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Bricht der Kapitalismus zusammen?

Joachim Hirsch

Die Frage wäre vor einigen Jahren noch etwas ungewöhnlich erscheinen. Inzwischen taucht sie sogar in den etablierten Medien auf. Immerhin: der offene Ausbruch der aktuellen Wirtschaftskrise liegt mittlerweile vier Jahre zurück und trotz eines hektischen politischen Aktivismus beim Aufspannen von Rettungsschirmen ist kein Ende in Sicht. Im Gegenteil: Sie verschlimmert sich fortlaufend. Die, die sich für ökonomische Experten halten, sind über ihre Ursachen und mögliche Auswege ziemlich zerstritten. Vorausgesehen haben sie sie jedenfalls nicht. Zerstritten sind aber auch die Regierungen. VertreterInnen eines harten Sparkurses – an deren Spitze Angela Merkel mit ihrem Adlatus Bundesbankchef Weidmann – stehen den Befürwortern einer weichen Geldpolitik gegenüber, im Wesentlichen die südeuropäischen Länder plus neuerdings auch Frankreich. Nach dem Sieg der Sozialisten bei den französischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen hat diese Position an Einfluss gewonnen. Gegen die Austeritätspolitik, die in den betroffenen Ländern die Wirtschaft abwürgt und damit das Schuldenproblem noch verschärft, will man hier die ökonomische Stagnation dadurch überwinden, dass die Geldschleusen weiter geöffnet und damit die Kredite verbilligt werden. Das setzt aber eigentlich voraus, dass die wirtschaftlich stärkeren Länder dafür haften. Über die Eurobonds wird noch gestritten, aber diese kam man dadurch umgehen, dass die Europäische Zentralbank einfach die Schuldverschreibungen klammer Länder aufkauft. Dass dies im Widerspruch zu den europäischen Verträgen steht, spielt keine besondere Rolle mehr. Es ist allerdings ebenfalls eher unwahrscheinlich, dass diese Strategie aufgeht. Der erhoffte Aufschwung ist nämlich weniger eine Frage des verfügbaren Geldes oder der Zinsen, sondern der unternehmerischen Profitaussichten. Und um diese ist es angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs zumindest – aber nicht mehr nur – in größeren Teilen Europas nicht besonders gut bestellt. Die schon länger eingeleitete Politik der Geldvermehrung wird mit großer Wahrscheinlichkeit erhebliche inflationäre Entwicklungen nach sich ziehen. Eine massive Geldentwertung wäre in der Tat eine elegante Lösung des Staatsschuldenproblems: die Staatsschuldverschreibungen würden weniger wert und könnten damit leichter zurückgezahlt werden. Der Preis dafür sind allerdings erhebliche ökonomische Verwerfungen mit schwer absehbaren Folgen. Vor allem aber geht auch dies erneut zu Lasten der breiten Bevölkerung, deren Ersparnisse und Einkommen weiter reduziert werden. Besitzer von „Sachwerten“ bleiben ungeschoren. Es ist also kein Wunder, dass „die Märkte“ diese Politik honorieren.

Eine der Ursachen für die offensichtliche Hilflosigkeit der Regierungen liegt sicherlich darin, dass sie inzwischen als schlichte Befehlsempfänger der Finanzindustrie fungieren. Und diese hat kein Interesse an einer Politik, die sie für das von ihr angerichtete Desaster haftbar machen würde. Die von den Regierungen – einschließlich der deutschen sozialdemokratisch geführten unter Kanzler Schröder – seit den achtziger Jahren betriebene Deregulierung der Finanzmärkte hat der Finanzindustrie eine weltweit dominierende Position verschafft und damit eine Dynamik in Gang gesetzt, durch die die „Märkte“ – im Klartext das internationalisierte Finanzkapital – im wesentlichen die wirtschafts- und sozialpolitischen Direktiven bestimmen können. Eine im vorhandenen Rahmen etwas vernünftigere Politik, etwa massive Steuererhöhungen zu Lasten der großen Einkommen, die Einführung einer wirksamen Finanztransaktionssteuer und nicht zuletzt Vorkehrungen, die die Finanzkonzerne und ihre Anteilseigner materiell für die von ihnen eingegangenen Risiken haftbar machen, unterbleibt daher. Dass sich Sigmar Gabriel, der Vorsitzende eben der Partei, die während ihrer Regierungszeit die Spitzensteuersätze drastisch gesenkt hat, nun eine „Reichensteuer“ propagiert, darf als für den Vorwahlkampf gemünzter Scherz aufgefasst werden. An sich ist klar, dass die angehäuften Staatsschulden nie mehr zurückgezahlt werden können, was vor allem zu Lasten der Banken gehen würde, die die hoch verzinslichen Schuldenpapiere gekauft haben. Statt sie aber einfach zu streichen, werden immer weitere „Hilfsmaßnahmen“ zum Wohle eben dieser Banken eingeleitet und aus Steuermitteln finanziert. Angesichts der zu erwartenden Reaktionen der „Märkte“ ist etwas anderes offenbar nicht durchsetzbar. Für die Folgen der enormen Fehlspekulationen haben also die „Steuerzahler“ aufzukommen. Eine an sich notwendige und grundlegendere Reorganisation des gesamten Finanzsektors, die die Macht der großen Konzerne brechen und sie wieder einer politischen Kontrolle unterwerfen würde, steht ohnehin in den Sternen.

Es wäre allerdings falsch, die Ursachen der Krise und ihr Andauern einfach in einer aus dem Ruder gelaufenen Finanzwirtschaft oder einer fehlerhaften staatlichen Politik zu suchen, wie es in der öffentlichen Debatte gemeinhin getan wird. Sicherlich ist es so, dass immer noch nationalstaatliche Interessengegensätze eine halbwegs konsistente Politik auf internationaler Ebene verhindern und damit die Krise verschärfen. Dass der ökonomischen keine politische „Globalisierung“ – oder wenigstens im regionalen Rahmen Europäisierung der Politik gefolgt ist, hat seinen Preis. Aber die Krise hat tiefere Ursachen und es ist überhaupt nicht abzusehen, wie sie selbst durch eine vernünftigere Politik überwunden werden könnte. Dazu ein kleiner historischer Rückblick.

Der Fordismus und seine Krise

Die relativ lange Prosperitätsperiode nach dem zweiten Weltkrieg hatte ihre Ursache auch darin, dass dieser eine enorme Wertvernichtung verursacht hatte. Auf den Ruinen konnte also gewissermaßen neu angefangen werden. Erst mit den riesigen Militärausgaben war die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre schließlich überwunden worden und in der Wiederaufbauphase nach dem Krieg eröffneten sich dem Kapital günstige Profitmöglichkeiten. Gleichzeitig führte die Systemkonkurrenz des Kalten Kriegs dazu, dass die durch Faschismus und Krieg geschwächte ArbeiterInnenschaft wieder stärker wurde. Aus legitimatorischen Gründen war das Kapital zu einigen materiellen Konzessionen gezwungen. Ein erweiterter, auf korporative Arrangements („Sozialpartnerschaft“) gestützter Staatsinterventionismus und der allmähliche Ausbau des Sozialstaats begründeten das so genannte „goldene Zeitalter“ des Kapitalismus, im Nachhinein als Fordismus bezeichnet. Der „Traum immerwährender Prosperität“ (B. Lutz) wurde zu einer wichtigen Legitimationsbasis des kapitalistischen Systems im Westen. Wachsende Unternehmensgewinne und steigende Masseneinkommen schienen vereinbar geworden, der Grundwiderspruch des Kapitalismus gelöst zu sein. Die Erinnerung an diese Ausnahmephase begründet immer noch die Hoffnung vieler sozialdemokratisch orientierter Politiker und Experten, sie ließe sich wieder herstellen.

Der Traum war allerdings kurz. Die zweite Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts brach bereits Mitte der siebziger Jahre aus. Ihre wesentliche Ursache lag darin, dass die erzielbaren Produktivitätsfortschritte, d.h. der erzielte Mehrwert nicht mehr ausreichte, um die Unternehmensprofite bei steigenden Masseneinkommen und angesichts der Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme zu gewährleisten. Die Folgen waren eine anhaltende ökonomische Stagnation und ein Anwachsen der Arbeitslosigkeit. Angesichts der neuen Krise ging das Kapital zu einer Offensive über, die sich gegen die fordistischen Errungenschaften – starke Gewerkschaften, korporative Wirtschaftsregulierung und den Sozialstaat richtete. Das Ergebnis dieser Strategie wird üblicherweise verharmlosend als „Globalisierung“ bezeichnet. Sie war nicht zuletzt deshalb möglich, weil sich das Kapital in der Nachkriegsphase stark internationalisiert hatte. Das Machtverhältnis zwischen Kapital und Staaten hatte sich durch deren eigene Politik wesentlich zu Ungunsten der letzteren verschoben. Das entscheidende Instrument der Kapitaloffensive war eine massive Deregulierung der Kapital- und Finanzmärkte. Diese wurde ab dem Ende der siebziger Jahre von liberal-konservativ regierten Regierungen durchgesetzt, die nach dem durch die Krise verursachten Scheitern sozialdemokratisch orientierter Administrationen an die Macht gekommen waren. Den Anfang machten Thatcher in Großbritannien und Reagan in den USA. Unter dem Druck der damit eingeleiteten Strukturveränderung der Weltökonomie folgten andere Staaten nach und nach. Auch die sozialdemokratischen Parteien schwenkten immer stärker auf den neoliberalen Kurs ein. Die neoliberale Deregulierungspolitik mobilisierte die Standortkonkurrenz, unter deren Druck die Regierungen begannen, lohndrückende Maßnahmen durchzusetzen und sozialstaatliche Sicherungen abzubauen. Entscheidenden Anteil an der Durchsetzung der neoliberalen Restrukturierung hatte der Zusammenbruch der Sowjetunion und das damit verbundene Ende der Systemkonkurrenz. Nach seinem scheinbaren historischen Sieg benötigte das Kapital keine materielle Legitimation mehr. In dessen Sinne war diese Strategie außerordentlich erfolgreich: Die Unternehmensprofite stiegen massiv an und die gesellschaftliche Einkommensverteilung verschob sich im globalen Maßstab zu Lasten der Lohnabhängigen.

Die Krise des postfordistisch-neoliberalen Kapitalismus

Mit der Etablierung des neoliberalen Postfordismus war allerdings auch schon die Basis für die nächste Krise gelegt. Die Schwächung der Massenkaufkraft beschränkte die profitablen Anlagemöglichkeiten für explodierende Profite im produktiven Sektor. Zwar schuf die neoliberale Privatisierungspolitik, die man auch als ein Akt der inneren Landnahme bezeichnen kann, neue Investitionsfelder, doch reichten diese nicht aus, die Schwächung der Massenkaufkraft zu kompensieren. Es kam zu einer drastischen Ausweitung spekulativer Investitionen. Ein Ausdruck davon war der Boom der „New Economy“. Das Platzen dieser Blase um die Jahrtausendwende konnte zunächst noch einigermaßen bewältigt werden. Zugleich dehnte sich aber die Finanzspekulation immer weiter aus. Die ökonomische Deregulierung hat die Möglichkeiten für die Entwicklung höchst komplizierter Finanzprodukte erweitert, deren Risiken systematisch verschleiert werden konnten. Die damit erzielten Gewinne sind indessen insofern fiktiv, als ihnen keine materiellen Werte entsprechen. Es entstand daher – unter anderem durch die Ausdehnung nicht abgesicherter Immobilienkredite – eine gigantische Finanzblase, die notwendigerweise irgendwann platzen musste. Dies war 2008 der Fall, eingeleitet durch den spektakulären Bankrott der Lehmann-Bank. Viele Finanzkonzerne gerieten daraufhin in Zahlungsschwierigkeiten. Da ihre Stellung politisch nicht angetastet wurde und angesichts der bestehenden Machtverhältnisse – genannt „Systemrelevanz“ – offensichtlich auch nicht konnte, mussten sie durch staatliche Hilfen „gerettet“ werden. Dies wiederum führte zu einer drastischen Erhöhung der Staatsschulden. Die aktuelle Staatsschuldenkrise ist weniger das Ergebnis einer unseriösen Haushaltspolitik als der Tatsache, dass die Verluste der Finanzindustrie auf die Staatshaushalte abgewälzt wurden. Die Folgen sind eine massive Sparpolitik und Erhöhungen der Massensteuern. D.h. die Masse der Bevölkerung muss für die Verluste der Finanzindustrie aufkommen und das weitere Fließen ihrer Profite garantieren. Besonders hart traf dies die Länder der EURO-Zone. Deren grundlegender Konstruktionsfehler, nämlich das Fehlen einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik, führte zu einem immer stärkeren ökonomischen Auseinanderdriften der nationalen Ökonomien und verschlimmerte die Krise. Inzwischen steht der Bestand der gemeinsamen Währung und damit die europäische Integration insgesamt auf der Kippe.

Strukturelle Überakkumulationskrise

Was sich also hinter der Finanz- und Schuldenkrise verbirgt ist die Tatsache, dass die beschleunigte Kapitalakkumulation, die sozusagen das Lebenselixier des Kapitalismus darstellt, notwendigerweise auf längere Sicht zu einem Rückgang der Profitrate, einem Stocken der Akkumulation und damit zu großen Krisen führt. Schon Marx hatte darauf hingewiesen, dass eine Überakkumulationskrise infolge langfristig sinkender Profitraten für den Kapitalismus unvermeidlich ist. Zwar ist dies keine absolute Gesetzmäßigkeit, weil immer wieder Gegentendenzen mobilisiert werden können, wie die neoliberale Offensive nach der Krise des Fordismus zeigt. Aber gerade die Krise des neoliberalen Kapitalismus macht auch deutlich, dass dem Sinken der Profitrate auf längere Sicht nicht entgegengewirkt werden kann. Die Durchsetzung des neoliberal-postfordistischen Kapitalismus hat das System nicht stabilisiert, sondern ein erneutes Ausbrechen der Krise hervorgerufen.

Es greift daher zu kurz, Banken, Finanzkonzernen oder Regierungen die Schuld für die Krise zuzuschieben. Die in der Finanzindustrie Tätigen haben mit ihren kriminellen Machenschaften nur dafür gesorgt, dass sie die Erscheinungsweise einer „Finanzkrise“ angenommen hat. Dieser Zusammenhang ist der herrschenden Wirtschaftswissenschaft und der von ihr munitionierten Publizistik allerdings ein Tabu. Krisen gelten ihr immer als vermeidbare Unfälle, der Kapitalismus als grundsätzlich stabil – wenn eben nicht Fehler gemacht werden. Und die werden gemeinhin dem Staat zugeschoben, wie auch heute.

In der Regel erfolgt die Lösung großer kapitalistischer Krisen und die Wiederherstellung der Kapitalrentabilität dadurch, dass sich die Kräfteverhältnisse zu Lasten der Lohnabhängigen verschieben und eine Kapitalvernichtung in größerem Stil stattfindet, vor allem dadurch, dass viele Unternehmen untergehen. Für den verbleibenden Rest verbessert dies die Verwertungsbedingungen. Die aktuell herrschende Krisenpolitik hat zwar dafür gesorgt, dass die realen Masseneinkommen sinken, zu einer Kapitalvernichtung im größeren Stil ist es aber kaum gekommen. Die von der Pleite bedrohten Unternehmen – nicht nur die Finanzkonzerne – wurden und werden, sofern sie „systemrelevant“ sind, durch staatliche Hilfen saniert. Das aber führt dazu, dass die Krise ihre nach marktwirtschaftlicher Logik „reinigenden“ Wirkungen nicht entfaltet und auch dadurch andauert. Eine Lösung steht nicht in Aussicht, solange es – auf der Basis veränderter gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse – zu keinem radikalen Wandel der Wirtschafts- und Sozialpolitik kommt. Dazu gibt es indessen gegenwärtig keine Anzeichen.

Es ist nicht sicher, ob das politische Krisengewerkel noch längere Zeit weitergehen kann. Zwar hilft es kurzfristig, dass die Unternehmensprofite dadurch stabilisiert werden, dass die Lasten auf die Bevölkerung abgewälzt werden. Allerdings führt genau dies dazu, dass die Ursachen der Krise bestehen bleiben und sogar noch verstärkt werden. Die herrschende Politik mag also vorübergehend über die Runden kommen, verschärft aber die Krise auf längere Sicht. Die Aussichten sind also nicht gerade rosig. Im besten Fall wird die Krise mit allen ihren politischen und sozialen Folgen auf Dauer gestellt, aber auch ein massiver ökonomischer Zusammenbruch wird immer wahrscheinlicher. Allein das Scheitern der Eurozone könnte ein Desaster globalen Ausmaßes bewirken. Darauf zu hoffen, wäre indessen verfehlt. Große ökonomische Krisen haben kaum jemals emanzipative Entwicklungen nach sich gezogen. Sie können aber wirtschaftliche und gesellschaftliche Zerstörungen anrichten, die dem Kapital durchaus einen erfolgreichen Neuanfang ermöglichen. Das ist die eigentliche historische Logik des Kapitals. Ein anderer Ausweg wäre ein neuer größerer Krieg.

Der Kapitalismus, das zeigt die historische Erfahrung, bricht nicht von sich aus zusammen, sondern bewegt sich von Krise zu Krise und richtet dabei ungeheure Zerstörungen an, politische wie soziale und ökologische. Er schafft sich nicht selbst, sondern nur humane Lebensbedingungen ab. Angesichts dessen lohnte es sich vielleicht, mal wieder genauer darüber nachzudenken, ob er wirklich die beste aller denkbaren gesellschaftlichen Ordnungen ist.

© links-netz August 2012