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Schwerpunktthema: Sozialpolitik als Infrastruktur

 

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Neues aus dem Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten

Joachim Hirsch

Morgens die Zeitung zu lesen, hat schon lange nichts Vergnügliches mehr. Inzwischen ist man die tagtägliche Lektüre der Ergüsse von PolitkerInnen wirklich leid, die sich quer über alle Parteigrenzen hinweg darin überbieten, immer neue Vorschläge zu dem großen nationalen Umverteilungsvorhaben in die Welt zu setzen, das nach dem Motto verläuft, das denen gegeben wird, die schon haben, und der Rest sehen kann, wo er bleibt. Das nennt sich „Leistungsgerechtigkeit“. Es geht nun wirklich ein „Ruck” durch das Land, und dessen Richtung ist eindeutig. Das eigentlich Alarmierende dabei ist, dass das durchaus auch bei den Betroffenen auf Resonanz stößt. Dass gespart werden muss, wird kaum in Zweifel gezogen. Weshalb eigentlich, steht außerhalb der öffentlichen Diskussion. Die Frage ist nur, bei wem der Rotstift anzusetzen ist, und das schafft die Bedingungen für das gegenwärtig die politische Szene beherrschende Gegeneinanderausspielen von Interessen. Ausgenommen davon werden nur die Unternehmer, die ihren Profit steigern und dadurch Arbeitsplätze schaffen sollen. Dabei ist, wie schon die Erfahrung lehrt, das Gegenteil der Fall. Was derzeit als „Reform“ des Sozialstaats verkauft wird, läuft darauf hinaus, ein schon lange nicht mehr haltbares Sozialsystem auf Kosten der Ärmeren mittels notdürftiger Reparaturmaßnahmen am Laufen zu halten, deren Haltbarkeit sich mittlerweile nach Monaten bemisst. Die Koppelung der sozialen Sicherung an den immer kleiner werdenden formellen Lohnarbeitssektor steht überhaupt nicht zur Debatte, und ebensowenig gibt es einen ernsthaften Versuch, die das Gesundheitssystem ruinierende Monopolstruktur aufzubrechen.

Bei der gegenwärtigen Politik von einem Sozialstaatsabbau zu sprechen, trifft die Sache indessen nicht genau. In Wirklichkeit geht es darum, ihn in seinen kontrollierenden, disziplinierenden und selektierenden Wirkungen wiederherzustellen. Bekanntlich zielten die Bismarckschen Sozialgesetze, mit denen das staatlichen Sozialversicherungssystem in Deutschland eingeführt wurde, vor allem auf das Eindämmen der (damals noch dafür gehaltenen) revolutionären Bestrebungen der Sozialdemokratie. Sozusagen durch eine Reform von oben, durchgesetzt von den politisch Herrschenden, sollte der soziale Frieden sichergestellt und nicht zuletzt die selbstorganisierten Sozial- und Unterstützungskassen der Arbeiter zerschlagen werden. Die Verstaatlichung der Arbeiterbewegung hat hier einen ihrer Ursprünge. Der konservativ-paternalistische Grundzug, der die Menschen zu abhängigen Leistungsempfängern und Klienten macht, bevormundet und an der eigenen Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse hindert, beherrscht den bürokratischen Sozialstaat bis heute. Allerdings entwickelte er im Zuge der sozialen Auseinandersetzungen und Kämpfe zunächst eine erhebliche Dynamik. Nach der Bismarckschen Gesetzgebung waren die sozialstaatlichen Leistungen außerordentlich gering und kamen nur einem kleinen Teil der Lohnabhängigen zugute. In der Folge wurden sie indessen immer mehr ausgeweitet, was mit den herrschenden politischen Kräfteverhältnissen zu tun hatte. Im Zuge der fortschreitenden Durchkapitalisierung wurden immer mehr Menschen lohnabhängig und damit von den einschlägigen Risiken betroffen. Das weitere Erstarken von Arbeiterparteien und Gewerkschaften war die Folge. Entscheidend wurde die Oktoberrevolution in Russland und der damit beginnende Systemkonflikt, der die herrschenden Klassen in den kapitalistischen Staaten einem erheblichen Legitimationsdruck aussetzte, zumal Ende der zwanziger Jahre das kapitalistische System weltweit von einer großen Krise geschüttelt wurde. In den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam es deshalb in vielen Teilen der Welt zur Einführung „wohlfahrsstaatlicher“ Strukturen. Der Kapitalismus war gezwungen, sich ein klein wenig zu „zivilisieren“.

Der kapitalistische Sozialstaat war immer schon sowohl ein Produkt sozialer Kämpfe als auch von Strategien ökonomischer und politischer Herrschaftssicherung. Seine gesamte Entwicklung ist von diesem Widerspruch geprägt. Dies gilt auch in für die Entwicklung nach 1945. Gestützt auf eine lange ökonomische Prosperität und damit eine wieder wachsende Stärke von Arbeiterparteien und Gewerkschaften wurde das soziale Sicherungssystem Schritt für Schritt weiter ausgebaut. Die starken ökonomisch-sozialen Strukturveränderungen mit den damit verbundenen Konflikten machten das ebenso erforderlich wie für das Bestreben, sich im Vergleich mit der DDR als das bessere Gesellschaftssystem darzustellen. Dazu kam, dass die Stabilisierung des Massenkonsums ein wesentlicher Pfeiler des in dieser Zeit durchgesetzten fordistischen Akkumulationsmodells war, das sehr stark auf der Ausweitung der tayloristischen Massenproduktion und der Durchkapitalisierung immer weiterer gesellschaftlicher Bereiche beruhte. Insoweit machten ein starkes ökonomisches Wachstum und hohe Produktivitätsfortschritte den Ausbau des Sozialstaats bis zu einem gewissen Grade mit den Interessen des Kapitals verträglich. Leitende Zielvorstellung blieb eine autoritäre, durch Staats- und Verbändebürokratien gemanagte Sicherung des sozialen Friedens. Sie passte sich gut in das politische System Westdeutschlands ein, das in besonderer Weise durch politischen Autoritarismus, Antikommunismus und obrigkeitsstaatlich unterfütterte politische Apathie gekennzeichnet war.

Einen entscheidenden Einschnitt erhielt diese Entwicklung durch die in den siebziger Jahren ausgebrochene zweite Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts. Angesichts nachlassender Wachstums- und steigender Arbeitslosenraten wurde deutlich, dass der in der Nachkriegsperiode ausgebaute Sozialstaat eine ökonomische Schönwetterveranstaltung war. Dies änderte freilich zunächst noch einmal nichts Grundsätzliches an den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Der für das „Modell Deutschland“ charakteristische, aus Sozialbürokratien, Verbänden und Industrie bestehende sozial-industrielle Komplex zeigte ein gewisses Beharrungsvermögen, verhinderte aber auch zugleich eine Politisierung der neu auf der Tagesordnung stehenden „sozialen Frage“. Die wirkliche Wende kam erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende der neunziger Jahre und der dadurch ermöglichten endgültigen Entfesselung der neoliberalen Restrukturierungspolitik unter dem Namen „Globalisierung“. Mit diesem Prozess, der auf eine grundlegender Veränderung der sozialen Kräfteverhältnisse und der sie ausdrückenden politisch-institutionellen Strukturen im globalen Maßstab abzielte, stand der so genannte Wohlfahrtsstaat endgültig zur Disposition.

„Globalisierung” wurde zum Schlüsselbegriff der sich etablierenden neoliberalen Hegemonie. Er ist Teil einer Diskursstrategie, die den radikalen Umbau der Gesellschaft und die Beseitigung staatlich institutionalisierter sozialer Kompromissstrukturen als Folge unverrückbarer ökonomischer Zwänge und damit als unvermeidbar erklärt. Unterschlagen wird dabei, dass die ökonomischen Zwänge politisch hergestellt wurden. Natürlich hat die neoliberale Globalisierungsstrategie die wirtschafts- und sozialpolitischen Handlungsspielräume der einzelnen Staaten und damit die Möglichkeiten für soziale Kompromisse beschränkt. Schließlich war das eines ihrer zentralen Ziele. Von einer ökonomischen Zwangslogik, die zur Rücknahme sozialer Garantien im Interesse der „nationalen Wettbewerbsfähigkeit“ zwingt, kann dennoch keine Rede sein. Immerhin haben die sozialstaatlichen „Belastungen“ die deutsche Industrie bislang nicht daran gehindert, ihre Exporte immer weiter zu steigern. Und während die Erhöhung der Lohnnebenkosten um ein halbes Prozent als standortpolitisches Menetekel an die Wand gemalt wird, konnte sie die kostenmäßig viel einschneidendere Aufwertung der Euro offensichtlich recht gut verkraften. Was die Unternehmer für einen angemessenen Profit halten, richtet sich immer nach den Möglichkeiten, die ihnen die politisch-sozialen Kräfteverhältnisse einräumen. Viel mehr als die ökonomische Zwänge der sogenannten Globalisierung sind es also die verschobenen gesellschaftlich-politischen Machtverhältnisse, die jetzt durchschlagen. Nach dem Scheitern des sozialdemokratischen Staatsreformismus, der Etablierung der neoliberalen ideologischen Hegemonie und der damit verbundenen Veränderungen in der Parteienlandschaft können die Unternehmer ihre Interessen sehr viel ungehinderter durchsetzen und finden in Parlamenten und Regierungen gefällige Gehilfen. Das geht so weit, dass die Parteien – so z.B. bei den CDU-Plänen zur „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarkts – mittlerweile selbst über das hinausgehen, was etwas weiter blickende Unternehmer wirtschaftspolitisch für sinnvoll halten.

Es wäre wahrscheinlich übertrieben, der in Berlin regierenden Koalition eine längerfristig kalkulierte Strategie zu unterstellen. Objektiv hat sich allerdings eine solche durchgesetzt. Erst die umfänglichen Steuergeschenke an die Unternehmen – natürlich ebenfalls mit Globalisierungszwängen legitimiert – haben im Verein mit einer ökonomisch abenteuerlichen „Wiedervereinigungs“-Politik die Finanzlöcher gerissen, die nun zur Begründung von Sparmaßnahmen herhalten müssen. Zur Verdeutlichung nur ein paar Zahlen: allein von 2001 bis 2002 ist nach den Angaben des Bundesfinanzministeriums das Einkommensteueraufkommen um 24% und der Ertrag der Körperschaftssteuer – das ist die Einkommensteuer der Kapitalgesellschaften – sogar fast auf Null gesunken. Das aktuelle Spiel der herrschenden Allparteienkoalition, bei dem sich die Regierung ihre die Unternehmen und das reiche Drittel der Gesellschaft bedienende weitere Senkung der Einkommensteuer im Bundesrat durch noch weiter gehende soziale Spar- und arbeitsmarktpolitische „Flexibilisierungs“-Maßnahmen bestätigen lässt, kennzeichnet exemplarisch diesen Zusammenhang.

Es geht bei den sogenannten Sozialstaatsreformen keineswegs nur um Finanz-, sondern vor allem um Gesellschaftspolitik, nämlich um die Durchsetzung des neoliberalen „workfare state“. In einer Situation, in der Massenarbeitslosigkeit permanent geworden ist, wird durch Maßnahmen wie die Streichung der Arbeitslosenhilfe oder die Kürzung der Sozialhilfe der Arbeitszwang erhöht. Das ist nur scheinbar paradox. Natürlich werden damit keine Arbeitsplätze geschaffen, aber den Leuten klargemacht, dass sie auf jeden Fall arbeitswillig bleiben müssen und bereit zu sein haben, auch die miesesten und schlechtbezahltesten Jobs anzunehmen. Der schöne Nebeneffekt ist ein wachsender Druck auf das allgemeine Lohnniveau, das den Unternehmern schon lange als viel zu hoch erscheint. Es geht also um die Schaffung der materiellen Bedingungen für die Durchsetzung einer Arbeitsmoral, die gerade durch die Folgen der neoliberalen Restrukturierung – massenhafte Arbeitslosigkeit und wachsende „Flexibilisierung“ der Arbeitsverhältnisse – als gefährdet erscheint. Statt den gesellschaftlichen Möglichkeiten gemäß auch denen ein auskömmliches Leben zu gewährleisten, die sich nicht in formelle Lohnarbeitsverhältnisse eingliedern können oder wollen, werden sie als Sozialschmarotzer stigmatisiert, denen mit Zwangsmaßnahmen beizukommen ist. Ziel der politischen und unternehmerischen Strategen ist eine Gesellschaft, in der massenhafte Armut wieder die Regel ist und eine Schicht von „working poor“ geschaffen wird, deren Arbeitseinkommen nicht einmal mehr zum Lebensunterhalt reicht. Das Vorbild von Ländern wie die USA, wo auf diese Weise die offizielle Arbeitslosigkeit niedrig gehalten wird, zeigt seine Wirkungen. So sieht halt der „Sieg“ des Kapitalismus aus.

Dennoch kann der „Sozialstaat“ keinesfalls einfach demontiert werden. In einer hochtechnisierten Gesellschaft, die hochqualifizierte und motivierte Arbeitskräfte ebenso benötigt wie ein gewisses Maß des „sozialen Friedens”, bleibt er unverzichtbar. Was aktuell ansteht, ist deshalb ein „Umbau”, der ihn von „Auswüchsen“ befreit und ihm die Funktion zurückgibt , die ihn von Beginn an wesentlich geprägt hat: Herrschaft, Kontrolle, Disziplinierung, nicht zuletzt geschlechtliche Diskriminierung und Spaltung. So gesehen, ist sogar der zynische Begriff „Reform“ nicht einmal so unpassend. Kurz gesagt: Das Kapital braucht eine Reservearmee, die nicht „wohlfahrtsstaatlich“ neutralisiert werden darf. Dieser unter den besonderen Kräfteverhältnissen der fordistischen Periode entstandene Systemfehler soll korrigiert werden. Während die „Arbeitsgesellschaft“ auf Grund der ökonomisch-technischen Entwicklung immer stärker erodiert, soll sie durch Zwangsmaßnahmen entgegen jede gesellschaftlichen Vernunft weiter erhalten werden. Das ist die „Agenda“ nicht nur der Berliner Regierung.

Man mag es als historische Ironie ansehen, dass eine sozialdemokratisch geführte Regierung angetreten ist, unter letztendlicher Duldung der Gewerkschaften diesen Umbau der Gesellschaft durchzusetzen, also das zu tun, was ihren konservativen Vorgängerinnen nicht gelungen ist. Jedenfalls bedeutet dies, dass von den abgewirtschafteten Fossilen der Arbeiterbewegung nichts mehr zu erwarten ist. Eine politische Initiative, die den Zug zur immer weiteren Barbarisierung der Gesellschaft aufhalten könnte, ist nur noch aus der Gesellschaft selbst heraus möglich. Chancen wird sie nur haben, wenn es gelingt, das Projekt der Herrschenden nicht einfach nur etwas sozialverträglicher zu modifizieren, sondern ein radikal anderes Konzept von Vergesellschaftung zu formulieren. Es kann nicht mehr um die Rettung einiger Elemente des überkommenen Sozialstaats gehen. Nötig ist ein Perspektivenwechsel in Richtung auf eine völlig neue Politik des Sozialen.

© links-netz November 2003