Titel des Buches stellt eher eine Untertreibung dar. Es beinhaltet wichtige staatstheoretische Erkenntnisse, insbesondere im Rahmen des entwickelten Konzepts einer materialistischen Politikanalyse, bringt aber darüber hinaus einen ausführlichen und durch empirische Analysen untermauerten Einblick in die Strukturen und Prozesse der EU sowie die sie prägenden Widersprüche. Im Bereich der Europaforschung markiert es damit einen bedeutsamen Fortschritt.

Jens Wissel: Staatsprojekt Europa. Grundzüge einer materialistischen Theorie der Europäischen Union. Münster: Westfälisches Dampfboot 2015, 288 Seiten.

© links-netz Mai 2016