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Deutsche Zustände Übersicht

 

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Realistischer Zynismus

Joachim Hirsch

Die Landtags- und Kommunalwahlen vom März dieses Jahres wurden als „Stimmungsbarometer“ für die Berliner große Koalition gehandelt. Wie zu erwarten war, fühlten sich CDU/CSU ebenso wie die SPD durch das Ergebnis bestätigt, auch wenn die Gründe dafür nicht ganz ersichtlich sind. Anlass zur Zufriedenheit besteht für sie auf jeden Fall, können sie doch so weiter machen wie bisher, ohne von den WählerInnen weiter behelligt zu werden. Die bleiben halt zuhause. Drei Tage nach der Wahl hat Merkel verkündet, dass die anstehende Gesundheitsreform die Eigenschaft aller derartigen Unternehmen teilen wird: man muss wieder mehr bezahlen. Die Pharmaindustrie soll ja schließlich ihre Gewinne weiter steigern können. Teurer werden auch unsere parlamentarischen Repräsentanten, die wieder mal über Diätenerhöhungen nachsinnen.

Eine interessante Folge hatte die Kommunalwahl in Frankfurt. Dort verloren zwar fast alle die bisher die Stadtregierung stellenden Parteien, aber nach dem dramatischen Absacken der SPD steht nun eine schwarz-grüne Koalition ins Haus, möglicherweise, wenn es nicht ganz reicht, mit der FDP. Frankfurt war, was neue Koalitionen anging, schon mal ein bundesdeutscher Trendsetter. Offenbar sind die Grünen nun da angekommen, wo sie als Partei der etwas modernisierten Besserverdienenden hingehören.

Erklärungsbedürftig bleibt, warum die Leute in immer größerer Zahl die Stimmabgabe verweigern. Immerhin hätte es – auch wenn man die Linkspartei nicht mag und ihrem Programm mit Skepsis begegnet – die Möglichkeit einer Protestwahl gegen eine Politik gegeben, die ökonomisch und sozial immer desaströsere Folgen zeitigt. Aber Protest scheint nicht mehr angesagt zu sein, weder an der Wahlurne noch – wie etwa in Frankreich – durch außerparlamentarische Mobilisierung. Und dies, obwohl die Verbitterung über die politische Klasse weiter wächst und das zunimmt, was besorgte Politologen als „Krise der Repräsentation“ bezeichnen. Offenbar ist es so, dass viele von der Politik nichts mehr erwarten und der Ansicht sind, dass Wahlen ohnehin nichts ändern. Dafür gibt es gute Gründe. Immerhin sind bei der letzten Bundestagswahl beide großen Parteien deutlich abgestraft worden. Dies hatte allerdings nur die Folge, dass sie nun eben zusammen so weiter machen wie bisher. Langfristig wichtiger dürfte aber sein, dass neoliberale Gesellschaftsbilder inzwischen ganz tief in das allgemeine Bewusstsein eingedrungen sind. Das heißt: der Staat ist prinzipiell unfähig, Politik kann man daher eigentlich vergessen, politische Beteiligung gleich welcher Art bringt nichts. Entscheidend ist vielmehr, dass man es schafft, sich so gut es geht individuell durchzuschlagen. Der Kampf aller gegen aller scheint zu einem allgemein akzeptierten Prinzip geworden zu sein. Man spürt das in den alltäglichsten Verhaltensweisen. Dies dürfte eine triftigere Erklärung für die Wahlabstinenz sein als das Wetter, die Sommerzeit oder komplizierte Stimmzettel.

Zwar ist das neoliberale Projekt, gemessen an seinen Versprechungen, völlig gescheitert, aber auf der Ebene des kollektiven Bewusstseins ist sein Erfolg unverkennbar. Die politische Passivität hat jedoch noch eine andere Ursache. Es fehlt offenbar an überzeugenden Alternativen, die mehr bieten als das schlichte Zurück zu früheren Zuständen oder die sich nicht darauf beschränken, das Schlimmste verhüten zu wollen. Nachdem der fordistische Nachkriegskapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen und Defiziten zugrunde gegangen ist, fehlt jede Vorstellung davon, wie eine bessere Gesellschaft aussehen könnte, sowohl auf Parteiebene als auch im öffentlichen Diskurs. Auch hier liegen die Gründe tiefer. Sie liegen in der kulturellen und intellektuellen Situation dieses Landes. Nicht zuletzt wirkt sich aus, dass eine kritische Diskussion, die gesellschaftlich-politische Zustände und Möglichkeiten zur Kenntnis nimmt und darüber hinaus weist, praktisch überhaupt nicht mehr gibt. Kultur ist zum Produkt einer in sich drehenden Industrie geworden, Kunst fungiert im wesentlichen als Konsumartikel. Radikale Kritik und gesellschaftliche Perspektiven, die über den Tellerrand des Bestehenden hinaus weisen, gibt es in der öffentlichen Wahrnehmung praktisch nicht mehr. So weit sich Intellektuelle hierzulande nicht ganz schlicht mit der Rechtfertigung der bestehenden Zustände beschäftigen, beschränken sie sich auf das – gelegentlich kritische – Mitmachen an einer Politik, an der es in emanzipativer Hinsicht nichts mehr zu „gestalten“ gibt.

Für eine kurze Zeit in der deutschen Nachkriegsgeschichte, Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre war das einmal anders. Da gab es allerdings eine radikale Bewegung, die nicht nur auf Wahlen und friedlichen Protest setzte. Dieser Druck fehlt heute, mit allen Folgen für die intellektuelle Szene, die ihre Anpassungsbereitschaft auslebt und für die Parteien, die machen können was sie wollen, oder genauer: was ihnen die wirtschaftlich Mächtigen vorschreiben. Das Volk wird mit der Mobilisierung von Gruppenkonkurrenzen beschäftigt, zwischen Kinderbesitzern und Kinderlosen, Jungen und Alten, noch Beschäftigten (die neuerdings als „Privilegierte“ gelten) und Arbeitslosen. Das trifft sich ausgezeichnet mit einem verbreiteten Alltagsbewusstsein. Die herrschende Politik zielt darauf ab, die Gesellschaft zu ruinieren und ihre Entwicklung zu etwas Besserem völlig zu blockieren. Allmählich wird die Lage wirklich ernst, wenn auch anders, als unser Herr Bundespräsident meint. Man wird in der Tat um den Schlaf gebracht, wenn man nächtens an dieses Land denkt. Oder, wenn man es positiver formulieren wollte: vielleicht haben die sinkenden Geburtenraten auch etwas Gutes.

© links-netz April 2006